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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Zur Reform der preußischen Rreisverfassung

bilden soll. Der Text der Kreisordnung gibt hierfür jedoch keinen Anhaltspunkt.
Im Gegenteil ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber diese Absicht nicht gehabt
hat, da er sonst wie im Z 89 der Kreisordnung die "letzte allgemeine Volks¬
zählung" ausdrücklich als bestimmendes Moment genannt haben würde. Auch
auf konservativer Seite hält man eine Änderung der Bestimmungen der Kreis¬
ordnung über das Ausscheiden der Städte aus den Kreisverbänden für notwendig,
jedoch in der Richtung, daß das Ausscheiden noch mehr erschwert wird; man
spricht davon, daß von konservativer Seite gefordert werde, als Voraussetzung
für die Verselbständigung der Städte eine Einwohnerzahl von mindestens
50 000 Seelen festzusetzen.

Der Deutsche Handelstag hat nun, unbeirrt vou der Parteien Gunst und
Haß, eine Reihe von Vorschlägen") zur Änderung der Kreisverfassung gemacht,
die er als die Gesamtvertretung von Industrie und Handel Deutschlands und
zwar im Rahmen der Interessen der Allgemeinheit zu machen sich verpflichtet
hält. Nach diesen Vorschlägen soll zunächst die Zahl der Kreistagsabgeordneten
zwischen dem Wahlverband der Städte einerseits und den Wahlverbänden der
größeren ländlichen Grundbesitzer und der Landgemeinden anderseits statt wie
bisher nach der Bevölkerungsziffer nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 1 Satz 1). Im Zusammenhang damit soll ferner die Zahl der
Kreistagsabgeordneten innerhalb des Wahlverbandes der größeren ländlichen
Grundbesitzer zwischen den Grundbesitzern und den Gewerbetreibenden, innerhalb
des Wahlverbandes der Landgemeinden zwischen den Landgemeinden, den Grund¬
besitzern und den Gewerbetreibenden nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 2).

Ehe wir auf die speziellen Einwände der Regierung gegen diesen
Vorschlag eingehen, sei hier kurz die Auffassung der Regierung"") über eine
Reformbedürftigkeit der Kreisordnung eingeflochten. Danach betrachtet die Staats¬
regierung die Kreisordnungen und die Provinzialordnungen als Verfassungs¬
gesetze, die für die Kommunen von ähnlicher Bedeutung seien wie die Verfassung
für den Staat und das Reich. Nach diesem grundsätzlichen Standpunkt könne
die Regierung an eine Änderung dieser Verfassungsgesetze nicht ohne zwingende
Gründe herantreten, und sie werde sich um so weniger dazu entschließen können,
wenn so verschiedenartige sich entgegenlaufende Änderungswünsche laut würden.
Nachdem die Regierung gegen die starken Widerstände der Anhänger des patn-
monialen Staatsverwaltungssystems die Kreisordnung als eine liberale Errungen¬
schaft durchgesetzt habe, sei es Sache der einzelnen Berufsstände, sich darin




*) Vergl. Bericht über die Sitzung des Ausschusses des Deutschen HandelstagS vom
15. und 16. März 1910. Die Vorschläge beziehen sich auf die Preußische Kreisordnung für
die Ostprovinzen vom 13. Dezember 1872 (19. März 1881) und sind auf die Kreisordnungen
für die übrigen Provinzen entsprechend anzuwenden.
Als Auffassung der Regierung bezeichnen wir hier die Äußerungen des Vertreters
des Ministers des Innern in der Gemeinderommission des Abgeordnetenhauses und in der
Sondertommisswn des Deutschen HandelstngS betr. die KreiSordnung.
Zur Reform der preußischen Rreisverfassung

bilden soll. Der Text der Kreisordnung gibt hierfür jedoch keinen Anhaltspunkt.
Im Gegenteil ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber diese Absicht nicht gehabt
hat, da er sonst wie im Z 89 der Kreisordnung die „letzte allgemeine Volks¬
zählung" ausdrücklich als bestimmendes Moment genannt haben würde. Auch
auf konservativer Seite hält man eine Änderung der Bestimmungen der Kreis¬
ordnung über das Ausscheiden der Städte aus den Kreisverbänden für notwendig,
jedoch in der Richtung, daß das Ausscheiden noch mehr erschwert wird; man
spricht davon, daß von konservativer Seite gefordert werde, als Voraussetzung
für die Verselbständigung der Städte eine Einwohnerzahl von mindestens
50 000 Seelen festzusetzen.

Der Deutsche Handelstag hat nun, unbeirrt vou der Parteien Gunst und
Haß, eine Reihe von Vorschlägen") zur Änderung der Kreisverfassung gemacht,
die er als die Gesamtvertretung von Industrie und Handel Deutschlands und
zwar im Rahmen der Interessen der Allgemeinheit zu machen sich verpflichtet
hält. Nach diesen Vorschlägen soll zunächst die Zahl der Kreistagsabgeordneten
zwischen dem Wahlverband der Städte einerseits und den Wahlverbänden der
größeren ländlichen Grundbesitzer und der Landgemeinden anderseits statt wie
bisher nach der Bevölkerungsziffer nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 1 Satz 1). Im Zusammenhang damit soll ferner die Zahl der
Kreistagsabgeordneten innerhalb des Wahlverbandes der größeren ländlichen
Grundbesitzer zwischen den Grundbesitzern und den Gewerbetreibenden, innerhalb
des Wahlverbandes der Landgemeinden zwischen den Landgemeinden, den Grund¬
besitzern und den Gewerbetreibenden nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 2).

