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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Trennung von Staat und Kirche in Spanien

Ausdruck. Hans Gmelin hat in seinen Studien "Zur spanischen Verfassungs¬
geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Stuttgart 1905) den zwanzigmaligem
Wechsel in den Verfassungen und Verfassungsbestrebungen Spaniens in diesem
Jahrhundert zutreffend mit einer "Fieberkurve" verglichen und als solche
graphisch dargestellt, -- einer Fieberkurve, die sich freilich in der Richtung des
Fortschritts bewegt. Während die Verfassungen von 1812 und 1845 -- mit
kurzer Unterbrechung im Jahre 1837 nur die intolerante "Religion der
Nation" sanktionierten, taucht im Verfassungsentwurf von 1856 die Gewissens¬
freiheit auf, wurde freilich alsbald wieder von der Reaktion unterdrückt. Erst
die Revolution des Jahres 1868 brachte -- zu Beginn des spanischen Inter¬
regnums (1868 bis 1870) -- die religiöse Freiheit, von der provisorischen
Regierung verkündet, am 5. Mai 1869 durch ein Staatsgesetz festgelegt. -- Die
Restauration behielt zwar die Bezeichnung "Staatsreligion" bei, vermochte
aber die Kultusfreiheit nicht mehr zu vernichten, wenn sie es auch an Ein-
schränknngsversuchen und Einschränkungsklauseln nicht hat fehlen lassen. Die
Verfassung von 1876 hat an der Glaubensfreiheit nichts Wesentliches mehr
ändern können und wollen. Immerhin ist die vorsichtige Art und Weise inter¬
essant, auf welche sie diese wichtige Errungenschaft des Geisteslebens in Spanien
formuliert. Artikel 11 der Verfassung besagt in seinem Z 2: Niemand soll
auf spanischem Gebiet wegen seiner religiösen Überzeugung oder wegen Aus¬
übung seines Kultus verfolgt werden, solange er nicht die der christlichen Sitten¬
lehre schuldige Achtung verletzt, -- und in Z 3: Andere Zeremonien und
öffentliche Kundgebungen als die der Staatsreligion sind nicht gestattet. --
Jenen ersten Satz enthielt auch die Verfassung von 1869 in Artikel 21 ZZ 2 und 3
dem Sinne nach, wenn auch in anderen Worten. Dort hieß es: Die öffentliche
oder private Übung irgendeines anderen Kultus wird allen in Spanien
wohnenden Ausländern ohne weitere Einschränkungen als die der allgemeinen
Vorschriften der Moral und des Rechts gewährleistet. Wenn sich Spanier zu
einer anderen als der katholischen Religion bekennen sollten, so ist auf sie die
ganze Bestimmung des vorhergehenden Paragraphen anwendbar. -- Die
Quintessenz des neuen Gesetzes (von 1876) ist das Verbot der nichtkatholischen
öffentlichen Kundgebungen (manike8ta,livre8 püblicag), das von der Justiz
und den achtundvierzig Gouverneuren, die Spanien verwalten, keineswegs ein¬
heitlich und durchaus nicht immer freiheitlich und weitsichtig, vielmehr häufig
kleinlich und engherzig interpretiert wird. Nach der offiziellen Interpretation,
welche die Regierung im Dekret vom 23. Oktober 1876 gab, ist darunter zu
verstehen: Jede auf öffentlicher Straße oder an den äußeren Mauern des
Tempels oder Friedhofs ausgeführte Handlung, die die Zeremonien, Riten, Ge¬
bräuche und Gewohnheiten des Dissidentenkultus zu erkennen gibt, sei es mittels
Prozessionen, Inschriften, Fahnen, Schildern oder Maueranschlägen -- worunter
eben jede öffentliche gottesdienstliche Handlung subsumiert werden kann. Die
zum Schutz dieser Vorschriften erlassenen Strafandrohungen in Artikel 236 bis


