Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das neue vcrsichcrungsrccht

Zeugnisses wieder in Kraft gesetzt werden. Vorauszahlungen auf das Versicherungs¬
kapital finden nicht statt; jedoch wandelt sich nach dreijährigem Bestehen auch
hier im Falle der Einstellung der Prämienzahlung die Versicherung in eine
prämienfreie Versicherung mit entsprechend herabgesetzten Versicherungskapital
um. An Stelle der ärztlichen Untersuchung tritt eine Karenzzeit: stirbt der
Versicherte im ersten Versicherungsjahr, so werden nur die geleisteten
Prämien zurückgezahlt; stirbt der Versicherte im zweiten Jahr, so wird die
Versicherungssumme nur zur Hälfte gezahlt; wird der Tod durch Unfall herbei¬
geführt, so wird auch in den beiden ersten Jahren die Versicherungssumme voll
bezahlt; zum Teil wird das gleiche auch für gewisse Krankheiten bestimmt. Auch
die Volksversicherung kennt die Gewinnbeteiligung der Versicherten.

Die Volksoersicherung tritt vielfach als gemischte Versicherung auf, d. h. das
versicherte Kapital wird nicht nur beim Tode des Versicherten, sondern auch nach
Ablauf eines bestimmten Zeitraums gezahlt; namentlich gilt dies bei den weit
verbreiteten Kinderversicheruugen. In dieser Form ist die Volksversicherung im
wesentlichen eine Sparkasseneinrichtung. Der Nachteil liegt hierbei in der über¬
großen Zahl verfallender Versicherungen und in der Höhe der Verwaltungskostsu;
es sind wie bekannt unzählige Verbesserungs- und Reformvorschläge aufgetaucht,
ohne daß man bisher ein Mittel gefunden hätte, diese Nachteile wirklich zu
vermeiden. Die Volksversicherung bietet, wenn man sich die Sache genau auf¬
rechnet, dem Versicherten eine geringere Verzinsung als die unmittelbare zinsbare
Anlage der gleichen Beträge bei einer Sparkasse. Dieser Nachteil wird aber
aufgewogen durch den wohltätigen Sparzwang, der bisher trotz aller Versuche
durch nichts ähnliches hat ersetzt werden können.

Die gleiche Entwicklung ist durch die ganze Welt gegangen. Entstanden
ist die Volksversicherung in England und bezeichnenderweise hat der Privatbetrieb
dort seinen Hauptaufschwuug genommen, als man mit Maßregeln umging, die
ganze Sache zu verstaatlichen. Von England ist sie nach Amerika übergegangen,
wo 1907 nicht weniger als zehn Milliarden Mark auf Volksoersicherungsscheine
versichert sein sollen; nach Deutschland ist die Volksversicherung dann auf dem
Umwege über Österreich gekommen und hat bei uns seit 1892 ein rapides
Wachstum angenommen, als sich die bekannte Versicherungsgesellschaft Viktoria
der Sache bemächtigte. Für Ende 1907 wird in Deutschland ein Bestand von
K 099 351 Volksversicherungspolicen angenommen, deren Durchschnittsbetrag sich
etwa auf 179 Mark stellt. Man hat berechnet, daß mindestens ein Viertel der
Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs in der einen oder andern Weise, wenn
auch nur als Ehefrau oder Kind eines Versicherten, an einer Volksversichcrung
interessiert sei und so ist die Volksoersichernng bei all ihrer Jugend eines der
markantesten Beispiele der modernen allseitigen Verbreitung des Versicherungs¬
gedankens.

Zu dieser Verbreitung des Versicherungsgedankens wird auch die Ver¬
breitung von Rechtskenntnissen über das Versicherungswesen ein gutes Teil


Das neue vcrsichcrungsrccht

Zeugnisses wieder in Kraft gesetzt werden. Vorauszahlungen auf das Versicherungs¬
kapital finden nicht statt; jedoch wandelt sich nach dreijährigem Bestehen auch
hier im Falle der Einstellung der Prämienzahlung die Versicherung in eine
prämienfreie Versicherung mit entsprechend herabgesetzten Versicherungskapital
um. An Stelle der ärztlichen Untersuchung tritt eine Karenzzeit: stirbt der
Versicherte im ersten Versicherungsjahr, so werden nur die geleisteten
Prämien zurückgezahlt; stirbt der Versicherte im zweiten Jahr, so wird die
Versicherungssumme nur zur Hälfte gezahlt; wird der Tod durch Unfall herbei¬
geführt, so wird auch in den beiden ersten Jahren die Versicherungssumme voll
bezahlt; zum Teil wird das gleiche auch für gewisse Krankheiten bestimmt. Auch
die Volksversicherung kennt die Gewinnbeteiligung der Versicherten.

