Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Minchens Geheimnis

Aber schon hatte er abgedrückt, und der Schutz hallte in die Nacht hinaus.

Die Männer sahen sich erschrocken an, und als sie in der Ferne den Schritt
der Bürgerwehr hörten, die durch den Knall herbeigelockt wurde, da stoben sie in
alle Winde auseinander...

Minchen saß noch lange in ihrem Stübchen lind blickte hinaus in die Nacht.
Nichts regte sich in Hof und Garten. Finsternis, Schweigen und Einsamkeit
ruhten dort, nur droben hinter dem dunkelblauen Schleier blinkten sanft und
freundlich einige goldene Sternenaugeu. Sie träumte vor sich hin. Was war ihr
das Summen auf der Straße und der Freudentaumel der Bevölkerung und die
allgemeine Illumination? Wie gleichgültig war ihr das alles! Ihr war, als
wenn sie weit, weitab in einem duftigen Grunde säße, und eine wunderbare
singende, klingende Nacht wäre herabgestiegen und umschmeichelte sie mit zarten
Händen und flüsterte ihr seltsame, liebkosende Worte zu. Und den holden
Zauber nahm sie mit hinüber in den friedlichen Schlaf auf dein frischbezogenen
Lager. . .

Am andern Morgen hatte sich die Mutter erholt und widmete sich wieder
mit rüstigem Eifer den Sorgen ihres Haushaltes, wobei ihr Minchen half.

Die Tage kamen und gingen. Ein banges, zages Erwarten, eine verstohlene,
zitternde Hoffnung, eine scheue Sehnsucht lebte in ihr. Manchmal war ihr, als
wenn sie laut aufjauchzen müsse. Oft aber empfand sie ein verhaltenes Weh im
Herzen, und sie wurde traurig, tieftraurig.

Die Mutter kannte die Tochter nicht wieder. Häufig erhielt sie auf ihre
Fragen ganz verkehrte Antworten. Was war das? Und die erfahrene Frau
sagte sich, daß das nur die Liebe sein könne. Ja, seitdem Heinrich Messerschmidt
in seinen Briefen bestimmte Andeutungen gemacht hatte, daß er nach dein Assessor¬
examen um die Hand der Jugendfreundin bitten werde, seitdem der Herr Kalkulator
mit ihrem Mann eine lange, ernste Besprechung über diese Angelegenheit gehabt
hatte, von der Herr Hegcrbarth zu seinen Damen allerlei schelmische Andeutungen
machte, seit dieser Zeit war die Umwandlung mit Minchen vorgegangen. Die
Mutter freute sich im stillen, wie gut sich alles ineinanderfüge. Und doch benahm
sich die Tochter so eigentümlich! Wenn sie mit ihr von der Sache sprechen wollte,
so wich sie ihr mit ihren Antworten scheu aus und sagte gar nichts. Sie ver-
stand das nicht! Ach ja, die jungen Mädchen heutzutage! Ihr Hausarzt, der
alte Sanitätsrat Lehfeld, mutzte doch wohl recht haben, wenn er behauptete,
datz die Menschen bei dem heutigen hastigen Leben und Treiben allzu erregbare
Nerven bekämen.

Die Gemüter der Menschen begannen sich zu besänftigen, die Welt wurde
wieder eingerenkt, und das Leben näherte sich allmählich dem gewohnten Gleise.
Schon fing man an, sich mit gutmütigen Spott über die eigenen Taten und die
neuen Errungenschaften lustig zu machen. Auf der Straße sang man:

Minchen konnte nicht darüber lachen. Ihr war eher zum Weinen. Nun
waren schon sechs Wochen um, und "Er" ließ nichts von sich hören. Kein Wort!
Wo weilte er? Was war aus ihm geworden? Schier unerträglich war diese Qual
der Ungewitzheit.


Minchens Geheimnis

Aber schon hatte er abgedrückt, und der Schutz hallte in die Nacht hinaus.

