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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Molieres Verslustspiele in dein gleichen Versmaß zu übertragen, in dem sie
geschrieben sind- natürlich nicht in jambisch geordnete Alexandriner, die auf die
Dauer in der Tat unerträglich sind, sondern in nach französischer Art frei rhyth-
mierten. Ich gebe hierfür als Probe den Widerhalt des Gesellschaftsmenschen
Philine gegen die Anklagen und idealen Forderungen Attests im "Misanthropen",
wozu ich nur bemerke, daß die Verse ganz wie Prosa, wie Salonrede zu
sprechen sind:

Wenn es im Wesen einer ernsten Beurteilung liegt, den besprochenen Gegen¬
stand zu fördern, so bin ich mit den obigen Ausführungen eigentlich schon am
Ende. Professor Wolff pflegt im allgemeinen seine Worte so abgewogen und
behutsam zu wählen und sich so streng an das Tatsächliche zu halten, daß die
Polemik sich an Einzelheiten heften müßte und dadurch in Gefahr käme, kleinlich
zu erscheinen. Ich möchte doch bemerken, daß mir von den Vorgängern Moliöres
Scarron nicht ganz mit dem wohlverdienten Gewicht behandelt scheint, ebenso
Cyrcmo de Bergerac, ein doch origineller, wenn auch grotesker Kopf. ("Der
wilde Junker Cyrcmo von Bergerac, der durch Rostands nach ihm benanntes Drama
eine nachträgliche, allerdings wenig berechtigte Berühmtheit erlangt hat.") In
der sonst trefflichen Charakteristik des Preziosentums vermisse ich den Hinweis auf
die in diesen Kreisen beliebte Kunst des "Porträtierens", die später in La Bruyeres
"Charakteren" ihren höchsten Ausdruck fand und die als Vorstufe für Moliöres
intime und dabei doch typisierende Charakterzeichnung vielleicht nicht ohne Bedeutung
ist. Was weiter Abliegendes betrifft, so finde ich die Marquise von Maintenon
etwas -zu geringschätzig charakterisiert ("eine alternde Betschwester steht ihm --
Ludwig dem Vierzehnten -- als Mätresse zur Seite"): die zweifellos genialische
Enkelin des stolzen Agrippcr d'Aubign6 sah nur wie so mancher Protestant und
spätere Gegenreformator gut ein, daß das nach Macht strebende Tatgenie leichter
unter einem in Unmündigkeit gehaltenen Volke zu seinem Ziele gelangt, und nutzte
ihren Übertritt auch nach dieser Richtung hin aus. Die Bemerkung über die
Unmöglichkeit, das französisch-makkaronische Latein der Doktorpromotion im "Ein-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Molieres Verslustspiele in dein gleichen Versmaß zu übertragen, in dem sie
geschrieben sind- natürlich nicht in jambisch geordnete Alexandriner, die auf die
Dauer in der Tat unerträglich sind, sondern in nach französischer Art frei rhyth-
mierten. Ich gebe hierfür als Probe den Widerhalt des Gesellschaftsmenschen
Philine gegen die Anklagen und idealen Forderungen Attests im „Misanthropen",
wozu ich nur bemerke, daß die Verse ganz wie Prosa, wie Salonrede zu
sprechen sind:

Wenn es im Wesen einer ernsten Beurteilung liegt, den besprochenen Gegen¬
stand zu fördern, so bin ich mit den obigen Ausführungen eigentlich schon am
Ende. Professor Wolff pflegt im allgemeinen seine Worte so abgewogen und
behutsam zu wählen und sich so streng an das Tatsächliche zu halten, daß die
Polemik sich an Einzelheiten heften müßte und dadurch in Gefahr käme, kleinlich
zu erscheinen. Ich möchte doch bemerken, daß mir von den Vorgängern Moliöres
Scarron nicht ganz mit dem wohlverdienten Gewicht behandelt scheint, ebenso
Cyrcmo de Bergerac, ein doch origineller, wenn auch grotesker Kopf. („Der
wilde Junker Cyrcmo von Bergerac, der durch Rostands nach ihm benanntes Drama
eine nachträgliche, allerdings wenig berechtigte Berühmtheit erlangt hat.") In
der sonst trefflichen Charakteristik des Preziosentums vermisse ich den Hinweis auf
die in diesen Kreisen beliebte Kunst des „Porträtierens", die später in La Bruyeres
„Charakteren" ihren höchsten Ausdruck fand und die als Vorstufe für Moliöres
intime und dabei doch typisierende Charakterzeichnung vielleicht nicht ohne Bedeutung
ist. Was weiter Abliegendes betrifft, so finde ich die Marquise von Maintenon
etwas -zu geringschätzig charakterisiert („eine alternde Betschwester steht ihm —
Ludwig dem Vierzehnten — als Mätresse zur Seite"): die zweifellos genialische
Enkelin des stolzen Agrippcr d'Aubign6 sah nur wie so mancher Protestant und
spätere Gegenreformator gut ein, daß das nach Macht strebende Tatgenie leichter
unter einem in Unmündigkeit gehaltenen Volke zu seinem Ziele gelangt, und nutzte
ihren Übertritt auch nach dieser Richtung hin aus. Die Bemerkung über die
Unmöglichkeit, das französisch-makkaronische Latein der Doktorpromotion im „Ein-


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[0651] Maßgebliches und Unmaßgebliches Molieres Verslustspiele in dein gleichen Versmaß zu übertragen, in dem sie geschrieben sind- natürlich nicht in jambisch geordnete Alexandriner, die auf die Dauer in der Tat unerträglich sind, sondern in nach französischer Art frei rhyth- mierten. Ich gebe hierfür als Probe den Widerhalt des Gesellschaftsmenschen Philine gegen die Anklagen und idealen Forderungen Attests im „Misanthropen", wozu ich nur bemerke, daß die Verse ganz wie Prosa, wie Salonrede zu sprechen sind: Wenn es im Wesen einer ernsten Beurteilung liegt, den besprochenen Gegen¬ stand zu fördern, so bin ich mit den obigen Ausführungen eigentlich schon am Ende. Professor Wolff pflegt im allgemeinen seine Worte so abgewogen und behutsam zu wählen und sich so streng an das Tatsächliche zu halten, daß die Polemik sich an Einzelheiten heften müßte und dadurch in Gefahr käme, kleinlich zu erscheinen. Ich möchte doch bemerken, daß mir von den Vorgängern Moliöres Scarron nicht ganz mit dem wohlverdienten Gewicht behandelt scheint, ebenso Cyrcmo de Bergerac, ein doch origineller, wenn auch grotesker Kopf. („Der wilde Junker Cyrcmo von Bergerac, der durch Rostands nach ihm benanntes Drama eine nachträgliche, allerdings wenig berechtigte Berühmtheit erlangt hat.") In der sonst trefflichen Charakteristik des Preziosentums vermisse ich den Hinweis auf die in diesen Kreisen beliebte Kunst des „Porträtierens", die später in La Bruyeres „Charakteren" ihren höchsten Ausdruck fand und die als Vorstufe für Moliöres intime und dabei doch typisierende Charakterzeichnung vielleicht nicht ohne Bedeutung ist. Was weiter Abliegendes betrifft, so finde ich die Marquise von Maintenon etwas -zu geringschätzig charakterisiert („eine alternde Betschwester steht ihm — Ludwig dem Vierzehnten — als Mätresse zur Seite"): die zweifellos genialische Enkelin des stolzen Agrippcr d'Aubign6 sah nur wie so mancher Protestant und spätere Gegenreformator gut ein, daß das nach Macht strebende Tatgenie leichter unter einem in Unmündigkeit gehaltenen Volke zu seinem Ziele gelangt, und nutzte ihren Übertritt auch nach dieser Richtung hin aus. Die Bemerkung über die Unmöglichkeit, das französisch-makkaronische Latein der Doktorpromotion im „Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/651>, abgerufen am 23.07.2024.