Die Trennung von Staat und Kirche in Spanien

Ausdruck. Hans Gmelin hat in seinen Studien „Zur spanischen Verfassungs¬
geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Stuttgart 1905) den zwanzigmaligem
Wechsel in den Verfassungen und Verfassungsbestrebungen Spaniens in diesem
Jahrhundert zutreffend mit einer „Fieberkurve" verglichen und als solche
graphisch dargestellt, — einer Fieberkurve, die sich freilich in der Richtung des
Fortschritts bewegt. Während die Verfassungen von 1812 und 1845 — mit
kurzer Unterbrechung im Jahre 1837 nur die intolerante „Religion der
Nation" sanktionierten, taucht im Verfassungsentwurf von 1856 die Gewissens¬
freiheit auf, wurde freilich alsbald wieder von der Reaktion unterdrückt. Erst
die Revolution des Jahres 1868 brachte — zu Beginn des spanischen Inter¬
regnums (1868 bis 1870) — die religiöse Freiheit, von der provisorischen
Regierung verkündet, am 5. Mai 1869 durch ein Staatsgesetz festgelegt. — Die
Restauration behielt zwar die Bezeichnung „Staatsreligion" bei, vermochte
aber die Kultusfreiheit nicht mehr zu vernichten, wenn sie es auch an Ein-
schränknngsversuchen und Einschränkungsklauseln nicht hat fehlen lassen. Die
Verfassung von 1876 hat an der Glaubensfreiheit nichts Wesentliches mehr
ändern können und wollen. Immerhin ist die vorsichtige Art und Weise inter¬
essant, auf welche sie diese wichtige Errungenschaft des Geisteslebens in Spanien
formuliert. Artikel 11 der Verfassung besagt in seinem Z 2: Niemand soll
auf spanischem Gebiet wegen seiner religiösen Überzeugung oder wegen Aus¬
übung seines Kultus verfolgt werden, solange er nicht die der christlichen Sitten¬
lehre schuldige Achtung verletzt, — und in Z 3: Andere Zeremonien und
öffentliche Kundgebungen als die der Staatsreligion sind nicht gestattet. —
Jenen ersten Satz enthielt auch die Verfassung von 1869 in Artikel 21 ZZ 2 und 3
dem Sinne nach, wenn auch in anderen Worten. Dort hieß es: Die öffentliche
oder private Übung irgendeines anderen Kultus wird allen in Spanien
wohnenden Ausländern ohne weitere Einschränkungen als die der allgemeinen
Vorschriften der Moral und des Rechts gewährleistet. Wenn sich Spanier zu
einer anderen als der katholischen Religion bekennen sollten, so ist auf sie die
ganze Bestimmung des vorhergehenden Paragraphen anwendbar. — Die
Quintessenz des neuen Gesetzes (von 1876) ist das Verbot der nichtkatholischen
öffentlichen Kundgebungen (manike8ta,livre8 püblicag), das von der Justiz
und den achtundvierzig Gouverneuren, die Spanien verwalten, keineswegs ein¬
heitlich und durchaus nicht immer freiheitlich und weitsichtig, vielmehr häufig
kleinlich und engherzig interpretiert wird. Nach der offiziellen Interpretation,
welche die Regierung im Dekret vom 23. Oktober 1876 gab, ist darunter zu
verstehen: Jede auf öffentlicher Straße oder an den äußeren Mauern des
Tempels oder Friedhofs ausgeführte Handlung, die die Zeremonien, Riten, Ge¬
bräuche und Gewohnheiten des Dissidentenkultus zu erkennen gibt, sei es mittels
Prozessionen, Inschriften, Fahnen, Schildern oder Maueranschlägen — worunter
eben jede öffentliche gottesdienstliche Handlung subsumiert werden kann. Die
zum Schutz dieser Vorschriften erlassenen Strafandrohungen in Artikel 236 bis


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[0632] Die Trennung von Staat und Kirche in Spanien Ausdruck. Hans Gmelin hat in seinen Studien „Zur spanischen Verfassungs¬ geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Stuttgart 1905) den zwanzigmaligem Wechsel in den Verfassungen und Verfassungsbestrebungen Spaniens in diesem Jahrhundert zutreffend mit einer „Fieberkurve" verglichen und als solche graphisch dargestellt, — einer Fieberkurve, die sich freilich in der Richtung des Fortschritts bewegt. Während die Verfassungen von 1812 und 1845 — mit kurzer Unterbrechung im Jahre 1837 nur die intolerante „Religion der Nation" sanktionierten, taucht im Verfassungsentwurf von 1856 die Gewissens¬ freiheit auf, wurde freilich alsbald wieder von der Reaktion unterdrückt. Erst die Revolution des Jahres 1868 brachte — zu Beginn des spanischen Inter¬ regnums (1868 bis 1870) — die religiöse Freiheit, von der provisorischen Regierung verkündet, am 5. Mai 1869 durch ein Staatsgesetz festgelegt. — Die Restauration behielt zwar die Bezeichnung „Staatsreligion" bei, vermochte aber die Kultusfreiheit nicht mehr zu vernichten, wenn sie es auch an Ein- schränknngsversuchen und Einschränkungsklauseln nicht hat fehlen lassen. Die Verfassung von 1876 hat an der Glaubensfreiheit nichts Wesentliches mehr ändern können und wollen. Immerhin ist die vorsichtige Art und Weise inter¬ essant, auf welche sie diese wichtige Errungenschaft des Geisteslebens in Spanien formuliert. Artikel 11 der Verfassung besagt in seinem Z 2: Niemand soll auf spanischem Gebiet wegen seiner religiösen Überzeugung oder wegen Aus¬ übung seines Kultus verfolgt werden, solange er nicht die der christlichen Sitten¬ lehre schuldige Achtung verletzt, — und in Z 3: Andere Zeremonien und öffentliche Kundgebungen als die der Staatsreligion sind nicht gestattet. — Jenen ersten Satz enthielt auch die Verfassung von 1869 in Artikel 21 ZZ 2 und 3 dem Sinne nach, wenn auch in anderen Worten. Dort hieß es: Die öffentliche oder private Übung irgendeines anderen Kultus wird allen in Spanien wohnenden Ausländern ohne weitere Einschränkungen als die der allgemeinen Vorschriften der Moral und des Rechts gewährleistet. Wenn sich Spanier zu einer anderen als der katholischen Religion bekennen sollten, so ist auf sie die ganze Bestimmung des vorhergehenden Paragraphen anwendbar. — Die Quintessenz des neuen Gesetzes (von 1876) ist das Verbot der nichtkatholischen öffentlichen Kundgebungen (manike8ta,livre8 püblicag), das von der Justiz und den achtundvierzig Gouverneuren, die Spanien verwalten, keineswegs ein¬ heitlich und durchaus nicht immer freiheitlich und weitsichtig, vielmehr häufig kleinlich und engherzig interpretiert wird. Nach der offiziellen Interpretation, welche die Regierung im Dekret vom 23. Oktober 1876 gab, ist darunter zu verstehen: Jede auf öffentlicher Straße oder an den äußeren Mauern des Tempels oder Friedhofs ausgeführte Handlung, die die Zeremonien, Riten, Ge¬ bräuche und Gewohnheiten des Dissidentenkultus zu erkennen gibt, sei es mittels Prozessionen, Inschriften, Fahnen, Schildern oder Maueranschlägen — worunter eben jede öffentliche gottesdienstliche Handlung subsumiert werden kann. Die zum Schutz dieser Vorschriften erlassenen Strafandrohungen in Artikel 236 bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/632>, abgerufen am 23.07.2024.