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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Faust" in Frankreich

der überschwängliche Dichter jener Zeit sein sollte. Wie diesem Italiener mag
es der großen Mehrzahl der Franzosen ergangen sein, die in den siebziger und
achtziger Jahren den "Werther" verschlungen hatten; ihre Generation war vom
Schauplatze abgetreten, als Goethe zum zweiten Male eine große Wirkung auf
die literarische Jugend Frankreichs ausübte.

Jetzt war es nicht mehr "Werther", sondern,,, "Faust", der die jungen
Literaten und Künstler begeisterte. Zwar wurden auch andere Dramen Goethes,
die in die Richtung der jungen Romantiker paßten, mit Begeisterung studiert,
und Delacroix hat nicht nur für den "Faust", sondern auch für "Götz von
Berlichingen" Lithographien gezeichnet, aber gegen "Faust" mußte doch alles
andere zurückstehen, und auch heute noch kann man sagen, daß Goethe für den
Franzosen sich nur in dieser doppelten Gestalt zeigt: er ist entweder "I^'auteur
cZe WertKer" oder "lVauteur as traust". Alles andere ist natürlich übersetzt,
zehn- und zwanzigmal, aber nichts ist eigentlich eingedrungen, und alles, was
die Franzosen vom "Wilhelm Meister" wissen, ist die ganz in Zuckerwasser
ersäufte Episode der Mignon in der gleichnamigen Oper. Leider steht es im
Grunde auch nicht besser mit dem "Faust" trotz jener Begeisterung vor achtzig
und neunzig Jahren. Ohne Gounods Oper wüßte man in Frankreich nicht viel
von ihm, denn keiner der anderen zahlreichen Versuche, ihn auf der französischen
Bühne einzubürgern, ist bisher gelungen, und es ist mehr als unwahrscheinlich,
daß der oberflächliche Reimer Edmond Rostand oder der Boudoir-Philosoph
Henry Bataille dieses Wunder zustande bringe.

Es ist gerade hundert Jahre her, daß Frankreich die erste Bekanntschaft
mit "Faust" machte, oder vielmehr: es wäre gerade hundert Jahre her, wenn
nicht Napoleon das im Jahre 1810 erschienene Buch der Frau von Stael hätte
konfiszieren und einstampfen lassen. Alles in allem muß mau heute unparteiisch
genug sein, um zuzugeben, daß Madame de Stael uns mit sehr sympathischen
Augen betrachtete, unsere Vorzüge vielleicht vergrößerte, unsere Fehler verschwieg
oder nicht bemerkte. Trotzdem ist auch heute noch sehr viel Wahres an ihrer
Charakterisierung des Deutschen im Gegensatze zum Franzosen, und alles, was
sie über dieses Thema sagt, verdient auch heute noch aufmerksame Beachtung.
Wo sie sich indessen auf Einzelheiten einläßt und gewisse Werke der deutschen
Literatur eingehend bespricht, wird sie bei dem deutschen Beurteiler weniger
Verständnis finden als bei dem Franzosen. Was sie über den "Faust" sagt,
würde auch heute noch beinahe jeder echte Franzose sagen, und jeder echte Deutsche
würde es mit einem beinahe mitleidigen Lächeln beiseite schieben, denn so ent¬
gegenkommend wir auch in fast allen Stücken den Ausländern gegenüber sind,
wir werden doch beinahe hochmütig, wenn ein Franzose sich herausnimmt, den
"Faust" verstehen und kritisieren zu wollen. Und darum geben wir uns auch
nicht die Mühe, das Urteil der uns so wohlwollenden Madame de Stael zu
berichtigen, wenn sie sagt: "Allerdings darf man hier weder Geschmack noch
weises Maßhalten noch die Kunst des Äuswählens und Vollendens suchen; aber


Grenzboten III 1910 1"
Faust" in Frankreich

der überschwängliche Dichter jener Zeit sein sollte. Wie diesem Italiener mag
es der großen Mehrzahl der Franzosen ergangen sein, die in den siebziger und
achtziger Jahren den „Werther" verschlungen hatten; ihre Generation war vom
Schauplatze abgetreten, als Goethe zum zweiten Male eine große Wirkung auf
die literarische Jugend Frankreichs ausübte.

Jetzt war es nicht mehr „Werther", sondern,,, »Faust", der die jungen
Literaten und Künstler begeisterte. Zwar wurden auch andere Dramen Goethes,
die in die Richtung der jungen Romantiker paßten, mit Begeisterung studiert,
und Delacroix hat nicht nur für den „Faust", sondern auch für „Götz von
Berlichingen" Lithographien gezeichnet, aber gegen „Faust" mußte doch alles
andere zurückstehen, und auch heute noch kann man sagen, daß Goethe für den
Franzosen sich nur in dieser doppelten Gestalt zeigt: er ist entweder „I^'auteur
cZe WertKer" oder „lVauteur as traust". Alles andere ist natürlich übersetzt,
zehn- und zwanzigmal, aber nichts ist eigentlich eingedrungen, und alles, was
die Franzosen vom „Wilhelm Meister" wissen, ist die ganz in Zuckerwasser
ersäufte Episode der Mignon in der gleichnamigen Oper. Leider steht es im
Grunde auch nicht besser mit dem „Faust" trotz jener Begeisterung vor achtzig
und neunzig Jahren. Ohne Gounods Oper wüßte man in Frankreich nicht viel
von ihm, denn keiner der anderen zahlreichen Versuche, ihn auf der französischen
Bühne einzubürgern, ist bisher gelungen, und es ist mehr als unwahrscheinlich,
daß der oberflächliche Reimer Edmond Rostand oder der Boudoir-Philosoph
Henry Bataille dieses Wunder zustande bringe.

