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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Recht und Macht

nicht Anarchie einreihen, so darf unmöglich jeder Untertan prüfen, und seinen
Gehorsam davon abhängig machen, ob ein Staatsgesetz den Grundsätzen des
Naturrechts gemäß ist, also etwa dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entspricht.
Ebensowenig kann dieses Prüfungsrecht einer Mehrheit von Personen oder
auch den Gerichten eingeräumt werden, denn auch hieraus würde die größte
Rechtsunsicherheit und Verwirrung entspringen. Ob ein Gesetz der Verfassung
entspricht, das zu prüfen kann den Gerichten überlassen werden, nicht aber ob
die Verfassung dem höheren Recht entspricht, aus dem der Machthaber seine
Gesetzgebungsbefugnis herleitet. Wird die Verfassung und das aus ihr her¬
geleitete Gesetz gar zu unerträglich und dem Naturrecht gar zu widersprechend,
dann bleibt dem Volke -- aber auch gegebenenfalls der Negierung -- nichts
übrig, als die schlechte, oder wenn man will, die unrechtmäßige Verfassung
gewaltsam durch eine bessere und "rechtmäßige" zu ersetzen. So heißt es in
Schillers Tell, nicht nnr poetisch, sondern auch rechtsphilosophisch begründet:

Aber solange die alte Gewalt nicht gestürzt ist, gilt auch das naturrechts¬
widrige Gesetz, und wirkt sogar in die spätere Zeit hinein. Selbst Gesetze,
die Unmögliches anordnen, sind nicht stets wirkungslos. Sobald das bisher
Unmögliche möglich wird, treten sie von selbst in Kraft, ohne daß es eines
neuen Gesetzeserlasses bedarf.

Diese formell unbeschränkte Befugnis zur Rechtschasfung geht aber nur
so weit, wie die Macht geht, und diese besteht nur gegenüber den Insassen
des beherrschten Gebietes. Gegenüber fremden Staaten und deren Angehörigen
gilt der Wille eines Machthabers nur so weit, als dies durch ein höheres, über
den Staaten stehendes Recht anerkannt ist. Dieses Recht ist hier aber kein
Naturrecht, das durch einen Denkprozeß zu erkennen ist, sondern ein positives,
durch allgemeine Übung und ausdrückliches Übereinkommen geregeltes Recht.
Vor allem das Völkerrecht. Es verbindet die Staaten und ihre Machthaber
unmittelbar. Handeln sie ihm entgegen, so ist das eine Rechtsverletzung, die
in vielen Fällen sogar durch Gerichte -- die internationalen Schiedsgerichte
-- festgestellt wird, nur daß es noch keine geregelte Zwangsverwirklichung
dieses Rechts gibt. Auch insofern allerdings ähnelt es jenem Naturrecht, als
es in die Gesetzgebungsmacht der Gewalthaber nicht unmittelbar eingreift.
Wenn diese völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, so sind ihre Untertanen, ins¬
besondere die Gerichte, nicht weniger daran gebunden. Aber darum bleiben
solche Gesetze doch immer eine Verletzung des Völkerrechts. In welcher Form
ein Staat seinen Willen erklärt, ob durch die zu seiner Vertretung nach außen


Recht und Macht

nicht Anarchie einreihen, so darf unmöglich jeder Untertan prüfen, und seinen
Gehorsam davon abhängig machen, ob ein Staatsgesetz den Grundsätzen des
Naturrechts gemäß ist, also etwa dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entspricht.
Ebensowenig kann dieses Prüfungsrecht einer Mehrheit von Personen oder
auch den Gerichten eingeräumt werden, denn auch hieraus würde die größte
Rechtsunsicherheit und Verwirrung entspringen. Ob ein Gesetz der Verfassung
entspricht, das zu prüfen kann den Gerichten überlassen werden, nicht aber ob
die Verfassung dem höheren Recht entspricht, aus dem der Machthaber seine
Gesetzgebungsbefugnis herleitet. Wird die Verfassung und das aus ihr her¬
geleitete Gesetz gar zu unerträglich und dem Naturrecht gar zu widersprechend,
dann bleibt dem Volke — aber auch gegebenenfalls der Negierung — nichts
übrig, als die schlechte, oder wenn man will, die unrechtmäßige Verfassung
gewaltsam durch eine bessere und „rechtmäßige" zu ersetzen. So heißt es in
Schillers Tell, nicht nnr poetisch, sondern auch rechtsphilosophisch begründet:

Aber solange die alte Gewalt nicht gestürzt ist, gilt auch das naturrechts¬
widrige Gesetz, und wirkt sogar in die spätere Zeit hinein. Selbst Gesetze,
die Unmögliches anordnen, sind nicht stets wirkungslos. Sobald das bisher
Unmögliche möglich wird, treten sie von selbst in Kraft, ohne daß es eines
neuen Gesetzeserlasses bedarf.

