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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

worden. Auch Liszt hat in seiner Abhandlung über Tötung und Lebens¬
gefährdung in der Vergleichenden Darstellung des Deutschen und Ausländischen
Strafrechts gegen diese Unterscheidung mit den schärfsten und meines Erachtens
zwingenden Ausführungen Stellung genommen. Wenn der Entwurf gleichwohl
bei der alten Unterscheidung verharrt, so setzt er sich natürlich mit Liszt und
den anderen Gegnern auseinander, aber dies meines Erachtens nicht in über¬
zeugender Weise. Der Vorentwurf hält den Begriff der mit Überlegung aus¬
geführten Tötung nicht für unklar; denn unter einer mit Überlegung ausgeführten
Tat verstehe man allgemein eine solche, die sich als das Ergebnis einer auf
Abwägung des "Für" und "Wider" gerichteten Verstandestätigkeit darstellt. --
Aber dies ist doch nur die eine Theorie für die Erklärung des Begriffs der
Überlegung bei der Tötung, wie Binding diese ausgedrückt hat: "Die Über¬
legung bezieht sich nicht wesentlich auf die Mittel der Tötung, sondern auf das
Gewicht der Abhaltungsgründe". Eine zweite Theorie legt das Schwergewicht
für Feststellung der Überlegung in das planmäßige Handeln, die Klarheit über
Mittel und Wege der Ausführung des Verbrechens. Eine dritte Theorie erklärt
die von der ersten und zweiten betonten Gesichtspunkte für untrennbar: wenn
eine Tat nach allen Richtungen hin überlegt werden soll, wenn die Gründe
und Gegengründe sachlich geprüft werden sollen, so sei dies gar nicht möglich
ohne ein Nachdenken auch über Mittel und Wege zur Ausführung der Tat.
Nun vergegenwärtige man sich, daß das Delikt der vorsätzlichen Tötung zur
Zuständigkeit der Geschworenengerichte gehört, daß also der Vorsitzende des
Schwurgerichts in die Zwangslage kommt, den Geschworenen eine Rechts¬
belehrung über den Begriff der Überlegung zu halten. Der Verteidiger hat
vorher eine der drei Theorien vertreten, vielleicht die, welche dein Angeklagten
die günstigste ist, soll der Vorsitzende nun nur die Theorie vortragen, welche
zufällig seiner wissenschaftlichen Überzeugung entspricht, oder soll er sie alle drei
vortragen und den hilflosen Geschworenen die Wahl lassen, ob sie sich sür
Frank und Binding oder für Holtzendorff oder für Liszt entscheiden wollen?
Weiter ist streitig, ob die Überlegung ein konstitutives Begriffsmerkmal des
Mordes oder ein persönlicher Umstand ist. Danach gestaltet sich ganz ver¬
schieden die Beurteilung der Teilnehmer an einen: Morde, die ohne Überlegung
gehandelt haben, und der Teilnehmer an dem Totschlag, die mit Überlegung
gehandelt haben. Sollten diese Kontroversen, für deren Lösung uns Wissen¬
schaft wie Rechtsprechung im Stich lassen, nicht allein schon ein Grund sein,
das bisherige Unterscheidungsmerkmal zwischen Mord und Totschlag in ein
neues Gesetz nicht wieder aufzunehmen?

Aber der Vorentwurf meint, ein anderes Merkmal lasse sich nicht finden,
die Kasuistik des schweizerischen Entwurfs und der Vorschlag Liszts, ein generelles
Tötungsdelikt zu schaffen und die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag
überhaupt aufzugeben, seien als ungeeignet zu verwerfen. Zudem stellten reget-



") Band V des Besonderen Teils, S. 1 ff.
Kritische Aufsätze

worden. Auch Liszt hat in seiner Abhandlung über Tötung und Lebens¬
gefährdung in der Vergleichenden Darstellung des Deutschen und Ausländischen
Strafrechts gegen diese Unterscheidung mit den schärfsten und meines Erachtens
zwingenden Ausführungen Stellung genommen. Wenn der Entwurf gleichwohl
bei der alten Unterscheidung verharrt, so setzt er sich natürlich mit Liszt und
den anderen Gegnern auseinander, aber dies meines Erachtens nicht in über¬
zeugender Weise. Der Vorentwurf hält den Begriff der mit Überlegung aus¬
geführten Tötung nicht für unklar; denn unter einer mit Überlegung ausgeführten
Tat verstehe man allgemein eine solche, die sich als das Ergebnis einer auf
Abwägung des „Für" und „Wider" gerichteten Verstandestätigkeit darstellt. —
Aber dies ist doch nur die eine Theorie für die Erklärung des Begriffs der
Überlegung bei der Tötung, wie Binding diese ausgedrückt hat: „Die Über¬
legung bezieht sich nicht wesentlich auf die Mittel der Tötung, sondern auf das
Gewicht der Abhaltungsgründe". Eine zweite Theorie legt das Schwergewicht
für Feststellung der Überlegung in das planmäßige Handeln, die Klarheit über
Mittel und Wege der Ausführung des Verbrechens. Eine dritte Theorie erklärt
die von der ersten und zweiten betonten Gesichtspunkte für untrennbar: wenn
eine Tat nach allen Richtungen hin überlegt werden soll, wenn die Gründe
und Gegengründe sachlich geprüft werden sollen, so sei dies gar nicht möglich
ohne ein Nachdenken auch über Mittel und Wege zur Ausführung der Tat.
Nun vergegenwärtige man sich, daß das Delikt der vorsätzlichen Tötung zur
Zuständigkeit der Geschworenengerichte gehört, daß also der Vorsitzende des
Schwurgerichts in die Zwangslage kommt, den Geschworenen eine Rechts¬
belehrung über den Begriff der Überlegung zu halten. Der Verteidiger hat
vorher eine der drei Theorien vertreten, vielleicht die, welche dein Angeklagten
die günstigste ist, soll der Vorsitzende nun nur die Theorie vortragen, welche
zufällig seiner wissenschaftlichen Überzeugung entspricht, oder soll er sie alle drei
vortragen und den hilflosen Geschworenen die Wahl lassen, ob sie sich sür
Frank und Binding oder für Holtzendorff oder für Liszt entscheiden wollen?
Weiter ist streitig, ob die Überlegung ein konstitutives Begriffsmerkmal des
Mordes oder ein persönlicher Umstand ist. Danach gestaltet sich ganz ver¬
schieden die Beurteilung der Teilnehmer an einen: Morde, die ohne Überlegung
gehandelt haben, und der Teilnehmer an dem Totschlag, die mit Überlegung
gehandelt haben. Sollten diese Kontroversen, für deren Lösung uns Wissen¬
schaft wie Rechtsprechung im Stich lassen, nicht allein schon ein Grund sein,
das bisherige Unterscheidungsmerkmal zwischen Mord und Totschlag in ein
neues Gesetz nicht wieder aufzunehmen?