Es ist gerade hundert Jahre her, daß Frankreich die erste Bekanntschaft
mit „Faust" machte, oder vielmehr: es wäre gerade hundert Jahre her, wenn
nicht Napoleon das im Jahre 1810 erschienene Buch der Frau von Stael hätte
konfiszieren und einstampfen lassen. Alles in allem muß mau heute unparteiisch
genug sein, um zuzugeben, daß Madame de Stael uns mit sehr sympathischen
Augen betrachtete, unsere Vorzüge vielleicht vergrößerte, unsere Fehler verschwieg
oder nicht bemerkte. Trotzdem ist auch heute noch sehr viel Wahres an ihrer
Charakterisierung des Deutschen im Gegensatze zum Franzosen, und alles, was
sie über dieses Thema sagt, verdient auch heute noch aufmerksame Beachtung.
Wo sie sich indessen auf Einzelheiten einläßt und gewisse Werke der deutschen
Literatur eingehend bespricht, wird sie bei dem deutschen Beurteiler weniger
Verständnis finden als bei dem Franzosen. Was sie über den „Faust" sagt,
würde auch heute noch beinahe jeder echte Franzose sagen, und jeder echte Deutsche
würde es mit einem beinahe mitleidigen Lächeln beiseite schieben, denn so ent¬
gegenkommend wir auch in fast allen Stücken den Ausländern gegenüber sind,
wir werden doch beinahe hochmütig, wenn ein Franzose sich herausnimmt, den
„Faust" verstehen und kritisieren zu wollen. Und darum geben wir uns auch
nicht die Mühe, das Urteil der uns so wohlwollenden Madame de Stael zu
berichtigen, wenn sie sagt: „Allerdings darf man hier weder Geschmack noch
weises Maßhalten noch die Kunst des Äuswählens und Vollendens suchen; aber


Grenzboten III 1910 1"
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[0085] Faust" in Frankreich der überschwängliche Dichter jener Zeit sein sollte. Wie diesem Italiener mag es der großen Mehrzahl der Franzosen ergangen sein, die in den siebziger und achtziger Jahren den „Werther" verschlungen hatten; ihre Generation war vom Schauplatze abgetreten, als Goethe zum zweiten Male eine große Wirkung auf die literarische Jugend Frankreichs ausübte. Jetzt war es nicht mehr „Werther", sondern,,, »Faust", der die jungen Literaten und Künstler begeisterte. Zwar wurden auch andere Dramen Goethes, die in die Richtung der jungen Romantiker paßten, mit Begeisterung studiert, und Delacroix hat nicht nur für den „Faust", sondern auch für „Götz von Berlichingen" Lithographien gezeichnet, aber gegen „Faust" mußte doch alles andere zurückstehen, und auch heute noch kann man sagen, daß Goethe für den Franzosen sich nur in dieser doppelten Gestalt zeigt: er ist entweder „I^'auteur cZe WertKer" oder „lVauteur as traust". Alles andere ist natürlich übersetzt, zehn- und zwanzigmal, aber nichts ist eigentlich eingedrungen, und alles, was die Franzosen vom „Wilhelm Meister" wissen, ist die ganz in Zuckerwasser ersäufte Episode der Mignon in der gleichnamigen Oper. Leider steht es im Grunde auch nicht besser mit dem „Faust" trotz jener Begeisterung vor achtzig und neunzig Jahren. Ohne Gounods Oper wüßte man in Frankreich nicht viel von ihm, denn keiner der anderen zahlreichen Versuche, ihn auf der französischen Bühne einzubürgern, ist bisher gelungen, und es ist mehr als unwahrscheinlich, daß der oberflächliche Reimer Edmond Rostand oder der Boudoir-Philosoph Henry Bataille dieses Wunder zustande bringe. Es ist gerade hundert Jahre her, daß Frankreich die erste Bekanntschaft mit „Faust" machte, oder vielmehr: es wäre gerade hundert Jahre her, wenn nicht Napoleon das im Jahre 1810 erschienene Buch der Frau von Stael hätte konfiszieren und einstampfen lassen. Alles in allem muß mau heute unparteiisch genug sein, um zuzugeben, daß Madame de Stael uns mit sehr sympathischen Augen betrachtete, unsere Vorzüge vielleicht vergrößerte, unsere Fehler verschwieg oder nicht bemerkte. Trotzdem ist auch heute noch sehr viel Wahres an ihrer Charakterisierung des Deutschen im Gegensatze zum Franzosen, und alles, was sie über dieses Thema sagt, verdient auch heute noch aufmerksame Beachtung. Wo sie sich indessen auf Einzelheiten einläßt und gewisse Werke der deutschen Literatur eingehend bespricht, wird sie bei dem deutschen Beurteiler weniger Verständnis finden als bei dem Franzosen. Was sie über den „Faust" sagt, würde auch heute noch beinahe jeder echte Franzose sagen, und jeder echte Deutsche würde es mit einem beinahe mitleidigen Lächeln beiseite schieben, denn so ent¬ gegenkommend wir auch in fast allen Stücken den Ausländern gegenüber sind, wir werden doch beinahe hochmütig, wenn ein Franzose sich herausnimmt, den „Faust" verstehen und kritisieren zu wollen. Und darum geben wir uns auch nicht die Mühe, das Urteil der uns so wohlwollenden Madame de Stael zu berichtigen, wenn sie sagt: „Allerdings darf man hier weder Geschmack noch weises Maßhalten noch die Kunst des Äuswählens und Vollendens suchen; aber Grenzboten III 1910 1"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/85>, abgerufen am 23.07.2024.