Die Männer sahen sich erschrocken an, und als sie in der Ferne den Schritt
der Bürgerwehr hörten, die durch den Knall herbeigelockt wurde, da stoben sie in
alle Winde auseinander...

Minchen saß noch lange in ihrem Stübchen lind blickte hinaus in die Nacht.
Nichts regte sich in Hof und Garten. Finsternis, Schweigen und Einsamkeit
ruhten dort, nur droben hinter dem dunkelblauen Schleier blinkten sanft und
freundlich einige goldene Sternenaugeu. Sie träumte vor sich hin. Was war ihr
das Summen auf der Straße und der Freudentaumel der Bevölkerung und die
allgemeine Illumination? Wie gleichgültig war ihr das alles! Ihr war, als
wenn sie weit, weitab in einem duftigen Grunde säße, und eine wunderbare
singende, klingende Nacht wäre herabgestiegen und umschmeichelte sie mit zarten
Händen und flüsterte ihr seltsame, liebkosende Worte zu. Und den holden
Zauber nahm sie mit hinüber in den friedlichen Schlaf auf dein frischbezogenen
Lager. . .

Am andern Morgen hatte sich die Mutter erholt und widmete sich wieder
mit rüstigem Eifer den Sorgen ihres Haushaltes, wobei ihr Minchen half.

Die Tage kamen und gingen. Ein banges, zages Erwarten, eine verstohlene,
zitternde Hoffnung, eine scheue Sehnsucht lebte in ihr. Manchmal war ihr, als
wenn sie laut aufjauchzen müsse. Oft aber empfand sie ein verhaltenes Weh im
Herzen, und sie wurde traurig, tieftraurig.

Die Mutter kannte die Tochter nicht wieder. Häufig erhielt sie auf ihre
Fragen ganz verkehrte Antworten. Was war das? Und die erfahrene Frau
sagte sich, daß das nur die Liebe sein könne. Ja, seitdem Heinrich Messerschmidt
in seinen Briefen bestimmte Andeutungen gemacht hatte, daß er nach dein Assessor¬
examen um die Hand der Jugendfreundin bitten werde, seitdem der Herr Kalkulator
mit ihrem Mann eine lange, ernste Besprechung über diese Angelegenheit gehabt
hatte, von der Herr Hegcrbarth zu seinen Damen allerlei schelmische Andeutungen
machte, seit dieser Zeit war die Umwandlung mit Minchen vorgegangen. Die
Mutter freute sich im stillen, wie gut sich alles ineinanderfüge. Und doch benahm
sich die Tochter so eigentümlich! Wenn sie mit ihr von der Sache sprechen wollte,
so wich sie ihr mit ihren Antworten scheu aus und sagte gar nichts. Sie ver-
stand das nicht! Ach ja, die jungen Mädchen heutzutage! Ihr Hausarzt, der
alte Sanitätsrat Lehfeld, mutzte doch wohl recht haben, wenn er behauptete,
datz die Menschen bei dem heutigen hastigen Leben und Treiben allzu erregbare
Nerven bekämen.

Die Gemüter der Menschen begannen sich zu besänftigen, die Welt wurde
wieder eingerenkt, und das Leben näherte sich allmählich dem gewohnten Gleise.
Schon fing man an, sich mit gutmütigen Spott über die eigenen Taten und die
neuen Errungenschaften lustig zu machen. Auf der Straße sang man:

