Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Recht und Macht

sein, daß über dem Gesetze steht, woraus alles Gesetzesrecht in allerletzter Linie
seine Geltung herleitet. Wir kommen damit ins Gebiet des Metaphysischen,
wohin wir hier nicht tiefer eindringen wollen. Soviel ist aber sicher: Die
Geltung unsres Grundsatzes beruht nicht auf dem positiven Willen einer
Person oder Personenmehrheit, auch nicht auf der bloßen positiven, durch
lange Übung betätigten Überzeugung einer Menschengemeinschaft, sondern auf
einer Naturnotwendigkeit, wobei wir zur Natur auch die menschliche Natur,
auch die Natur des Kulturmenschen rechnen. Was hier gebieterisch herrscht,
ist also die Natur der Sache, oder, wenn man will, das Naturrecht. Das
hat Geltung, mögen die Menschen es erkennen und wollen, oder nicht. Und
sein oberster Satz ist: der Besitz der Gewalt schafft das Recht.

Dieser Satz ist nun nicht nur ein theoretischer. Er hat auch praktische
Folgen, von denen wir einzelne anführen wollen. Ist eine Gewaltherrschaft
beseitigt, so treten, wie schon berührt, die unter ihr gegebenen Gesetze nicht
von selbst außer Kraft, sondern nur wenn und soweit sie aufgehoben werden.
So haben z. B. die Franzosen ihre Gesetze mit sür Aachen erlassen, als sie
das linke Rheinufer erst militärisch besetzt und in Verwaltung genommen
hatten, aber es ihnen noch nicht abgetreten war. Niemand bezweifelt jedoch
die Gültigkeit dieser Gesetze, die zum Teil heute noch gelten.

Denkbar wäre es allerdings, daß alle von der Gewaltherrschaft erlassenen
Gesetze mit rückwirkender Kraft aufgehoben würden; aber, wenn diese nur
einigermaßen von Dauer gewesen ist, geschieht das dennoch nicht, weil die
Macht der Verhältnisse es verbietet. Es geht tatsächlich ebensowenig an, wie
wenn der rechtmäßige Herrscher alle seine eignen Gesetze rückwärtshin wieder
beseitigen wollte. Wie gern hätte die Reaktion der Bourbonen in Frank¬
reich die Einziehung der Emigrantengüter rückgängig gemacht, die die ver¬
haßte Revolution durchgeführt hatte. Das ging aber über die Kraft der
Staatsgewalt, und man mußte sich mit einer Emigrantenenischädigung begnügen.

Bisweilen wird eine gewaltsam begründete Herrschaft nachträglich vom
früheren Herrscher anerkannt. Das mag den Bestand der ersteren tatsächlich
stärken, aber rechtlich hat es keine Bedeutung für die Gültigkeit seiner Gesetze.
Über diese entscheidet nur der jeweilige Besitz der Gewalt, und nachträgliche
Umstände können daran nichts ändern, es sei denn ein späteres, nach der¬
zeitiger Verfassung gültig erlassenes, rückwirkendes Gesetz.

Wenn wir den Naturrechtssatz festgestellt haben: Macht schafft Gesetz, so
ist damit doch nur die formelle Grundlage gewonnen, auf der das Gesetzes¬
recht sich aufbaut. Eine ganz andere Frage, die von der Staatswissenschaft
viel häufiger erörtert wird, ist die, ob der Machthaber nun anch befugt sei,
jedes Gesetz mit verbindlicher Kraft zu erlassen, das ihm beliebt.*) Dasselbe



") Vgl, H, Krabbe, Die Lehre bon der Rechtssouveränitöt, Groningen 1906i Adolf
Grabowsky, Recht und Staat, Berlin und Leipzig 1908.
Recht und Macht

sein, daß über dem Gesetze steht, woraus alles Gesetzesrecht in allerletzter Linie
seine Geltung herleitet. Wir kommen damit ins Gebiet des Metaphysischen,
wohin wir hier nicht tiefer eindringen wollen. Soviel ist aber sicher: Die
Geltung unsres Grundsatzes beruht nicht auf dem positiven Willen einer
Person oder Personenmehrheit, auch nicht auf der bloßen positiven, durch
lange Übung betätigten Überzeugung einer Menschengemeinschaft, sondern auf
einer Naturnotwendigkeit, wobei wir zur Natur auch die menschliche Natur,
auch die Natur des Kulturmenschen rechnen. Was hier gebieterisch herrscht,
ist also die Natur der Sache, oder, wenn man will, das Naturrecht. Das
hat Geltung, mögen die Menschen es erkennen und wollen, oder nicht. Und
sein oberster Satz ist: der Besitz der Gewalt schafft das Recht.

Dieser Satz ist nun nicht nur ein theoretischer. Er hat auch praktische
Folgen, von denen wir einzelne anführen wollen. Ist eine Gewaltherrschaft
beseitigt, so treten, wie schon berührt, die unter ihr gegebenen Gesetze nicht
von selbst außer Kraft, sondern nur wenn und soweit sie aufgehoben werden.
So haben z. B. die Franzosen ihre Gesetze mit sür Aachen erlassen, als sie
das linke Rheinufer erst militärisch besetzt und in Verwaltung genommen
hatten, aber es ihnen noch nicht abgetreten war. Niemand bezweifelt jedoch
die Gültigkeit dieser Gesetze, die zum Teil heute noch gelten.

