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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage des Deutschtums in Galizien

Adel einst vermocht, das deutsche Bürgertum zu vernichten *); aber Polen war
damals ein fast rechtloser Staat, in dem Gewalt vor Recht ging; das Bürger¬
tum war auf den Reichstagen machtlos; die Bürger der einzelnen Städte
hatten miteinander kaum engere Beziehungen, mitunter standen sie sich feindlich
gegenüber; der Zusammenhang mit der alten Heimat hatte aufgehört, Nach¬
schübe, Anregungen, Hilfeleistung von dort blieben aus; von einem völkischen
Bewußtsein, das sie mit dem großen deutschen Volke und den Deutschen in den
Nachbarländern geeint hätte, war keine Rede. Jenen deutschen Bürgern des dreizehnten
bis fünfzehnten Jahrhunderts hafteten dieselben Schwächen an, denen zum großen
Teil bisher auch die neueren deutschen Stadtbewohner in Galizien zum Opfer
gefallen sind. Nun aber lebt im deutschen Bauern deutsche Kraft fort und
alle erwähnten Mißstände sind günstigeren Verhältnissen gewichen. Viel ist in
den letzten Jahrzehnten, ja noch in den letzten Jahren versäumt und gefehlt
worden, noch ist es aber an der Zeit, die Stellung zu behaupten. Nicht wie im
sechzehnten und siebzehntenJahrhundert ist das deutscheVolkzerfahren und zersplittert,
unfähig seine Ableger zu schützen. Die Ereignisse von 1866 haben die Reichs¬
deutschen erstarken lassen, die Lage der Deutschen in Österreich und insbesondere
auch in Galizien erschüttert. Von dem wiederhergestellten innigen Bundes-
verhältnisse darf man mit Recht eine allmähliche Erstarkung des österreichischen
Deutschtums erhoffen. Das geeinigte deutsche Volk wird seine Grenzer nicht
erdrosseln lassen. Die Deutschnationalen Österreichs haben jetzt die Bedeutung
des karpathenländifchen Deutschtums erfaßt, sie geben es nicht mehr auf und
werden passende Gelegenheit finden, es zu schützen und seine Rechte festzulegen.
Da überdies die Lage der Polen durch die aufstrebenden Ruthenen gefährdet
ist, müssen die Polen sich Reserve auferlegen. Die Ruthenen stehen der deutschen
Bewegung in Galizien nicht unfreundlich gegenüber.^) Wie diese müssen die
Polen zur Erkenntnis gelangen, daß die Deutschen wohl stark genug find, ihre
erworbenen Rechte zu verteidigen, daß sie aber die galizischen Polen nicht
schädigen wollen.

Schließlich muß aber auch die Regierung Österreichs zur Erkenntnis kommen,
daß die Erhaltung des Deutschtums in Galizien eine staatserhaltende Tat ist.
Bredetzky hat vor hundert Jahren darüber noch heute sehr zu beherzigende Worte
geschrieben: "Als vor dem Ausbruche des letzten französischen Krieges (1809)
das junge Volk zum Militärdienst ausgehoben wurde, ergriff auch die galizischen
Deutschen das Feuer der Begeisterung für die Sache der Monarchie und des
edlen Fürstenhauses. Mehrere Väter von den deutschen Ansiedlern (ich habe
dies aus dem Munde angesehener Offiziere) stellten ihre Söhne selbst zum




Man vergleiche des Verfassers "Geschichte der Deutschen in den Karpathcnländern",
Bd. I (Gotha, Pere'des). Den Vorarbeiten zum III. Bde. verdankt dieser Aufsatz sein Entstehen.
Soeben geht die Nachricht dnrch die Zeitungen, dah eine ruthenische Versammlung
einen deutschen Beamten für den Statthalterposten Goliziens forderte, damit dieser Ordnung
schaffe.
Die Lage des Deutschtums in Galizien

Adel einst vermocht, das deutsche Bürgertum zu vernichten *); aber Polen war
damals ein fast rechtloser Staat, in dem Gewalt vor Recht ging; das Bürger¬
tum war auf den Reichstagen machtlos; die Bürger der einzelnen Städte
hatten miteinander kaum engere Beziehungen, mitunter standen sie sich feindlich
gegenüber; der Zusammenhang mit der alten Heimat hatte aufgehört, Nach¬
schübe, Anregungen, Hilfeleistung von dort blieben aus; von einem völkischen
Bewußtsein, das sie mit dem großen deutschen Volke und den Deutschen in den
Nachbarländern geeint hätte, war keine Rede. Jenen deutschen Bürgern des dreizehnten
bis fünfzehnten Jahrhunderts hafteten dieselben Schwächen an, denen zum großen
Teil bisher auch die neueren deutschen Stadtbewohner in Galizien zum Opfer
gefallen sind. Nun aber lebt im deutschen Bauern deutsche Kraft fort und
alle erwähnten Mißstände sind günstigeren Verhältnissen gewichen. Viel ist in
den letzten Jahrzehnten, ja noch in den letzten Jahren versäumt und gefehlt
worden, noch ist es aber an der Zeit, die Stellung zu behaupten. Nicht wie im
sechzehnten und siebzehntenJahrhundert ist das deutscheVolkzerfahren und zersplittert,
unfähig seine Ableger zu schützen. Die Ereignisse von 1866 haben die Reichs¬
deutschen erstarken lassen, die Lage der Deutschen in Österreich und insbesondere
auch in Galizien erschüttert. Von dem wiederhergestellten innigen Bundes-
verhältnisse darf man mit Recht eine allmähliche Erstarkung des österreichischen
Deutschtums erhoffen. Das geeinigte deutsche Volk wird seine Grenzer nicht
erdrosseln lassen. Die Deutschnationalen Österreichs haben jetzt die Bedeutung
des karpathenländifchen Deutschtums erfaßt, sie geben es nicht mehr auf und
werden passende Gelegenheit finden, es zu schützen und seine Rechte festzulegen.
Da überdies die Lage der Polen durch die aufstrebenden Ruthenen gefährdet
ist, müssen die Polen sich Reserve auferlegen. Die Ruthenen stehen der deutschen
Bewegung in Galizien nicht unfreundlich gegenüber.^) Wie diese müssen die
Polen zur Erkenntnis gelangen, daß die Deutschen wohl stark genug find, ihre
erworbenen Rechte zu verteidigen, daß sie aber die galizischen Polen nicht
schädigen wollen.

