Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Die Lyrik des siebziger Krieges Zwischen der Menge der siebziger Lyriker richtet sich als Grenzscheide das Aus der Fülle großer und kleinerer Talente, die die Revolution herbei¬ Und so ist denn der siebziger Krieg und die Reichsgründung für Herwegh Die Lyrik des siebziger Krieges Zwischen der Menge der siebziger Lyriker richtet sich als Grenzscheide das Aus der Fülle großer und kleinerer Talente, die die Revolution herbei¬ Und so ist denn der siebziger Krieg und die Reichsgründung für Herwegh <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0612" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316251"/> <fw type="header" place="top"> Die Lyrik des siebziger Krieges</fw><lb/> <lg xml:id="POEMID_49" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_3186"> Zwischen der Menge der siebziger Lyriker richtet sich als Grenzscheide das<lb/> Jahr 1848 auf. Die einen haben es als Jünglinge und Männer kämpfend<lb/> miterlebt, den anderen erregte es nur erst die Knabenphantasie oder ging es auch<lb/> vorüber wie irgendein anderes Jahr. Und während nun sonst wohl die<lb/> Jugend den höchsten lyrischen Ausdruck findet, stammt hier das Bedeutendste<lb/> von den älteren Dichtern, voll jenen eben, die achtundvierzig bewußt und tätig<lb/> erlebten. Sie haben um die deutsche Zerrissenheit mehr gelitten als die Jungen;<lb/> so finden sie denn auch vollere Töne für die schließliche Einigung.</p><lb/> <p xml:id="ID_3187"> Aus der Fülle großer und kleinerer Talente, die die Revolution herbei¬<lb/> gesehnt und verherrlicht hatten, ragen zwei Namen mächtig heraus: Herwegh<lb/> und Freiligrath. Die „Gedichte eines Lebendigen" und ira!" lassen den<lb/> flüchtigen Betrachter auf sehr verwandte Verfasser schließen, und doch gibt es<lb/> keinen größeren Gegensatz als den zwischen Herweghs und Freiligraths Wesen.<lb/> Vernunftloser Starrsinn und lernbegierige Entwicklungsfähigkeit (aber wohl¬<lb/> gemerkt I bei Festhalten des als wesentlich Erkannten, also nicht etwa Charakter¬<lb/> losigkeit) stehen sich gegenüber. Als Drei-, Vierundzwanzigjähriger bringt Georg<lb/> Herwegh seine aufrichtig heißen, aber ungeklärten Freiheitswünsche in wunder¬<lb/> schöne Verse. Und dann verstummt er, weil er nichts hinzulernen mag, weil<lb/> er, verletzt in seiner persönlichen Führer-Eitelkeit, durch persönliche Verbitterung<lb/> um die geringe Klarheit des Blickes gebracht wird, die er vielleicht als Jüngling<lb/> besaß. Nur wenige schiefe Zeitbilder, mehr gehässige als kunstvolle Satiren<lb/> bringt er in einem langen, tatlos vergrollten Leben hervor. In der Entwicklung<lb/> der deutschen Dinge will er nichts als Schlechtes sehen. Preußen, das immer<lb/> völliger zur führenden Macht wird, ist ihm ein despotisch regierter SKaoenstaat,<lb/> „Herr Wilhelm" der schlimmste Tyrann.</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_50" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_3188" next="#ID_3189"> Und so ist denn der siebziger Krieg und die Reichsgründung für Herwegh<lb/> nur ein Sieg der Despotie, ein Erfolg des verhaßten Staates, von dem er<lb/> sterbend zu seinein Sohn sagte: „Li tu Ä88istai8 aprös ma mort A</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0612]
Die Lyrik des siebziger Krieges
Zwischen der Menge der siebziger Lyriker richtet sich als Grenzscheide das
Jahr 1848 auf. Die einen haben es als Jünglinge und Männer kämpfend
miterlebt, den anderen erregte es nur erst die Knabenphantasie oder ging es auch
vorüber wie irgendein anderes Jahr. Und während nun sonst wohl die
Jugend den höchsten lyrischen Ausdruck findet, stammt hier das Bedeutendste
von den älteren Dichtern, voll jenen eben, die achtundvierzig bewußt und tätig
erlebten. Sie haben um die deutsche Zerrissenheit mehr gelitten als die Jungen;
so finden sie denn auch vollere Töne für die schließliche Einigung.
Aus der Fülle großer und kleinerer Talente, die die Revolution herbei¬
gesehnt und verherrlicht hatten, ragen zwei Namen mächtig heraus: Herwegh
und Freiligrath. Die „Gedichte eines Lebendigen" und ira!" lassen den
flüchtigen Betrachter auf sehr verwandte Verfasser schließen, und doch gibt es
keinen größeren Gegensatz als den zwischen Herweghs und Freiligraths Wesen.
Vernunftloser Starrsinn und lernbegierige Entwicklungsfähigkeit (aber wohl¬
gemerkt I bei Festhalten des als wesentlich Erkannten, also nicht etwa Charakter¬
losigkeit) stehen sich gegenüber. Als Drei-, Vierundzwanzigjähriger bringt Georg
Herwegh seine aufrichtig heißen, aber ungeklärten Freiheitswünsche in wunder¬
schöne Verse. Und dann verstummt er, weil er nichts hinzulernen mag, weil
er, verletzt in seiner persönlichen Führer-Eitelkeit, durch persönliche Verbitterung
um die geringe Klarheit des Blickes gebracht wird, die er vielleicht als Jüngling
besaß. Nur wenige schiefe Zeitbilder, mehr gehässige als kunstvolle Satiren
bringt er in einem langen, tatlos vergrollten Leben hervor. In der Entwicklung
der deutschen Dinge will er nichts als Schlechtes sehen. Preußen, das immer
völliger zur führenden Macht wird, ist ihm ein despotisch regierter SKaoenstaat,
„Herr Wilhelm" der schlimmste Tyrann.
Und so ist denn der siebziger Krieg und die Reichsgründung für Herwegh
nur ein Sieg der Despotie, ein Erfolg des verhaßten Staates, von dem er
sterbend zu seinein Sohn sagte: „Li tu Ä88istai8 aprös ma mort A
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