Diese formell unbeschränkte Befugnis zur Rechtschasfung geht aber nur
so weit, wie die Macht geht, und diese besteht nur gegenüber den Insassen
des beherrschten Gebietes. Gegenüber fremden Staaten und deren Angehörigen
gilt der Wille eines Machthabers nur so weit, als dies durch ein höheres, über
den Staaten stehendes Recht anerkannt ist. Dieses Recht ist hier aber kein
Naturrecht, das durch einen Denkprozeß zu erkennen ist, sondern ein positives,
durch allgemeine Übung und ausdrückliches Übereinkommen geregeltes Recht.
Vor allem das Völkerrecht. Es verbindet die Staaten und ihre Machthaber
unmittelbar. Handeln sie ihm entgegen, so ist das eine Rechtsverletzung, die
in vielen Fällen sogar durch Gerichte — die internationalen Schiedsgerichte
— festgestellt wird, nur daß es noch keine geregelte Zwangsverwirklichung
dieses Rechts gibt. Auch insofern allerdings ähnelt es jenem Naturrecht, als
es in die Gesetzgebungsmacht der Gewalthaber nicht unmittelbar eingreift.
Wenn diese völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, so sind ihre Untertanen, ins¬
besondere die Gerichte, nicht weniger daran gebunden. Aber darum bleiben
solche Gesetze doch immer eine Verletzung des Völkerrechts. In welcher Form
ein Staat seinen Willen erklärt, ob durch die zu seiner Vertretung nach außen


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[0238] Recht und Macht nicht Anarchie einreihen, so darf unmöglich jeder Untertan prüfen, und seinen Gehorsam davon abhängig machen, ob ein Staatsgesetz den Grundsätzen des Naturrechts gemäß ist, also etwa dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entspricht. Ebensowenig kann dieses Prüfungsrecht einer Mehrheit von Personen oder auch den Gerichten eingeräumt werden, denn auch hieraus würde die größte Rechtsunsicherheit und Verwirrung entspringen. Ob ein Gesetz der Verfassung entspricht, das zu prüfen kann den Gerichten überlassen werden, nicht aber ob die Verfassung dem höheren Recht entspricht, aus dem der Machthaber seine Gesetzgebungsbefugnis herleitet. Wird die Verfassung und das aus ihr her¬ geleitete Gesetz gar zu unerträglich und dem Naturrecht gar zu widersprechend, dann bleibt dem Volke — aber auch gegebenenfalls der Negierung — nichts übrig, als die schlechte, oder wenn man will, die unrechtmäßige Verfassung gewaltsam durch eine bessere und „rechtmäßige" zu ersetzen. So heißt es in Schillers Tell, nicht nnr poetisch, sondern auch rechtsphilosophisch begründet: Aber solange die alte Gewalt nicht gestürzt ist, gilt auch das naturrechts¬ widrige Gesetz, und wirkt sogar in die spätere Zeit hinein. Selbst Gesetze, die Unmögliches anordnen, sind nicht stets wirkungslos. Sobald das bisher Unmögliche möglich wird, treten sie von selbst in Kraft, ohne daß es eines neuen Gesetzeserlasses bedarf. Diese formell unbeschränkte Befugnis zur Rechtschasfung geht aber nur so weit, wie die Macht geht, und diese besteht nur gegenüber den Insassen des beherrschten Gebietes. Gegenüber fremden Staaten und deren Angehörigen gilt der Wille eines Machthabers nur so weit, als dies durch ein höheres, über den Staaten stehendes Recht anerkannt ist. Dieses Recht ist hier aber kein Naturrecht, das durch einen Denkprozeß zu erkennen ist, sondern ein positives, durch allgemeine Übung und ausdrückliches Übereinkommen geregeltes Recht. Vor allem das Völkerrecht. Es verbindet die Staaten und ihre Machthaber unmittelbar. Handeln sie ihm entgegen, so ist das eine Rechtsverletzung, die in vielen Fällen sogar durch Gerichte — die internationalen Schiedsgerichte — festgestellt wird, nur daß es noch keine geregelte Zwangsverwirklichung dieses Rechts gibt. Auch insofern allerdings ähnelt es jenem Naturrecht, als es in die Gesetzgebungsmacht der Gewalthaber nicht unmittelbar eingreift. Wenn diese völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, so sind ihre Untertanen, ins¬ besondere die Gerichte, nicht weniger daran gebunden. Aber darum bleiben solche Gesetze doch immer eine Verletzung des Völkerrechts. In welcher Form ein Staat seinen Willen erklärt, ob durch die zu seiner Vertretung nach außen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/238>, abgerufen am 23.07.2024.