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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

mäßig die mit Überlegung ausgeführten Tötungsfälle auch die schwereren und
darum strenger zu bestrafenden Fälle dar.

Wenn das Merkmal der Überlegung kein brauchbares ist, dann kann man
es doch nicht beibehalten, bloß weil man kein besseres findet. Dann wäre meines
Erachtens die notwendige Konsequenz, mangels einer tauglichen Unterscheidung
auf eine solche zu verzichten und wie Liszt ein einheitliches Tötungsdelikt
anzunehmen, aus dem dann eventuell straferschwerende oder strafmildernde
Momente herausgehoben werden könnten. Aber ich glaube gar nicht, daß wir
auf Feststellung eines geeigneten Unterscheidungsmerkmals zu verzichten brauchen.
Die Vorarbeiten zu einem eidgenössischen Strafgesetzbuch weisen uns hier durchaus
den richtigen Weg. Art. 50 des von Prof. Dr. Stooß ausgearbeiteten Vor¬
entwurfs von 1893/94 bestimmt: "Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird
mit Zuchthaus von zehn bis fünfzehn Jahren bestraft; begeht er die Tat in
leidenschaftlicher Aufwallung, so ist die Strafe Zuchthaus von drei bis zu zehn
Jahren (Totschlag). Tötet der Mörder aus Mordlust, aus Habgier, unter
VerÜbung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittels Gift, Sprengstoffen oder
Feuer, oder um die Begehung eines anderen Verbrechens zu verdecken oder zu
erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft (Mord)." Die
hier gewählte Kasuistik geht allerdings so ins einzelne, daß sie nicht gebilligt
werden kann; mit einer solchen Aufzählung wird man die Fälle des praktischen
Lebens nie erschöpfen und keine befriedigende Antwort auf die Frage geben,
warum gerade diese Erscheinungsformen schwerer bestraft werden und andere
nicht, die ebenso schwer liegen? Aber der in Art. 50 liegende Gedanke kann,
herausgeschält, die Rechtsentwickelung doch über den Standpunkt hinausführen,
welchen sie vom Locis perml bis zum Deutschen Reichsstrafgesetzbuche mit dem
Unterscheidungsmerkmale der Überlegung eingenommen hat. Das. was das
Volksempfinden als "Mord" bezeichnet, das ist die bediente gemeine Tat. sei
sie es um der Begehungsart oder der Motive willen. Die Tat, welche solche
ehrlose Gesinnung nicht verrät, die ist dem Volke der "Totschlag". Wer nun
Zur Begehung einer Tötung durch niedrige Motive verleitet worden ist, wer
damit den gemeinen Zweck der Ausrandung verfolgt, wer den andern heimtückisch
in eine Falle lockt, der hat sich natürlich die Ausführung der Tat wie ihre
Ergebnisse sorgfältig überlegt, und so ist die Verwechselung begreiflich, die Über¬
legung selbst als Unterscheidungsmerkmal zu benutzen, statt des Inhalts dieser
Überlegung. Daß die Überlegung aber an sich die Tat noch nicht zu einer
gemeinen und ehrlosen macht, dafür ist wohl das klassischste Beispiel Odoardo
Galotti. Hat er sich die Tötung seiner Tochter nicht reiflich überlegt? Hat er
darum nach unserem Empfinden einen Mord begangen? Nein, sagt der Dichter,
er hat nur "eine Rose geknickt, eh' der Sturm sie entblättert". Um bei dem
Beispiel der Dichtung zu bleiben, so hat uns Schiller den Gegensatz zwischen
der bedienten gemeinen Tat und der Tötung um verzeihlicher Motive willen in
seinein Tell aufs deutlichste zum Bewußtsein gebracht, indem er dem gewiß auch


Kritische Aufsätze

mäßig die mit Überlegung ausgeführten Tötungsfälle auch die schwereren und
darum strenger zu bestrafenden Fälle dar.

