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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Vaganten

Die Zahl der Theologen behielt unter den Vaganten die Oberhand.
Die Juristen und Mediziner erreichten rascher eine Versorgung und hatten
daher das Umherwandern nicht nötig. Aus demselben Grunde zeigt
Italien mit seinen juristischen und medizinischen Schulen wenig Spuren des
Vagantentums.

Außer den besprochenen wirtschaftlichen Verhältnissen hat gewiß auch der
Geist der Zeit das "Fahren" mit hervorgerufen. Allen Schichten der Bevölkerung
gemeinsam war damals ein starkes Gefühl der Unruhe, der Sehnsucht nach
fernen Paradiesen. Die Ritter suchten Abenteuer in fernen Landen, die Gläubigen
unternahmen weite Pilgerfahrten.

So wurden der fahrenden Kleriker immer mehr und fielen mit der Zeit
ihren Standesgenossen sehr zur Last, um so mehr, als sie in der Not des
Lebens bald verlotterten und immer zügelloser wurden.

Aus mancherlei Bezeichnungen hat man geschlossen, daß sich die Vaganten
zu Al?fang des dreizehnten Jahrhunderts zur Abwehr gegen die Abneigung
und die Abweisung, die sie fanden, zu einer festen Organisation zusammen¬
geschlossen hätten. Es begegnen die Namen oräo vaZorum, secta va^orna,
SLliolarsZ vaZl, Zoliaräi usw.

Das Wort Goliarden ist sehr verschieden gedeutet worden. Von Zuw.
Kehle, Gurgel (also soviel wie Murmanci, Schleimner), vom provenzalischen
Aualiar, betrügen, vom altitalienischen Zoliars, gierig verlangen (also Zernde
äiet. gehrende Leute, wie die weltlichen Spielleute genannt wurden) und von
italienisch MZIiaräv, französisch ^illarci (also Zoliarciu8 Bruder Lustig)
hat matt es abzuleiten versucht. Eine Einigung ist nicht erzielt.

Daß die Vaganten später den Golias ^- Goliath als ihren Schutzpatron
ansahen, hat der Riese ohne Zweifel nur dem Anklang seines Namens an
Goliard zu verdanken, wobei die Ableitung des Wortes gleichgültig ist.

Es gab aber außer diesem Schutzherrn des Bundes auch wirkliche Personen,
die den Titel Golias führten. Es sind dieselben, die gelegentlich auch Archipoeta
und Primas genannt werden, Vaganten, die im Trinken und Singen und vor
allem im Dichten Besonderes leisteten. Man hat gemeint, daß die Vorstände
des Vaganteuordens darunter zu verstehen seien. Und zwar bezeichne GoliaS
den Vorstand des französischen Vagantenbundes, der mehr eine zünftlerische
Genossenschaft gewesen sei und auch die englischen Vaganten mit umfaßt habe,
Primas dagegen das Haupt der deutschen Vaganten, die einen Orden, der


Die Vaganten

Die Zahl der Theologen behielt unter den Vaganten die Oberhand.
Die Juristen und Mediziner erreichten rascher eine Versorgung und hatten
daher das Umherwandern nicht nötig. Aus demselben Grunde zeigt
Italien mit seinen juristischen und medizinischen Schulen wenig Spuren des
Vagantentums.

Außer den besprochenen wirtschaftlichen Verhältnissen hat gewiß auch der
Geist der Zeit das „Fahren" mit hervorgerufen. Allen Schichten der Bevölkerung
gemeinsam war damals ein starkes Gefühl der Unruhe, der Sehnsucht nach
fernen Paradiesen. Die Ritter suchten Abenteuer in fernen Landen, die Gläubigen
unternahmen weite Pilgerfahrten.

So wurden der fahrenden Kleriker immer mehr und fielen mit der Zeit
ihren Standesgenossen sehr zur Last, um so mehr, als sie in der Not des
Lebens bald verlotterten und immer zügelloser wurden.

Aus mancherlei Bezeichnungen hat man geschlossen, daß sich die Vaganten
zu Al?fang des dreizehnten Jahrhunderts zur Abwehr gegen die Abneigung
und die Abweisung, die sie fanden, zu einer festen Organisation zusammen¬
geschlossen hätten. Es begegnen die Namen oräo vaZorum, secta va^orna,
SLliolarsZ vaZl, Zoliaräi usw.