Aber der Vorentwurf meint, ein anderes Merkmal lasse sich nicht finden,
die Kasuistik des schweizerischen Entwurfs und der Vorschlag Liszts, ein generelles
Tötungsdelikt zu schaffen und die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag
überhaupt aufzugeben, seien als ungeeignet zu verwerfen. Zudem stellten reget-



") Band V des Besonderen Teils, S. 1 ff.
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[0536] Kritische Aufsätze worden. Auch Liszt hat in seiner Abhandlung über Tötung und Lebens¬ gefährdung in der Vergleichenden Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts gegen diese Unterscheidung mit den schärfsten und meines Erachtens zwingenden Ausführungen Stellung genommen. Wenn der Entwurf gleichwohl bei der alten Unterscheidung verharrt, so setzt er sich natürlich mit Liszt und den anderen Gegnern auseinander, aber dies meines Erachtens nicht in über¬ zeugender Weise. Der Vorentwurf hält den Begriff der mit Überlegung aus¬ geführten Tötung nicht für unklar; denn unter einer mit Überlegung ausgeführten Tat verstehe man allgemein eine solche, die sich als das Ergebnis einer auf Abwägung des „Für" und „Wider" gerichteten Verstandestätigkeit darstellt. — Aber dies ist doch nur die eine Theorie für die Erklärung des Begriffs der Überlegung bei der Tötung, wie Binding diese ausgedrückt hat: „Die Über¬ legung bezieht sich nicht wesentlich auf die Mittel der Tötung, sondern auf das Gewicht der Abhaltungsgründe". Eine zweite Theorie legt das Schwergewicht für Feststellung der Überlegung in das planmäßige Handeln, die Klarheit über Mittel und Wege der Ausführung des Verbrechens. Eine dritte Theorie erklärt die von der ersten und zweiten betonten Gesichtspunkte für untrennbar: wenn eine Tat nach allen Richtungen hin überlegt werden soll, wenn die Gründe und Gegengründe sachlich geprüft werden sollen, so sei dies gar nicht möglich ohne ein Nachdenken auch über Mittel und Wege zur Ausführung der Tat. Nun vergegenwärtige man sich, daß das Delikt der vorsätzlichen Tötung zur Zuständigkeit der Geschworenengerichte gehört, daß also der Vorsitzende des Schwurgerichts in die Zwangslage kommt, den Geschworenen eine Rechts¬ belehrung über den Begriff der Überlegung zu halten. Der Verteidiger hat vorher eine der drei Theorien vertreten, vielleicht die, welche dein Angeklagten die günstigste ist, soll der Vorsitzende nun nur die Theorie vortragen, welche zufällig seiner wissenschaftlichen Überzeugung entspricht, oder soll er sie alle drei vortragen und den hilflosen Geschworenen die Wahl lassen, ob sie sich sür Frank und Binding oder für Holtzendorff oder für Liszt entscheiden wollen? Weiter ist streitig, ob die Überlegung ein konstitutives Begriffsmerkmal des Mordes oder ein persönlicher Umstand ist. Danach gestaltet sich ganz ver¬ schieden die Beurteilung der Teilnehmer an einen: Morde, die ohne Überlegung gehandelt haben, und der Teilnehmer an dem Totschlag, die mit Überlegung gehandelt haben. Sollten diese Kontroversen, für deren Lösung uns Wissen¬ schaft wie Rechtsprechung im Stich lassen, nicht allein schon ein Grund sein, das bisherige Unterscheidungsmerkmal zwischen Mord und Totschlag in ein neues Gesetz nicht wieder aufzunehmen? Aber der Vorentwurf meint, ein anderes Merkmal lasse sich nicht finden, die Kasuistik des schweizerischen Entwurfs und der Vorschlag Liszts, ein generelles Tötungsdelikt zu schaffen und die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag überhaupt aufzugeben, seien als ungeeignet zu verwerfen. Zudem stellten reget- ") Band V des Besonderen Teils, S. 1 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/536>, abgerufen am 23.07.2024.