Minchen konnte nicht darüber lachen. Ihr war eher zum Weinen. Nun
waren schon sechs Wochen um, und „Er" ließ nichts von sich hören. Kein Wort!
Wo weilte er? Was war aus ihm geworden? Schier unerträglich war diese Qual
der Ungewitzheit.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316595"/>
          <fw type="header" place="top"> Minchens Geheimnis</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1346"> Aber schon hatte er abgedrückt, und der Schutz hallte in die Nacht hinaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1347"> Die Männer sahen sich erschrocken an, und als sie in der Ferne den Schritt<lb/>
der Bürgerwehr hörten, die durch den Knall herbeigelockt wurde, da stoben sie in<lb/>
alle Winde auseinander...</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1348"> Minchen saß noch lange in ihrem Stübchen lind blickte hinaus in die Nacht.<lb/>
Nichts regte sich in Hof und Garten. Finsternis, Schweigen und Einsamkeit<lb/>
ruhten dort, nur droben hinter dem dunkelblauen Schleier blinkten sanft und<lb/>
freundlich einige goldene Sternenaugeu. Sie träumte vor sich hin. Was war ihr<lb/>
das Summen auf der Straße und der Freudentaumel der Bevölkerung und die<lb/>
allgemeine Illumination? Wie gleichgültig war ihr das alles! Ihr war, als<lb/>
wenn sie weit, weitab in einem duftigen Grunde säße, und eine wunderbare<lb/>
singende, klingende Nacht wäre herabgestiegen und umschmeichelte sie mit zarten<lb/>
Händen und flüsterte ihr seltsame, liebkosende Worte zu. Und den holden<lb/>
Zauber nahm sie mit hinüber in den friedlichen Schlaf auf dein frischbezogenen<lb/>
Lager. . .</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1349"> Am andern Morgen hatte sich die Mutter erholt und widmete sich wieder<lb/>
mit rüstigem Eifer den Sorgen ihres Haushaltes, wobei ihr Minchen half.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1350"> Die Tage kamen und gingen. Ein banges, zages Erwarten, eine verstohlene,<lb/>
zitternde Hoffnung, eine scheue Sehnsucht lebte in ihr. Manchmal war ihr, als<lb/>
wenn sie laut aufjauchzen müsse. Oft aber empfand sie ein verhaltenes Weh im<lb/>
Herzen, und sie wurde traurig, tieftraurig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1351"> Die Mutter kannte die Tochter nicht wieder. Häufig erhielt sie auf ihre<lb/>
Fragen ganz verkehrte Antworten. Was war das? Und die erfahrene Frau<lb/>
sagte sich, daß das nur die Liebe sein könne. Ja, seitdem Heinrich Messerschmidt<lb/>
in seinen Briefen bestimmte Andeutungen gemacht hatte, daß er nach dein Assessor¬<lb/>
examen um die Hand der Jugendfreundin bitten werde, seitdem der Herr Kalkulator<lb/>
mit ihrem Mann eine lange, ernste Besprechung über diese Angelegenheit gehabt<lb/>
hatte, von der Herr Hegcrbarth zu seinen Damen allerlei schelmische Andeutungen<lb/>
machte, seit dieser Zeit war die Umwandlung mit Minchen vorgegangen. Die<lb/>
Mutter freute sich im stillen, wie gut sich alles ineinanderfüge. Und doch benahm<lb/>
sich die Tochter so eigentümlich! Wenn sie mit ihr von der Sache sprechen wollte,<lb/>
so wich sie ihr mit ihren Antworten scheu aus und sagte gar nichts. Sie ver-<lb/>
stand das nicht! Ach ja, die jungen Mädchen heutzutage! Ihr Hausarzt, der<lb/>
alte Sanitätsrat Lehfeld, mutzte doch wohl recht haben, wenn er behauptete,<lb/>
datz die Menschen bei dem heutigen hastigen Leben und Treiben allzu erregbare<lb/>
Nerven bekämen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1352"> Die Gemüter der Menschen begannen sich zu besänftigen, die Welt wurde<lb/>
wieder eingerenkt, und das Leben näherte sich allmählich dem gewohnten Gleise.<lb/>
Schon fing man an, sich mit gutmütigen Spott über die eigenen Taten und die<lb/>
