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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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"Faust" in Frankreich

Arbeiten, wie denn überhaupt das Zeichnerische weniger als das Malerische seine
Stärke gewesen ist, und Nervals Übersetzung ist wie alle französischen Über¬
setzungen des "Faust" wirklich einfach unleidlich für jeden, der das Werk in der
deutschen Sprache lesen kann.

Wieder bei einer andern Gelegenheit spricht Goethe in seiner klugen und
doch etwas voreingenommenen Art von der Stellung der Franzosen zum "Faust"
und meint: "Der Verstand wird ihnen im Wege sein, und sie werden nicht
bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht
beikommen kann und soll." Eine Bemerkung, die offenbar wieder das große
Wohlwollen Goethes den Franzosen gegenüber bekundet, denn obschon der klare
Verstand eine sehr große Rolle in der französischen Poesie spielt, kann man
doch nicht gerade behaupten, daß er ausschlaggebend für sie wäre, man müßte
denn den mit dem Lineal messenden nüchternen Verstand meinen, der absolut
keinen Seitensprung gestatten will, und der daran schuld ist, daß uns die
Charaktere der klassischen französischen Bühne nicht wie lebendige Menschen vor¬
kommen. Endlich zeigt sich Goethe auch für den zweiten Teil des "Faust"
ganz besonders um die Aufnahme in Frankreich besorgt. Er meint zu Eckermann:
"Wenn die Franzosen nur erst die "Helena" gewahr werden und sehen, was
daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist,
verderben, aber sie werden es zu ihren Zwecken klug gebrauchen, und das ist
alles, was man erwarten und wünschen kann."

Diese andauernde Beschäftigung des greisen Goethe mit der französischen
Meinung und mit der Wirkung seiner Werke auf die Franzosen erklärt sich wohl
einerseits aus den vielfachen Anfeindungen, die Goethe in Deutschland selbst
erfuhr, und die ihn bewogen, lieber nach dem Auslande als nach der Heimat
zu schauen, anderseits aber aus der Tatsache, daß in den zwanziger und dreißiger
Jahren in Frankreich eine Generation von Dichtern und Schriftstellern blühte,
welche weit mehr als die damaligen deutschen Dichter in Goethe ihr Haupt und
ihren Gott verehrten und in Weimar ihr Mekka erblickten. Nicht nur französische
Dichter, sondern auch Maler und Bildhauer sahen in der Wallfahrt nach Weimar
und in einer Unterredung mit Goethe gewissermaßen die höchste Weihe ihres
Berufes, und es fällt uns heute sehr schwer, uns die damalige, der jetzigen so
absolut gegenüberstehende Strömung im literarischen und künstlerischen Jung-
Frankreich lebhaft vor Augen zu stellen. Goethe war allerdings lange vorher
schon einmal recht berühmt in Frankreich gewesen, denn sein "Werther" hatte
hier den gleichen Siegeszug gehalten wie in Deutschland selbst. Aber das waren
längst vergessene Zeiten, und die einstigen Wertherschwärmer Frankreichs wußten
vermutlich gar nicht, daß der weimarische Minister von Goethe der nämliche
war, der sie in ihrer Jugend zum Schwärmen und Weinen gebracht hatte.
Goethe selbst erzählt in der italienischen Reise, wie er in Sizilien mit einem
Manne zusammentraf, der vor zwanzig Jahren mit Werther geschwärmt hatte
und nun nicht glauben wollte, daß der vor. ihm stehende vollendete Hofmann


„Faust" in Frankreich

Arbeiten, wie denn überhaupt das Zeichnerische weniger als das Malerische seine
Stärke gewesen ist, und Nervals Übersetzung ist wie alle französischen Über¬
setzungen des „Faust" wirklich einfach unleidlich für jeden, der das Werk in der
deutschen Sprache lesen kann.

Wieder bei einer andern Gelegenheit spricht Goethe in seiner klugen und
doch etwas voreingenommenen Art von der Stellung der Franzosen zum „Faust"
und meint: „Der Verstand wird ihnen im Wege sein, und sie werden nicht
bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht
beikommen kann und soll." Eine Bemerkung, die offenbar wieder das große
Wohlwollen Goethes den Franzosen gegenüber bekundet, denn obschon der klare
Verstand eine sehr große Rolle in der französischen Poesie spielt, kann man
doch nicht gerade behaupten, daß er ausschlaggebend für sie wäre, man müßte
denn den mit dem Lineal messenden nüchternen Verstand meinen, der absolut
keinen Seitensprung gestatten will, und der daran schuld ist, daß uns die
Charaktere der klassischen französischen Bühne nicht wie lebendige Menschen vor¬
kommen. Endlich zeigt sich Goethe auch für den zweiten Teil des „Faust"
ganz besonders um die Aufnahme in Frankreich besorgt. Er meint zu Eckermann:
„Wenn die Franzosen nur erst die „Helena" gewahr werden und sehen, was
daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist,
verderben, aber sie werden es zu ihren Zwecken klug gebrauchen, und das ist
alles, was man erwarten und wünschen kann."

Diese andauernde Beschäftigung des greisen Goethe mit der französischen
Meinung und mit der Wirkung seiner Werke auf die Franzosen erklärt sich wohl
einerseits aus den vielfachen Anfeindungen, die Goethe in Deutschland selbst
erfuhr, und die ihn bewogen, lieber nach dem Auslande als nach der Heimat
zu schauen, anderseits aber aus der Tatsache, daß in den zwanziger und dreißiger
Jahren in Frankreich eine Generation von Dichtern und Schriftstellern blühte,
welche weit mehr als die damaligen deutschen Dichter in Goethe ihr Haupt und
ihren Gott verehrten und in Weimar ihr Mekka erblickten. Nicht nur französische
Dichter, sondern auch Maler und Bildhauer sahen in der Wallfahrt nach Weimar
und in einer Unterredung mit Goethe gewissermaßen die höchste Weihe ihres
Berufes, und es fällt uns heute sehr schwer, uns die damalige, der jetzigen so
absolut gegenüberstehende Strömung im literarischen und künstlerischen Jung-
Frankreich lebhaft vor Augen zu stellen. Goethe war allerdings lange vorher
schon einmal recht berühmt in Frankreich gewesen, denn sein „Werther" hatte
hier den gleichen Siegeszug gehalten wie in Deutschland selbst. Aber das waren
längst vergessene Zeiten, und die einstigen Wertherschwärmer Frankreichs wußten
vermutlich gar nicht, daß der weimarische Minister von Goethe der nämliche
war, der sie in ihrer Jugend zum Schwärmen und Weinen gebracht hatte.
Goethe selbst erzählt in der italienischen Reise, wie er in Sizilien mit einem
Manne zusammentraf, der vor zwanzig Jahren mit Werther geschwärmt hatte
und nun nicht glauben wollte, daß der vor. ihm stehende vollendete Hofmann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/84>, abgerufen am 23.07.2024.