Denkbar wäre es allerdings, daß alle von der Gewaltherrschaft erlassenen
Gesetze mit rückwirkender Kraft aufgehoben würden; aber, wenn diese nur
einigermaßen von Dauer gewesen ist, geschieht das dennoch nicht, weil die
Macht der Verhältnisse es verbietet. Es geht tatsächlich ebensowenig an, wie
wenn der rechtmäßige Herrscher alle seine eignen Gesetze rückwärtshin wieder
beseitigen wollte. Wie gern hätte die Reaktion der Bourbonen in Frank¬
reich die Einziehung der Emigrantengüter rückgängig gemacht, die die ver¬
haßte Revolution durchgeführt hatte. Das ging aber über die Kraft der
Staatsgewalt, und man mußte sich mit einer Emigrantenenischädigung begnügen.

Bisweilen wird eine gewaltsam begründete Herrschaft nachträglich vom
früheren Herrscher anerkannt. Das mag den Bestand der ersteren tatsächlich
stärken, aber rechtlich hat es keine Bedeutung für die Gültigkeit seiner Gesetze.
Über diese entscheidet nur der jeweilige Besitz der Gewalt, und nachträgliche
Umstände können daran nichts ändern, es sei denn ein späteres, nach der¬
zeitiger Verfassung gültig erlassenes, rückwirkendes Gesetz.

Wenn wir den Naturrechtssatz festgestellt haben: Macht schafft Gesetz, so
ist damit doch nur die formelle Grundlage gewonnen, auf der das Gesetzes¬
recht sich aufbaut. Eine ganz andere Frage, die von der Staatswissenschaft
viel häufiger erörtert wird, ist die, ob der Machthaber nun anch befugt sei,
jedes Gesetz mit verbindlicher Kraft zu erlassen, das ihm beliebt.*) Dasselbe



