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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Lage der Türkei

der Stärkung der Macht des Sultans entgegenwirken. Dazu kommt, daß England
glaubt, die Konkurrenz Deutschlands, dessen gewaltige Eisenbahn quer durch
Kleinasien seinen wirtschaftlichen Interessen gefährlich ist, bekämpfen zu müssen;
es läßt deshalb kein Mittel unversucht, der wirtschaftlichen Erschließung Klein¬
asiens Hemmnisse zu bereiten. Dort enthüllen sich die ganzen Selbständigkeits¬
bestrebungen der arabischen Stämme als nichts anderes denn als Intrigen
Englands, mit dem unverkennbaren Zweck, der Befestigung der Macht des
Padischah und der Expansion des deutschen Einflusses Schwierigkeiten zu bereiten.

Von Rußland ist eigentümlicherweise in der Streitfrage um Kreta wenig
die Rede gewesen. Aber keineswegs entgeht die türkische Negierung Vorwürfen
wegen ihrer allzu freundlichen Haltung gegen dieses Land, das der Türkei die
schwersten Schläge versetzt hat, und das als alter Erbfeind betrachtet wird.
Man fragt sich auch in der Tat vergebens, was die Türkei von Rußland Gutes
zu erwarten hat, dessen ökonomische Entwicklung in weiten Teilen seines Gebietes
kaum wesentlich fortgeschrittener ist als die der Türkei. Dagegen erkennt man
auf den ersten Blick die Gefahren, die von dieser Seite drohen. Man braucht
nur an den in Sofia veranstalteten panslawistischen Kongreß oder an die immer
wieder zum Durchbruch gelangenden Aspirationen der orthodoxen Russen auf die
Heilige Stadt, des Sitzes des Patriarchats, zu denken. Zudem entpuppt sich
die Freundschaft zu Rußland als von England eingegeben, das ein heuchlerisches
Bündnis mit Rußland unterhält, um es um so besser in Persien und Afghanistan
übervorteilen zu können.

Zu Frankreich, das auch in der Kretafrage eine den Türken genehmere
Rolle zu spielen versuchte, hegt das türkische Volk nach wie vor aufrichtige
Sympathie und Verehrung. Es bedarf hierzu kaum einer besonderen Erklärung.
Ist doch die französische Sprache in der Türkei Gemeingut aller Gebildeten.
Da sie überdies die einzige europäische Sprache ist, die man kennt, erscheint
naturgemäß der Fortschritt aller westeuropäischen Kultur im französischen Gewände.
Frankreich weiß diesen Vorsprung vor den andern Staaten geschickt auszunutzen,
indem es einmal durch seine Journalisten einen ungeheuren Einfluß auf die
öffentliche Meinung ausübt, und auf der andren Seite nicht mit liebenswürdigen
Einladungen zum Besuch seiner Städte karge. Noch vor wenigen Wochen führte
man eine staunende türkische Studienkommission durch die schönsten Städte
Frankreichs und gegenwärtig weilt innerhalb der Mauern von Paris ein türkischer
Minister zum Studium französischer Einrichtungen und zur Anknüpfung finanzieller
Beziehungen. So sehr ist die Liebe zu den Franzosen in die Herzen der Türken
gedrungen, daß eine vor etwa zwei Jahren nach Europa entsandte Expedition
türkischer Studenten, zweihundert an der Zahl, schon gleich nach der Ankunft in
Marseille einstimmig erklärte, in Frankreich bleiben zu wollen, trotzdem sie
gruppenweise auf verschiedene Länder verteilt war. Die Zahl der in Frankreich
studierenden Türken beträgt heute etwa vierhundert, während im übrigen Europa
kaum ein Dutzend weilen dürfte I


Die politische Lage der Türkei

der Stärkung der Macht des Sultans entgegenwirken. Dazu kommt, daß England
glaubt, die Konkurrenz Deutschlands, dessen gewaltige Eisenbahn quer durch
Kleinasien seinen wirtschaftlichen Interessen gefährlich ist, bekämpfen zu müssen;
es läßt deshalb kein Mittel unversucht, der wirtschaftlichen Erschließung Klein¬
asiens Hemmnisse zu bereiten. Dort enthüllen sich die ganzen Selbständigkeits¬
bestrebungen der arabischen Stämme als nichts anderes denn als Intrigen
Englands, mit dem unverkennbaren Zweck, der Befestigung der Macht des
Padischah und der Expansion des deutschen Einflusses Schwierigkeiten zu bereiten.

Von Rußland ist eigentümlicherweise in der Streitfrage um Kreta wenig
die Rede gewesen. Aber keineswegs entgeht die türkische Negierung Vorwürfen
wegen ihrer allzu freundlichen Haltung gegen dieses Land, das der Türkei die
schwersten Schläge versetzt hat, und das als alter Erbfeind betrachtet wird.
Man fragt sich auch in der Tat vergebens, was die Türkei von Rußland Gutes
zu erwarten hat, dessen ökonomische Entwicklung in weiten Teilen seines Gebietes
kaum wesentlich fortgeschrittener ist als die der Türkei. Dagegen erkennt man
auf den ersten Blick die Gefahren, die von dieser Seite drohen. Man braucht
nur an den in Sofia veranstalteten panslawistischen Kongreß oder an die immer
wieder zum Durchbruch gelangenden Aspirationen der orthodoxen Russen auf die
Heilige Stadt, des Sitzes des Patriarchats, zu denken. Zudem entpuppt sich
die Freundschaft zu Rußland als von England eingegeben, das ein heuchlerisches
Bündnis mit Rußland unterhält, um es um so besser in Persien und Afghanistan
übervorteilen zu können.

Zu Frankreich, das auch in der Kretafrage eine den Türken genehmere
Rolle zu spielen versuchte, hegt das türkische Volk nach wie vor aufrichtige
Sympathie und Verehrung. Es bedarf hierzu kaum einer besonderen Erklärung.
Ist doch die französische Sprache in der Türkei Gemeingut aller Gebildeten.
Da sie überdies die einzige europäische Sprache ist, die man kennt, erscheint
naturgemäß der Fortschritt aller westeuropäischen Kultur im französischen Gewände.
Frankreich weiß diesen Vorsprung vor den andern Staaten geschickt auszunutzen,
indem es einmal durch seine Journalisten einen ungeheuren Einfluß auf die
öffentliche Meinung ausübt, und auf der andren Seite nicht mit liebenswürdigen
Einladungen zum Besuch seiner Städte karge. Noch vor wenigen Wochen führte
man eine staunende türkische Studienkommission durch die schönsten Städte
Frankreichs und gegenwärtig weilt innerhalb der Mauern von Paris ein türkischer
Minister zum Studium französischer Einrichtungen und zur Anknüpfung finanzieller
Beziehungen. So sehr ist die Liebe zu den Franzosen in die Herzen der Türken
gedrungen, daß eine vor etwa zwei Jahren nach Europa entsandte Expedition
türkischer Studenten, zweihundert an der Zahl, schon gleich nach der Ankunft in
Marseille einstimmig erklärte, in Frankreich bleiben zu wollen, trotzdem sie
gruppenweise auf verschiedene Länder verteilt war. Die Zahl der in Frankreich
studierenden Türken beträgt heute etwa vierhundert, während im übrigen Europa
kaum ein Dutzend weilen dürfte I


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/330>, abgerufen am 23.07.2024.