Die Volksoersicherung tritt vielfach als gemischte Versicherung auf, d. h. das
versicherte Kapital wird nicht nur beim Tode des Versicherten, sondern auch nach
Ablauf eines bestimmten Zeitraums gezahlt; namentlich gilt dies bei den weit
verbreiteten Kinderversicheruugen. In dieser Form ist die Volksversicherung im
wesentlichen eine Sparkasseneinrichtung. Der Nachteil liegt hierbei in der über¬
großen Zahl verfallender Versicherungen und in der Höhe der Verwaltungskostsu;
es sind wie bekannt unzählige Verbesserungs- und Reformvorschläge aufgetaucht,
ohne daß man bisher ein Mittel gefunden hätte, diese Nachteile wirklich zu
vermeiden. Die Volksversicherung bietet, wenn man sich die Sache genau auf¬
rechnet, dem Versicherten eine geringere Verzinsung als die unmittelbare zinsbare
Anlage der gleichen Beträge bei einer Sparkasse. Dieser Nachteil wird aber
aufgewogen durch den wohltätigen Sparzwang, der bisher trotz aller Versuche
durch nichts ähnliches hat ersetzt werden können.

Die gleiche Entwicklung ist durch die ganze Welt gegangen. Entstanden
ist die Volksversicherung in England und bezeichnenderweise hat der Privatbetrieb
dort seinen Hauptaufschwuug genommen, als man mit Maßregeln umging, die
ganze Sache zu verstaatlichen. Von England ist sie nach Amerika übergegangen,
wo 1907 nicht weniger als zehn Milliarden Mark auf Volksoersicherungsscheine
versichert sein sollen; nach Deutschland ist die Volksversicherung dann auf dem
Umwege über Österreich gekommen und hat bei uns seit 1892 ein rapides
Wachstum angenommen, als sich die bekannte Versicherungsgesellschaft Viktoria
der Sache bemächtigte. Für Ende 1907 wird in Deutschland ein Bestand von
K 099 351 Volksversicherungspolicen angenommen, deren Durchschnittsbetrag sich
etwa auf 179 Mark stellt. Man hat berechnet, daß mindestens ein Viertel der
Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs in der einen oder andern Weise, wenn
auch nur als Ehefrau oder Kind eines Versicherten, an einer Volksversichcrung
interessiert sei und so ist die Volksoersichernng bei all ihrer Jugend eines der
markantesten Beispiele der modernen allseitigen Verbreitung des Versicherungs¬
gedankens.

Zu dieser Verbreitung des Versicherungsgedankens wird auch die Ver¬
breitung von Rechtskenntnissen über das Versicherungswesen ein gutes Teil