Ehe wir auf die speziellen Einwände der Regierung gegen diesen
Vorschlag eingehen, sei hier kurz die Auffassung der Regierung"") über eine
Reformbedürftigkeit der Kreisordnung eingeflochten. Danach betrachtet die Staats¬
regierung die Kreisordnungen und die Provinzialordnungen als Verfassungs¬
gesetze, die für die Kommunen von ähnlicher Bedeutung seien wie die Verfassung
für den Staat und das Reich. Nach diesem grundsätzlichen Standpunkt könne
die Regierung an eine Änderung dieser Verfassungsgesetze nicht ohne zwingende
Gründe herantreten, und sie werde sich um so weniger dazu entschließen können,
wenn so verschiedenartige sich entgegenlaufende Änderungswünsche laut würden.
Nachdem die Regierung gegen die starken Widerstände der Anhänger des patn-
monialen Staatsverwaltungssystems die Kreisordnung als eine liberale Errungen¬
schaft durchgesetzt habe, sei es Sache der einzelnen Berufsstände, sich darin




*) Vergl. Bericht über die Sitzung des Ausschusses des Deutschen HandelstagS vom
15. und 16. März 1910. Die Vorschläge beziehen sich auf die Preußische Kreisordnung für
die Ostprovinzen vom 13. Dezember 1872 (19. März 1881) und sind auf die Kreisordnungen
für die übrigen Provinzen entsprechend anzuwenden.
Als Auffassung der Regierung bezeichnen wir hier die Äußerungen des Vertreters
des Ministers des Innern in der Gemeinderommission des Abgeordnetenhauses und in der
Sondertommisswn des Deutschen HandelstngS betr. die KreiSordnung.
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[0480] Zur Reform der preußischen Rreisverfassung bilden soll. Der Text der Kreisordnung gibt hierfür jedoch keinen Anhaltspunkt. Im Gegenteil ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber diese Absicht nicht gehabt hat, da er sonst wie im Z 89 der Kreisordnung die „letzte allgemeine Volks¬ zählung" ausdrücklich als bestimmendes Moment genannt haben würde. Auch auf konservativer Seite hält man eine Änderung der Bestimmungen der Kreis¬ ordnung über das Ausscheiden der Städte aus den Kreisverbänden für notwendig, jedoch in der Richtung, daß das Ausscheiden noch mehr erschwert wird; man spricht davon, daß von konservativer Seite gefordert werde, als Voraussetzung für die Verselbständigung der Städte eine Einwohnerzahl von mindestens 50 000 Seelen festzusetzen. Der Deutsche Handelstag hat nun, unbeirrt vou der Parteien Gunst und Haß, eine Reihe von Vorschlägen") zur Änderung der Kreisverfassung gemacht, die er als die Gesamtvertretung von Industrie und Handel Deutschlands und zwar im Rahmen der Interessen der Allgemeinheit zu machen sich verpflichtet hält. Nach diesen Vorschlägen soll zunächst die Zahl der Kreistagsabgeordneten zwischen dem Wahlverband der Städte einerseits und den Wahlverbänden der größeren ländlichen Grundbesitzer und der Landgemeinden anderseits statt wie bisher nach der Bevölkerungsziffer nach der Steuerleistung verteilt werden (Z 89 Ur. 1 Satz 1). Im Zusammenhang damit soll ferner die Zahl der Kreistagsabgeordneten innerhalb des Wahlverbandes der größeren ländlichen Grundbesitzer zwischen den Grundbesitzern und den Gewerbetreibenden, innerhalb des Wahlverbandes der Landgemeinden zwischen den Landgemeinden, den Grund¬ besitzern und den Gewerbetreibenden nach der Steuerleistung verteilt werden (Z 89 Ur. 2). Ehe wir auf die speziellen Einwände der Regierung gegen diesen Vorschlag eingehen, sei hier kurz die Auffassung der Regierung"") über eine Reformbedürftigkeit der Kreisordnung eingeflochten. Danach betrachtet die Staats¬ regierung die Kreisordnungen und die Provinzialordnungen als Verfassungs¬ gesetze, die für die Kommunen von ähnlicher Bedeutung seien wie die Verfassung für den Staat und das Reich. Nach diesem grundsätzlichen Standpunkt könne die Regierung an eine Änderung dieser Verfassungsgesetze nicht ohne zwingende Gründe herantreten, und sie werde sich um so weniger dazu entschließen können, wenn so verschiedenartige sich entgegenlaufende Änderungswünsche laut würden. Nachdem die Regierung gegen die starken Widerstände der Anhänger des patn- monialen Staatsverwaltungssystems die Kreisordnung als eine liberale Errungen¬ schaft durchgesetzt habe, sei es Sache der einzelnen Berufsstände, sich darin *) Vergl. Bericht über die Sitzung des Ausschusses des Deutschen HandelstagS vom 15. und 16. März 1910. Die Vorschläge beziehen sich auf die Preußische Kreisordnung für die Ostprovinzen vom 13. Dezember 1872 (19. März 1881) und sind auf die Kreisordnungen für die übrigen Provinzen entsprechend anzuwenden. Als Auffassung der Regierung bezeichnen wir hier die Äußerungen des Vertreters des Ministers des Innern in der Gemeinderommission des Abgeordnetenhauses und in der Sondertommisswn des Deutschen HandelstngS betr. die KreiSordnung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/480>, abgerufen am 26.08.2024.