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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Ich war nach Wien gefahren, ohne einen bestimmten Zweck, ohne daß irgend¬
eine Besorgung mich hingerufen hätte, wohl nur aus kaum bewußter Angst vor
mir selbst und aus Sehnsucht, wieder einmal unter Menschen zu kommen. Und
nun saß ich bei meiner Tante und hatte mit ihr schon eine gute halbe Stunde
von meinen gottseliger Eltern gesprochen und von allerhand Menschen, Tieren und
leblosen Gegenständen, die mit uns und unserer Vergangenheit in irgendeinem
Zusammenhange standen.

Eine Zeitlang blieb es dann still zwischen uns und endlich blickte mich die
Tante aufmerksam, ja beinahe prüfend an.

"Ich verstehe dich eigentlich nicht, Erich --" sagte sie mit einem leisen Kopf-
schütteln.

Es gibt aber nichts Qualvolleres, als wenn einem zu einer Zeit, in der man
sich selbst nicht versteht, auch noch ein anderer zuruft: "Ich verstehe dich nicht!"
Man sieht darin eine Bestätigung der eigenen, geahnten Nichtswürdigkeit und
Bedeutungslosigkeit, und man versinkt noch tiefer in seine Selbstverdammung und
Verzweiflung.

Trotzdem fragte ich mit einer Art von verbissener Rechthaberei:
"Wieso?"

Meine Tante hielt den Blick noch immer auf mich gerichtet.

"Ich begreife nicht, daß du das Leben da draußen auf die Dauer aufhältst."

So lächerlich es auch klingen mag, diese Worte genügten, um mich förmlich
zusammenzureißen. Ich konnte nichts mehr sagen und saß ganz still und geduckt
wie ein Kind, das sich einer Unart überführt sieht und jetzt voll Ergebenheit alle
Vorwürfe und in Gottes Namen auch Prügel abwartet.---

"Du mußt dir ja doch zum Ekel werden!.. . Was machst dn denn eigentlich
die ganze Zeit? . . . Für Bücher hast du ja nie eine besondere Vorliebe gehabt! . . .
Irgendeine Liebhaberei kennst du auch nicht! . . . Was treibst du denn? -- Du wirst
mir doch nicht einreden wollen, daß du dich mit der Bewirtschaftung des Gutes
beschäftigst!"

"Nein."

"Du empfängst einmal in der Woche oder ich weiß nicht wie oft die Berichte
deines Verwalters, und gibst dann Verfügungen und Anordnungen, die dir in den
Mund gelegt werden. Und das ist alles!"

Die Tante hatte recht. Sie war ja einigemal mit dem Exzellenzonkel bei
mir zu Gast gewesen und hatte die ganze Wirtschaft kennen gelernt... Ich schwieg
"och immer.

"Wenn die gottselige Johanna" -- das war meine Mutter -- "sehen könnte,
wie du lebst, sie würde sich im Grabe umdrehen!. . . Wenn du schon nach keiner
ernsten Beschäftigung Verlangen hast, so schau' dich doch wenigstens in der Welt
und unter den Menschen um!... Du warst ja noch nirgends, du hast ja noch
nichts kennen gelernt!... Und je älter du wirst, desto schwerer beweglich wirst
du auch!. . . Wer weiß denn, ob nicht vielleicht doch irgendeine --" die Tante
konnte für das, was ihr vorschwebte, keinen geeigneten Ausdruck finden und
schnalzte ungeduldig mit dem Mittelfinger gegen den Daumen der rechten Hand --
-'- - - ob nicht irgend etwas in dir verborgen liegt, was deinem Leben einen
tieferen Gehalt geben kann, wenn es aufgeweckt wird und Anregung findet!...


Grenzboten III 1910 62
Charakter

Ich war nach Wien gefahren, ohne einen bestimmten Zweck, ohne daß irgend¬
eine Besorgung mich hingerufen hätte, wohl nur aus kaum bewußter Angst vor
mir selbst und aus Sehnsucht, wieder einmal unter Menschen zu kommen. Und
nun saß ich bei meiner Tante und hatte mit ihr schon eine gute halbe Stunde
von meinen gottseliger Eltern gesprochen und von allerhand Menschen, Tieren und
leblosen Gegenständen, die mit uns und unserer Vergangenheit in irgendeinem
Zusammenhange standen.

Eine Zeitlang blieb es dann still zwischen uns und endlich blickte mich die
Tante aufmerksam, ja beinahe prüfend an.

„Ich verstehe dich eigentlich nicht, Erich —" sagte sie mit einem leisen Kopf-
schütteln.

Es gibt aber nichts Qualvolleres, als wenn einem zu einer Zeit, in der man
sich selbst nicht versteht, auch noch ein anderer zuruft: „Ich verstehe dich nicht!"
Man sieht darin eine Bestätigung der eigenen, geahnten Nichtswürdigkeit und
Bedeutungslosigkeit, und man versinkt noch tiefer in seine Selbstverdammung und
Verzweiflung.

Trotzdem fragte ich mit einer Art von verbissener Rechthaberei:
„Wieso?"

Meine Tante hielt den Blick noch immer auf mich gerichtet.

„Ich begreife nicht, daß du das Leben da draußen auf die Dauer aufhältst."

So lächerlich es auch klingen mag, diese Worte genügten, um mich förmlich
zusammenzureißen. Ich konnte nichts mehr sagen und saß ganz still und geduckt
wie ein Kind, das sich einer Unart überführt sieht und jetzt voll Ergebenheit alle
Vorwürfe und in Gottes Namen auch Prügel abwartet.---

„Du mußt dir ja doch zum Ekel werden!.. . Was machst dn denn eigentlich
die ganze Zeit? . . . Für Bücher hast du ja nie eine besondere Vorliebe gehabt! . . .
Irgendeine Liebhaberei kennst du auch nicht! . . . Was treibst du denn? — Du wirst
mir doch nicht einreden wollen, daß du dich mit der Bewirtschaftung des Gutes
beschäftigst!"

„Nein."

„Du empfängst einmal in der Woche oder ich weiß nicht wie oft die Berichte
deines Verwalters, und gibst dann Verfügungen und Anordnungen, die dir in den
Mund gelegt werden. Und das ist alles!"

Die Tante hatte recht. Sie war ja einigemal mit dem Exzellenzonkel bei
mir zu Gast gewesen und hatte die ganze Wirtschaft kennen gelernt... Ich schwieg
"och immer.

„Wenn die gottselige Johanna" — das war meine Mutter — „sehen könnte,
wie du lebst, sie würde sich im Grabe umdrehen!. . . Wenn du schon nach keiner
ernsten Beschäftigung Verlangen hast, so schau' dich doch wenigstens in der Welt
und unter den Menschen um!... Du warst ja noch nirgends, du hast ja noch
nichts kennen gelernt!... Und je älter du wirst, desto schwerer beweglich wirst
du auch!. . . Wer weiß denn, ob nicht vielleicht doch irgendeine —" die Tante
konnte für das, was ihr vorschwebte, keinen geeigneten Ausdruck finden und
schnalzte ungeduldig mit dem Mittelfinger gegen den Daumen der rechten Hand —
-'- - - ob nicht irgend etwas in dir verborgen liegt, was deinem Leben einen
tieferen Gehalt geben kann, wenn es aufgeweckt wird und Anregung findet!...


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/501>, abgerufen am 23.07.2024.