Das Wort Goliarden ist sehr verschieden gedeutet worden. Von Zuw.
Kehle, Gurgel (also soviel wie Murmanci, Schleimner), vom provenzalischen
Aualiar, betrügen, vom altitalienischen Zoliars, gierig verlangen (also Zernde
äiet. gehrende Leute, wie die weltlichen Spielleute genannt wurden) und von
italienisch MZIiaräv, französisch ^illarci (also Zoliarciu8 Bruder Lustig)
hat matt es abzuleiten versucht. Eine Einigung ist nicht erzielt.

Daß die Vaganten später den Golias ^- Goliath als ihren Schutzpatron
ansahen, hat der Riese ohne Zweifel nur dem Anklang seines Namens an
Goliard zu verdanken, wobei die Ableitung des Wortes gleichgültig ist.

Es gab aber außer diesem Schutzherrn des Bundes auch wirkliche Personen,
die den Titel Golias führten. Es sind dieselben, die gelegentlich auch Archipoeta
und Primas genannt werden, Vaganten, die im Trinken und Singen und vor
allem im Dichten Besonderes leisteten. Man hat gemeint, daß die Vorstände
des Vaganteuordens darunter zu verstehen seien. Und zwar bezeichne GoliaS
den Vorstand des französischen Vagantenbundes, der mehr eine zünftlerische
Genossenschaft gewesen sei und auch die englischen Vaganten mit umfaßt habe,
Primas dagegen das Haupt der deutschen Vaganten, die einen Orden, der


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[0177] Die Vaganten Die Zahl der Theologen behielt unter den Vaganten die Oberhand. Die Juristen und Mediziner erreichten rascher eine Versorgung und hatten daher das Umherwandern nicht nötig. Aus demselben Grunde zeigt Italien mit seinen juristischen und medizinischen Schulen wenig Spuren des Vagantentums. Außer den besprochenen wirtschaftlichen Verhältnissen hat gewiß auch der Geist der Zeit das „Fahren" mit hervorgerufen. Allen Schichten der Bevölkerung gemeinsam war damals ein starkes Gefühl der Unruhe, der Sehnsucht nach fernen Paradiesen. Die Ritter suchten Abenteuer in fernen Landen, die Gläubigen unternahmen weite Pilgerfahrten. So wurden der fahrenden Kleriker immer mehr und fielen mit der Zeit ihren Standesgenossen sehr zur Last, um so mehr, als sie in der Not des Lebens bald verlotterten und immer zügelloser wurden. Aus mancherlei Bezeichnungen hat man geschlossen, daß sich die Vaganten zu Al?fang des dreizehnten Jahrhunderts zur Abwehr gegen die Abneigung und die Abweisung, die sie fanden, zu einer festen Organisation zusammen¬ geschlossen hätten. Es begegnen die Namen oräo vaZorum, secta va^orna, SLliolarsZ vaZl, Zoliaräi usw. Das Wort Goliarden ist sehr verschieden gedeutet worden. Von Zuw. Kehle, Gurgel (also soviel wie Murmanci, Schleimner), vom provenzalischen Aualiar, betrügen, vom altitalienischen Zoliars, gierig verlangen (also Zernde äiet. gehrende Leute, wie die weltlichen Spielleute genannt wurden) und von italienisch MZIiaräv, französisch ^illarci (also Zoliarciu8 Bruder Lustig) hat matt es abzuleiten versucht. Eine Einigung ist nicht erzielt. Daß die Vaganten später den Golias ^- Goliath als ihren Schutzpatron ansahen, hat der Riese ohne Zweifel nur dem Anklang seines Namens an Goliard zu verdanken, wobei die Ableitung des Wortes gleichgültig ist. Es gab aber außer diesem Schutzherrn des Bundes auch wirkliche Personen, die den Titel Golias führten. Es sind dieselben, die gelegentlich auch Archipoeta und Primas genannt werden, Vaganten, die im Trinken und Singen und vor allem im Dichten Besonderes leisteten. Man hat gemeint, daß die Vorstände des Vaganteuordens darunter zu verstehen seien. Und zwar bezeichne GoliaS den Vorstand des französischen Vagantenbundes, der mehr eine zünftlerische Genossenschaft gewesen sei und auch die englischen Vaganten mit umfaßt habe, Primas dagegen das Haupt der deutschen Vaganten, die einen Orden, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/177>, abgerufen am 03.07.2024.