Wenn das Merkmal der Überlegung kein brauchbares ist, dann kann man
es doch nicht beibehalten, bloß weil man kein besseres findet. Dann wäre meines
Erachtens die notwendige Konsequenz, mangels einer tauglichen Unterscheidung
auf eine solche zu verzichten und wie Liszt ein einheitliches Tötungsdelikt
anzunehmen, aus dem dann eventuell straferschwerende oder strafmildernde
Momente herausgehoben werden könnten. Aber ich glaube gar nicht, daß wir
auf Feststellung eines geeigneten Unterscheidungsmerkmals zu verzichten brauchen.
Die Vorarbeiten zu einem eidgenössischen Strafgesetzbuch weisen uns hier durchaus
den richtigen Weg. Art. 50 des von Prof. Dr. Stooß ausgearbeiteten Vor¬
entwurfs von 1893/94 bestimmt: „Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird
mit Zuchthaus von zehn bis fünfzehn Jahren bestraft; begeht er die Tat in
leidenschaftlicher Aufwallung, so ist die Strafe Zuchthaus von drei bis zu zehn
Jahren (Totschlag). Tötet der Mörder aus Mordlust, aus Habgier, unter
VerÜbung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittels Gift, Sprengstoffen oder
Feuer, oder um die Begehung eines anderen Verbrechens zu verdecken oder zu
erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft (Mord)." Die
hier gewählte Kasuistik geht allerdings so ins einzelne, daß sie nicht gebilligt
werden kann; mit einer solchen Aufzählung wird man die Fälle des praktischen
Lebens nie erschöpfen und keine befriedigende Antwort auf die Frage geben,
warum gerade diese Erscheinungsformen schwerer bestraft werden und andere
nicht, die ebenso schwer liegen? Aber der in Art. 50 liegende Gedanke kann,
herausgeschält, die Rechtsentwickelung doch über den Standpunkt hinausführen,
welchen sie vom Locis perml bis zum Deutschen Reichsstrafgesetzbuche mit dem
Unterscheidungsmerkmale der Überlegung eingenommen hat. Das. was das
Volksempfinden als „Mord" bezeichnet, das ist die bediente gemeine Tat. sei
sie es um der Begehungsart oder der Motive willen. Die Tat, welche solche
ehrlose Gesinnung nicht verrät, die ist dem Volke der „Totschlag". Wer nun
Zur Begehung einer Tötung durch niedrige Motive verleitet worden ist, wer
damit den gemeinen Zweck der Ausrandung verfolgt, wer den andern heimtückisch
in eine Falle lockt, der hat sich natürlich die Ausführung der Tat wie ihre
Ergebnisse sorgfältig überlegt, und so ist die Verwechselung begreiflich, die Über¬
legung selbst als Unterscheidungsmerkmal zu benutzen, statt des Inhalts dieser
Überlegung. Daß die Überlegung aber an sich die Tat noch nicht zu einer
gemeinen und ehrlosen macht, dafür ist wohl das klassischste Beispiel Odoardo
Galotti. Hat er sich die Tötung seiner Tochter nicht reiflich überlegt? Hat er
darum nach unserem Empfinden einen Mord begangen? Nein, sagt der Dichter,
er hat nur „eine Rose geknickt, eh' der Sturm sie entblättert". Um bei dem
Beispiel der Dichtung zu bleiben, so hat uns Schiller den Gegensatz zwischen
der bedienten gemeinen Tat und der Tötung um verzeihlicher Motive willen in
seinein Tell aufs deutlichste zum Bewußtsein gebracht, indem er dem gewiß auch


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[0537] Kritische Aufsätze mäßig die mit Überlegung ausgeführten Tötungsfälle auch die schwereren und darum strenger zu bestrafenden Fälle dar. Wenn das Merkmal der Überlegung kein brauchbares ist, dann kann man es doch nicht beibehalten, bloß weil man kein besseres findet. Dann wäre meines Erachtens die notwendige Konsequenz, mangels einer tauglichen Unterscheidung auf eine solche zu verzichten und wie Liszt ein einheitliches Tötungsdelikt anzunehmen, aus dem dann eventuell straferschwerende oder strafmildernde Momente herausgehoben werden könnten. Aber ich glaube gar nicht, daß wir auf Feststellung eines geeigneten Unterscheidungsmerkmals zu verzichten brauchen. Die Vorarbeiten zu einem eidgenössischen Strafgesetzbuch weisen uns hier durchaus den richtigen Weg. Art. 50 des von Prof. Dr. Stooß ausgearbeiteten Vor¬ entwurfs von 1893/94 bestimmt: „Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit Zuchthaus von zehn bis fünfzehn Jahren bestraft; begeht er die Tat in leidenschaftlicher Aufwallung, so ist die Strafe Zuchthaus von drei bis zu zehn Jahren (Totschlag). Tötet der Mörder aus Mordlust, aus Habgier, unter VerÜbung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittels Gift, Sprengstoffen oder Feuer, oder um die Begehung eines anderen Verbrechens zu verdecken oder zu erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft (Mord)." Die hier gewählte Kasuistik geht allerdings so ins einzelne, daß sie nicht gebilligt werden kann; mit einer solchen Aufzählung wird man die Fälle des praktischen Lebens nie erschöpfen und keine befriedigende Antwort auf die Frage geben, warum gerade diese Erscheinungsformen schwerer bestraft werden und andere nicht, die ebenso schwer liegen? Aber der in Art. 50 liegende Gedanke kann, herausgeschält, die Rechtsentwickelung doch über den Standpunkt hinausführen, welchen sie vom Locis perml bis zum Deutschen Reichsstrafgesetzbuche mit dem Unterscheidungsmerkmale der Überlegung eingenommen hat. Das. was das Volksempfinden als „Mord" bezeichnet, das ist die bediente gemeine Tat. sei sie es um der Begehungsart oder der Motive willen. Die Tat, welche solche ehrlose Gesinnung nicht verrät, die ist dem Volke der „Totschlag". Wer nun Zur Begehung einer Tötung durch niedrige Motive verleitet worden ist, wer damit den gemeinen Zweck der Ausrandung verfolgt, wer den andern heimtückisch in eine Falle lockt, der hat sich natürlich die Ausführung der Tat wie ihre Ergebnisse sorgfältig überlegt, und so ist die Verwechselung begreiflich, die Über¬ legung selbst als Unterscheidungsmerkmal zu benutzen, statt des Inhalts dieser Überlegung. Daß die Überlegung aber an sich die Tat noch nicht zu einer gemeinen und ehrlosen macht, dafür ist wohl das klassischste Beispiel Odoardo Galotti. Hat er sich die Tötung seiner Tochter nicht reiflich überlegt? Hat er darum nach unserem Empfinden einen Mord begangen? Nein, sagt der Dichter, er hat nur „eine Rose geknickt, eh' der Sturm sie entblättert". Um bei dem Beispiel der Dichtung zu bleiben, so hat uns Schiller den Gegensatz zwischen der bedienten gemeinen Tat und der Tötung um verzeihlicher Motive willen in seinein Tell aufs deutlichste zum Bewußtsein gebracht, indem er dem gewiß auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/537>, abgerufen am 23.07.2024.