") Vgl, H, Krabbe, Die Lehre bon der Rechtssouveränitöt, Groningen 1906i Adolf
Grabowsky, Recht und Staat, Berlin und Leipzig 1908.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0236" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316525"/>
          <fw type="header" place="top"> Recht und Macht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_863" prev="#ID_862"> sein, daß über dem Gesetze steht, woraus alles Gesetzesrecht in allerletzter Linie<lb/>
seine Geltung herleitet. Wir kommen damit ins Gebiet des Metaphysischen,<lb/>
wohin wir hier nicht tiefer eindringen wollen. Soviel ist aber sicher: Die<lb/>
Geltung unsres Grundsatzes beruht nicht auf dem positiven Willen einer<lb/>
Person oder Personenmehrheit, auch nicht auf der bloßen positiven, durch<lb/>
lange Übung betätigten Überzeugung einer Menschengemeinschaft, sondern auf<lb/>
einer Naturnotwendigkeit, wobei wir zur Natur auch die menschliche Natur,<lb/>
auch die Natur des Kulturmenschen rechnen. Was hier gebieterisch herrscht,<lb/>
ist also die Natur der Sache, oder, wenn man will, das Naturrecht. Das<lb/>
hat Geltung, mögen die Menschen es erkennen und wollen, oder nicht. Und<lb/>
sein oberster Satz ist: der Besitz der Gewalt schafft das Recht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_864"> Dieser Satz ist nun nicht nur ein theoretischer. Er hat auch praktische<lb/>
Folgen, von denen wir einzelne anführen wollen. Ist eine Gewaltherrschaft<lb/>
beseitigt, so treten, wie schon berührt, die unter ihr gegebenen Gesetze nicht<lb/>
von selbst außer Kraft, sondern nur wenn und soweit sie aufgehoben werden.<lb/>
So haben z. B. die Franzosen ihre Gesetze mit sür Aachen erlassen, als sie<lb/>
das linke Rheinufer erst militärisch besetzt und in Verwaltung genommen<lb/>
hatten, aber es ihnen noch nicht abgetreten war. Niemand bezweifelt jedoch<lb/>
die Gültigkeit dieser Gesetze, die zum Teil heute noch gelten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_865"> Denkbar wäre es allerdings, daß alle von der Gewaltherrschaft erlassenen<lb/>
Gesetze mit rückwirkender Kraft aufgehoben würden; aber, wenn diese nur<lb/>
einigermaßen von Dauer gewesen ist, geschieht das dennoch nicht, weil die<lb/>
Macht der Verhältnisse es verbietet. Es geht tatsächlich ebensowenig an, wie<lb/>
wenn der rechtmäßige Herrscher alle seine eignen Gesetze rückwärtshin wieder<lb/>
beseitigen wollte. Wie gern hätte die Reaktion der Bourbonen in Frank¬<lb/>
reich die Einziehung der Emigrantengüter rückgängig gemacht, die die ver¬<lb/>
haßte Revolution durchgeführt hatte. Das ging aber über die Kraft der<lb/>
Staatsgewalt, und man mußte sich mit einer Emigrantenenischädigung begnügen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_866"> Bisweilen wird eine gewaltsam begründete Herrschaft nachträglich vom<lb/>
früheren Herrscher anerkannt. Das mag den Bestand der ersteren tatsächlich<lb/>
stärken, aber rechtlich hat es keine Bedeutung für die Gültigkeit seiner Gesetze.<lb/>
Über diese entscheidet nur der jeweilige Besitz der Gewalt, und nachträgliche<lb/>
Umstände können daran nichts ändern, es sei denn ein späteres, nach der¬<lb/>
zeitiger Verfassung gültig erlassenes, rückwirkendes Gesetz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_867" next="#ID_868"> Wenn wir den Naturrechtssatz festgestellt haben: Macht schafft Gesetz, so<lb/>
ist damit doch nur die formelle Grundlage gewonnen, auf der das Gesetzes¬<lb/>
recht sich aufbaut. Eine ganz andere Frage, die von der Staatswissenschaft<lb/>
viel häufiger erörtert wird, ist die, ob der Machthaber nun anch befugt sei,<lb/>
jedes Gesetz mit verbindlicher Kraft zu erlassen, das ihm beliebt.*) Dasselbe</p><lb/>
          <note xml:id="FID_22" place="foot"> ") Vgl, H, Krabbe, Die Lehre bon der Rechtssouveränitöt, Groningen 1906i Adolf<lb/>
Grabowsky, Recht und Staat, Berlin und Leipzig 1908.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0236] Recht und Macht sein, daß über dem Gesetze steht, woraus alles Gesetzesrecht in allerletzter Linie seine Geltung herleitet. Wir kommen damit ins Gebiet des Metaphysischen, wohin wir hier nicht tiefer eindringen wollen. Soviel ist aber sicher: Die Geltung unsres Grundsatzes beruht nicht auf dem positiven Willen einer Person oder Personenmehrheit, auch nicht auf der bloßen positiven, durch lange Übung betätigten Überzeugung einer Menschengemeinschaft, sondern auf einer Naturnotwendigkeit, wobei wir zur Natur auch die menschliche Natur, auch die Natur des Kulturmenschen rechnen. Was hier gebieterisch herrscht, ist also die Natur der Sache, oder, wenn man will, das Naturrecht. Das hat Geltung, mögen die Menschen es erkennen und wollen, oder nicht. Und sein oberster Satz ist: der Besitz der Gewalt schafft das Recht. Dieser Satz ist nun nicht nur ein theoretischer. Er hat auch praktische Folgen, von denen wir einzelne anführen wollen. Ist eine Gewaltherrschaft beseitigt, so treten, wie schon berührt, die unter ihr gegebenen Gesetze nicht von selbst außer Kraft, sondern nur wenn und soweit sie aufgehoben werden. So haben z. B. die Franzosen ihre Gesetze mit sür Aachen erlassen, als sie das linke Rheinufer erst militärisch besetzt und in Verwaltung genommen hatten, aber es ihnen noch nicht abgetreten war. Niemand bezweifelt jedoch die Gültigkeit dieser Gesetze, die zum Teil heute noch gelten. Denkbar wäre es allerdings, daß alle von der Gewaltherrschaft erlassenen Gesetze mit rückwirkender Kraft aufgehoben würden; aber, wenn diese nur einigermaßen von Dauer gewesen ist, geschieht das dennoch nicht, weil die Macht der Verhältnisse es verbietet. Es geht tatsächlich ebensowenig an, wie wenn der rechtmäßige Herrscher alle seine eignen Gesetze rückwärtshin wieder beseitigen wollte. Wie gern hätte die Reaktion der Bourbonen in Frank¬ reich die Einziehung der Emigrantengüter rückgängig gemacht, die die ver¬ haßte Revolution durchgeführt hatte. Das ging aber über die Kraft der Staatsgewalt, und man mußte sich mit einer Emigrantenenischädigung begnügen. Bisweilen wird eine gewaltsam begründete Herrschaft nachträglich vom früheren Herrscher anerkannt. Das mag den Bestand der ersteren tatsächlich stärken, aber rechtlich hat es keine Bedeutung für die Gültigkeit seiner Gesetze. Über diese entscheidet nur der jeweilige Besitz der Gewalt, und nachträgliche Umstände können daran nichts ändern, es sei denn ein späteres, nach der¬ zeitiger Verfassung gültig erlassenes, rückwirkendes Gesetz. Wenn wir den Naturrechtssatz festgestellt haben: Macht schafft Gesetz, so ist damit doch nur die formelle Grundlage gewonnen, auf der das Gesetzes¬ recht sich aufbaut. Eine ganz andere Frage, die von der Staatswissenschaft viel häufiger erörtert wird, ist die, ob der Machthaber nun anch befugt sei, jedes Gesetz mit verbindlicher Kraft zu erlassen, das ihm beliebt.*) Dasselbe ") Vgl, H, Krabbe, Die Lehre bon der Rechtssouveränitöt, Groningen 1906i Adolf Grabowsky, Recht und Staat, Berlin und Leipzig 1908.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/236
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/236>, abgerufen am 23.07.2024.