Schließlich muß aber auch die Regierung Österreichs zur Erkenntnis kommen,
daß die Erhaltung des Deutschtums in Galizien eine staatserhaltende Tat ist.
Bredetzky hat vor hundert Jahren darüber noch heute sehr zu beherzigende Worte
geschrieben: „Als vor dem Ausbruche des letzten französischen Krieges (1809)
das junge Volk zum Militärdienst ausgehoben wurde, ergriff auch die galizischen
Deutschen das Feuer der Begeisterung für die Sache der Monarchie und des
edlen Fürstenhauses. Mehrere Väter von den deutschen Ansiedlern (ich habe
dies aus dem Munde angesehener Offiziere) stellten ihre Söhne selbst zum




Man vergleiche des Verfassers „Geschichte der Deutschen in den Karpathcnländern",
Bd. I (Gotha, Pere'des). Den Vorarbeiten zum III. Bde. verdankt dieser Aufsatz sein Entstehen.
Soeben geht die Nachricht dnrch die Zeitungen, dah eine ruthenische Versammlung
einen deutschen Beamten für den Statthalterposten Goliziens forderte, damit dieser Ordnung
schaffe.
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[0590] Die Lage des Deutschtums in Galizien Adel einst vermocht, das deutsche Bürgertum zu vernichten *); aber Polen war damals ein fast rechtloser Staat, in dem Gewalt vor Recht ging; das Bürger¬ tum war auf den Reichstagen machtlos; die Bürger der einzelnen Städte hatten miteinander kaum engere Beziehungen, mitunter standen sie sich feindlich gegenüber; der Zusammenhang mit der alten Heimat hatte aufgehört, Nach¬ schübe, Anregungen, Hilfeleistung von dort blieben aus; von einem völkischen Bewußtsein, das sie mit dem großen deutschen Volke und den Deutschen in den Nachbarländern geeint hätte, war keine Rede. Jenen deutschen Bürgern des dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts hafteten dieselben Schwächen an, denen zum großen Teil bisher auch die neueren deutschen Stadtbewohner in Galizien zum Opfer gefallen sind. Nun aber lebt im deutschen Bauern deutsche Kraft fort und alle erwähnten Mißstände sind günstigeren Verhältnissen gewichen. Viel ist in den letzten Jahrzehnten, ja noch in den letzten Jahren versäumt und gefehlt worden, noch ist es aber an der Zeit, die Stellung zu behaupten. Nicht wie im sechzehnten und siebzehntenJahrhundert ist das deutscheVolkzerfahren und zersplittert, unfähig seine Ableger zu schützen. Die Ereignisse von 1866 haben die Reichs¬ deutschen erstarken lassen, die Lage der Deutschen in Österreich und insbesondere auch in Galizien erschüttert. Von dem wiederhergestellten innigen Bundes- verhältnisse darf man mit Recht eine allmähliche Erstarkung des österreichischen Deutschtums erhoffen. Das geeinigte deutsche Volk wird seine Grenzer nicht erdrosseln lassen. Die Deutschnationalen Österreichs haben jetzt die Bedeutung des karpathenländifchen Deutschtums erfaßt, sie geben es nicht mehr auf und werden passende Gelegenheit finden, es zu schützen und seine Rechte festzulegen. Da überdies die Lage der Polen durch die aufstrebenden Ruthenen gefährdet ist, müssen die Polen sich Reserve auferlegen. Die Ruthenen stehen der deutschen Bewegung in Galizien nicht unfreundlich gegenüber.^) Wie diese müssen die Polen zur Erkenntnis gelangen, daß die Deutschen wohl stark genug find, ihre erworbenen Rechte zu verteidigen, daß sie aber die galizischen Polen nicht schädigen wollen. Schließlich muß aber auch die Regierung Österreichs zur Erkenntnis kommen, daß die Erhaltung des Deutschtums in Galizien eine staatserhaltende Tat ist. Bredetzky hat vor hundert Jahren darüber noch heute sehr zu beherzigende Worte geschrieben: „Als vor dem Ausbruche des letzten französischen Krieges (1809) das junge Volk zum Militärdienst ausgehoben wurde, ergriff auch die galizischen Deutschen das Feuer der Begeisterung für die Sache der Monarchie und des edlen Fürstenhauses. Mehrere Väter von den deutschen Ansiedlern (ich habe dies aus dem Munde angesehener Offiziere) stellten ihre Söhne selbst zum Man vergleiche des Verfassers „Geschichte der Deutschen in den Karpathcnländern", Bd. I (Gotha, Pere'des). Den Vorarbeiten zum III. Bde. verdankt dieser Aufsatz sein Entstehen. Soeben geht die Nachricht dnrch die Zeitungen, dah eine ruthenische Versammlung einen deutschen Beamten für den Statthalterposten Goliziens forderte, damit dieser Ordnung schaffe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/590>, abgerufen am 25.08.2024.