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316636"/>
            <fw type="header" place="top"> Das neue vcrsichcrungsrccht</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1499" prev="#ID_1498"> Zeugnisses wieder in Kraft gesetzt werden. Vorauszahlungen auf das Versicherungs¬<lb/>
kapital finden nicht statt; jedoch wandelt sich nach dreijährigem Bestehen auch<lb/>
hier im Falle der Einstellung der Prämienzahlung die Versicherung in eine<lb/>
prämienfreie Versicherung mit entsprechend herabgesetzten Versicherungskapital<lb/>
um. An Stelle der ärztlichen Untersuchung tritt eine Karenzzeit: stirbt der<lb/>
Versicherte im ersten Versicherungsjahr, so werden nur die geleisteten<lb/>
Prämien zurückgezahlt; stirbt der Versicherte im zweiten Jahr, so wird die<lb/>
Versicherungssumme nur zur Hälfte gezahlt; wird der Tod durch Unfall herbei¬<lb/>
geführt, so wird auch in den beiden ersten Jahren die Versicherungssumme voll<lb/>
bezahlt; zum Teil wird das gleiche auch für gewisse Krankheiten bestimmt. Auch<lb/>
die Volksversicherung kennt die Gewinnbeteiligung der Versicherten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1500"> Die Volksoersicherung tritt vielfach als gemischte Versicherung auf, d. h. das<lb/>
versicherte Kapital wird nicht nur beim Tode des Versicherten, sondern auch nach<lb/>
Ablauf eines bestimmten Zeitraums gezahlt; namentlich gilt dies bei den weit<lb/>
verbreiteten Kinderversicheruugen. In dieser Form ist die Volksversicherung im<lb/>
wesentlichen eine Sparkasseneinrichtung. Der Nachteil liegt hierbei in der über¬<lb/>
großen Zahl verfallender Versicherungen und in der Höhe der Verwaltungskostsu;<lb/>
es sind wie bekannt unzählige Verbesserungs- und Reformvorschläge aufgetaucht,<lb/>
ohne daß man bisher ein Mittel gefunden hätte, diese Nachteile wirklich zu<lb/>
vermeiden. Die Volksversicherung bietet, wenn man sich die Sache genau auf¬<lb/>
rechnet, dem Versicherten eine geringere Verzinsung als die unmittelbare zinsbare<lb/>
Anlage der gleichen Beträge bei einer Sparkasse. Dieser Nachteil wird aber<lb/>
aufgewogen durch den wohltätigen Sparzwang, der bisher trotz aller Versuche<lb/>
durch nichts ähnliches hat ersetzt werden können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1501"> Die gleiche Entwicklung ist durch die ganze Welt gegangen. Entstanden<lb/>
ist die Volksversicherung in England und bezeichnenderweise hat der Privatbetrieb<lb/>
dort seinen Hauptaufschwuug genommen, als man mit Maßregeln umging, die<lb/>
ganze Sache zu verstaatlichen. Von England ist sie nach Amerika übergegangen,<lb/>
wo 1907 nicht weniger als zehn Milliarden Mark auf Volksoersicherungsscheine<lb/>
versichert sein sollen; nach Deutschland ist die Volksversicherung dann auf dem<lb/>
Umwege über Österreich gekommen und hat bei uns seit 1892 ein rapides<lb/>
Wachstum angenommen, als sich die bekannte Versicherungsgesellschaft Viktoria<lb/>
der Sache bemächtigte. Für Ende 1907 wird in Deutschland ein Bestand von<lb/>
K 099 351 Volksversicherungspolicen angenommen, deren Durchschnittsbetrag sich<lb/>
etwa auf 179 Mark stellt. Man hat berechnet, daß mindestens ein Viertel der<lb/>
Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs in der einen oder andern Weise, wenn<lb/>
auch nur als Ehefrau oder Kind eines Versicherten, an einer Volksversichcrung<lb/>
interessiert sei und so ist die Volksoersichernng bei all ihrer Jugend eines der<lb/>
markantesten Beispiele der modernen allseitigen Verbreitung des Versicherungs¬<lb/>
gedankens.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1502" next="#ID_1503"> Zu dieser Verbreitung des Versicherungsgedankens wird auch die Ver¬<lb/>
breitung von Rechtskenntnissen über das Versicherungswesen ein gutes Teil</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0347] Das neue vcrsichcrungsrccht Zeugnisses wieder in Kraft gesetzt werden. Vorauszahlungen auf das Versicherungs¬ kapital finden nicht statt; jedoch wandelt sich nach dreijährigem Bestehen auch hier im Falle der Einstellung der Prämienzahlung die Versicherung in eine prämienfreie Versicherung mit entsprechend herabgesetzten Versicherungskapital um. An Stelle der ärztlichen Untersuchung tritt eine Karenzzeit: stirbt der Versicherte im ersten Versicherungsjahr, so werden nur die geleisteten Prämien zurückgezahlt; stirbt der Versicherte im zweiten Jahr, so wird die Versicherungssumme nur zur Hälfte gezahlt; wird der Tod durch Unfall herbei¬ geführt, so wird auch in den beiden ersten Jahren die Versicherungssumme voll bezahlt; zum Teil wird das gleiche auch für gewisse Krankheiten bestimmt. Auch die Volksversicherung kennt die Gewinnbeteiligung der Versicherten. Die Volksoersicherung tritt vielfach als gemischte Versicherung auf, d. h. das versicherte Kapital wird nicht nur beim Tode des Versicherten, sondern auch nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums gezahlt; namentlich gilt dies bei den weit verbreiteten Kinderversicheruugen. In dieser Form ist die Volksversicherung im wesentlichen eine Sparkasseneinrichtung. Der Nachteil liegt hierbei in der über¬ großen Zahl verfallender Versicherungen und in der Höhe der Verwaltungskostsu; es sind wie bekannt unzählige Verbesserungs- und Reformvorschläge aufgetaucht, ohne daß man bisher ein Mittel gefunden hätte, diese Nachteile wirklich zu vermeiden. Die Volksversicherung bietet, wenn man sich die Sache genau auf¬ rechnet, dem Versicherten eine geringere Verzinsung als die unmittelbare zinsbare Anlage der gleichen Beträge bei einer Sparkasse. Dieser Nachteil wird aber aufgewogen durch den wohltätigen Sparzwang, der bisher trotz aller Versuche durch nichts ähnliches hat ersetzt werden können. Die gleiche Entwicklung ist durch die ganze Welt gegangen. Entstanden ist die Volksversicherung in England und bezeichnenderweise hat der Privatbetrieb dort seinen Hauptaufschwuug genommen, als man mit Maßregeln umging, die ganze Sache zu verstaatlichen. Von England ist sie nach Amerika übergegangen, wo 1907 nicht weniger als zehn Milliarden Mark auf Volksoersicherungsscheine versichert sein sollen; nach Deutschland ist die Volksversicherung dann auf dem Umwege über Österreich gekommen und hat bei uns seit 1892 ein rapides Wachstum angenommen, als sich die bekannte Versicherungsgesellschaft Viktoria der Sache bemächtigte. Für Ende 1907 wird in Deutschland ein Bestand von K 099 351 Volksversicherungspolicen angenommen, deren Durchschnittsbetrag sich etwa auf 179 Mark stellt. Man hat berechnet, daß mindestens ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs in der einen oder andern Weise, wenn auch nur als Ehefrau oder Kind eines Versicherten, an einer Volksversichcrung interessiert sei und so ist die Volksoersichernng bei all ihrer Jugend eines der markantesten Beispiele der modernen allseitigen Verbreitung des Versicherungs¬ gedankens. Zu dieser Verbreitung des Versicherungsgedankens wird auch die Ver¬ breitung von Rechtskenntnissen über das Versicherungswesen ein gutes Teil

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/347
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/347>, abgerufen am 23.07.2024.