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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Agnes lNiegel

Als Agnes Miegel auftrat, erschien ihre Kunst sofort so reif, daß man zu
der Frage kam, ob sie einer weitern Entwicklung noch fähig sein würde. Mir
scheint, sie hat diesen Beweis voll erbracht. Sie hat in dem zweiten Band in
der Verfeinerung des Ausdrucks, in der Vertiefung der Empfindung noch über
das hinaus gedeutet, was ihre ersten jungen Gaben brachten, hat auch in der
Abtönung des Verses noch zugelernt.

So taucht ihr ein altes Kinderlied wieder empor, wie ihr das Bild der
Winterheimat an einem Frühlingstag in andrer Welt vor Altgen steht:

Und wie eine Krönung des Baus wirkt es, wenn wir diese Dichterin aus
den abgeleierten Versen eines vielgesungenen Gassenhauers noch das Letzte heraus¬
holen sehn, bezeichnend dafür, wie in der rechten Hand alles zu Golde wird:

Im Kamine heisz und rot
Glühn und knistern noch die Kohlen,
Und mit geisterhaften, hohlen
Stimmen singt der Wind im Schlot.
In den Sessel hingeschmicgt, -
Seh' ich über dunkeln Gassen,
Wie mit zitternd stcrncblassen
Schwingen hoch der Adler fliegt.
Und in meine Träumerei
Klingt von draußen fern und leise
Eine oft gesung'ne Weise --
Ach, in Deutschland war's im Mai,
In der Großstadt Lärm und Braus
War's, zur Zeit der ersten Blüten,
Durch die staubigen, durchglühten
Straßen klang's engem, tagaus:
Zwei schwarze Augen,
Ein purpurner Mund...
Laut und leise tausendmal
Hab' ich's damals mitgesungen;
Mit den Geigen, windverklungen,
Suma' ich's heute noch einmal.
Alles fällt mir wieder ein,
Räderrollen, tausend Wagen,
Angst und Freude und Verzagen --
Du warst spät beim Stelldichein . ..

Agnes lNiegel

Als Agnes Miegel auftrat, erschien ihre Kunst sofort so reif, daß man zu
der Frage kam, ob sie einer weitern Entwicklung noch fähig sein würde. Mir
scheint, sie hat diesen Beweis voll erbracht. Sie hat in dem zweiten Band in
der Verfeinerung des Ausdrucks, in der Vertiefung der Empfindung noch über
das hinaus gedeutet, was ihre ersten jungen Gaben brachten, hat auch in der
Abtönung des Verses noch zugelernt.

So taucht ihr ein altes Kinderlied wieder empor, wie ihr das Bild der
Winterheimat an einem Frühlingstag in andrer Welt vor Altgen steht:

Und wie eine Krönung des Baus wirkt es, wenn wir diese Dichterin aus
den abgeleierten Versen eines vielgesungenen Gassenhauers noch das Letzte heraus¬
holen sehn, bezeichnend dafür, wie in der rechten Hand alles zu Golde wird:

Im Kamine heisz und rot
Glühn und knistern noch die Kohlen,
Und mit geisterhaften, hohlen
Stimmen singt der Wind im Schlot.
In den Sessel hingeschmicgt, -
Seh' ich über dunkeln Gassen,
Wie mit zitternd stcrncblassen
Schwingen hoch der Adler fliegt.
Und in meine Träumerei
Klingt von draußen fern und leise
Eine oft gesung'ne Weise —
Ach, in Deutschland war's im Mai,
In der Großstadt Lärm und Braus
War's, zur Zeit der ersten Blüten,
Durch die staubigen, durchglühten
Straßen klang's engem, tagaus:
Zwei schwarze Augen,
Ein purpurner Mund...
Laut und leise tausendmal
Hab' ich's damals mitgesungen;
Mit den Geigen, windverklungen,
Suma' ich's heute noch einmal.
Alles fällt mir wieder ein,
Räderrollen, tausend Wagen,
Angst und Freude und Verzagen —
Du warst spät beim Stelldichein . ..

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[0456] Agnes lNiegel Als Agnes Miegel auftrat, erschien ihre Kunst sofort so reif, daß man zu der Frage kam, ob sie einer weitern Entwicklung noch fähig sein würde. Mir scheint, sie hat diesen Beweis voll erbracht. Sie hat in dem zweiten Band in der Verfeinerung des Ausdrucks, in der Vertiefung der Empfindung noch über das hinaus gedeutet, was ihre ersten jungen Gaben brachten, hat auch in der Abtönung des Verses noch zugelernt. So taucht ihr ein altes Kinderlied wieder empor, wie ihr das Bild der Winterheimat an einem Frühlingstag in andrer Welt vor Altgen steht: Und wie eine Krönung des Baus wirkt es, wenn wir diese Dichterin aus den abgeleierten Versen eines vielgesungenen Gassenhauers noch das Letzte heraus¬ holen sehn, bezeichnend dafür, wie in der rechten Hand alles zu Golde wird: Im Kamine heisz und rot Glühn und knistern noch die Kohlen, Und mit geisterhaften, hohlen Stimmen singt der Wind im Schlot. In den Sessel hingeschmicgt, - Seh' ich über dunkeln Gassen, Wie mit zitternd stcrncblassen Schwingen hoch der Adler fliegt. Und in meine Träumerei Klingt von draußen fern und leise Eine oft gesung'ne Weise — Ach, in Deutschland war's im Mai, In der Großstadt Lärm und Braus War's, zur Zeit der ersten Blüten, Durch die staubigen, durchglühten Straßen klang's engem, tagaus: Zwei schwarze Augen, Ein purpurner Mund... Laut und leise tausendmal Hab' ich's damals mitgesungen; Mit den Geigen, windverklungen, Suma' ich's heute noch einmal. Alles fällt mir wieder ein, Räderrollen, tausend Wagen, Angst und Freude und Verzagen — Du warst spät beim Stelldichein . ..

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/456>, abgerufen am 23.07.2024.