neuen Errungenschaften lustig zu machen. Auf der Straße sang man:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_15" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1353"> Minchen konnte nicht darüber lachen. Ihr war eher zum Weinen. Nun<lb/>
waren schon sechs Wochen um, und &#x201E;Er" ließ nichts von sich hören. Kein Wort!<lb/>
Wo weilte er? Was war aus ihm geworden? Schier unerträglich war diese Qual<lb/>
der Ungewitzheit.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] Minchens Geheimnis Aber schon hatte er abgedrückt, und der Schutz hallte in die Nacht hinaus. Die Männer sahen sich erschrocken an, und als sie in der Ferne den Schritt der Bürgerwehr hörten, die durch den Knall herbeigelockt wurde, da stoben sie in alle Winde auseinander... Minchen saß noch lange in ihrem Stübchen lind blickte hinaus in die Nacht. Nichts regte sich in Hof und Garten. Finsternis, Schweigen und Einsamkeit ruhten dort, nur droben hinter dem dunkelblauen Schleier blinkten sanft und freundlich einige goldene Sternenaugeu. Sie träumte vor sich hin. Was war ihr das Summen auf der Straße und der Freudentaumel der Bevölkerung und die allgemeine Illumination? Wie gleichgültig war ihr das alles! Ihr war, als wenn sie weit, weitab in einem duftigen Grunde säße, und eine wunderbare singende, klingende Nacht wäre herabgestiegen und umschmeichelte sie mit zarten Händen und flüsterte ihr seltsame, liebkosende Worte zu. Und den holden Zauber nahm sie mit hinüber in den friedlichen Schlaf auf dein frischbezogenen Lager. . . Am andern Morgen hatte sich die Mutter erholt und widmete sich wieder mit rüstigem Eifer den Sorgen ihres Haushaltes, wobei ihr Minchen half. Die Tage kamen und gingen. Ein banges, zages Erwarten, eine verstohlene, zitternde Hoffnung, eine scheue Sehnsucht lebte in ihr. Manchmal war ihr, als wenn sie laut aufjauchzen müsse. Oft aber empfand sie ein verhaltenes Weh im Herzen, und sie wurde traurig, tieftraurig. Die Mutter kannte die Tochter nicht wieder. Häufig erhielt sie auf ihre Fragen ganz verkehrte Antworten. Was war das? Und die erfahrene Frau sagte sich, daß das nur die Liebe sein könne. Ja, seitdem Heinrich Messerschmidt in seinen Briefen bestimmte Andeutungen gemacht hatte, daß er nach dein Assessor¬ examen um die Hand der Jugendfreundin bitten werde, seitdem der Herr Kalkulator mit ihrem Mann eine lange, ernste Besprechung über diese Angelegenheit gehabt hatte, von der Herr Hegcrbarth zu seinen Damen allerlei schelmische Andeutungen machte, seit dieser Zeit war die Umwandlung mit Minchen vorgegangen. Die Mutter freute sich im stillen, wie gut sich alles ineinanderfüge. Und doch benahm sich die Tochter so eigentümlich! Wenn sie mit ihr von der Sache sprechen wollte, so wich sie ihr mit ihren Antworten scheu aus und sagte gar nichts. Sie ver- stand das nicht! Ach ja, die jungen Mädchen heutzutage! Ihr Hausarzt, der alte Sanitätsrat Lehfeld, mutzte doch wohl recht haben, wenn er behauptete, datz die Menschen bei dem heutigen hastigen Leben und Treiben allzu erregbare Nerven bekämen. Die Gemüter der Menschen begannen sich zu besänftigen, die Welt wurde wieder eingerenkt, und das Leben näherte sich allmählich dem gewohnten Gleise. Schon fing man an, sich mit gutmütigen Spott über die eigenen Taten und die neuen Errungenschaften lustig zu machen. Auf der Straße sang man: Minchen konnte nicht darüber lachen. Ihr war eher zum Weinen. Nun waren schon sechs Wochen um, und „Er" ließ nichts von sich hören. Kein Wort! Wo weilte er? Was war aus ihm geworden? Schier unerträglich war diese Qual der Ungewitzheit.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/306>, abgerufen am 23.07.2024.