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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Llsaß-lothringische Fragen

betreiben und durchzusetzen. Wenn aber das Reich darauf verzichtet, die elsa߬
lothringische Frage so zu lösen, wie es den Reichs- und den wahren elsa߬
lothringischen Interessen sicher am besten entspräche, so muß wenigstens mit aller
Entschiedenheit gefordert werden, daß die Lösung der elsaß-lothringischen Frage
in einer Weise erfolgt, die nicht nur die Interessen der gesamten Bevölkerung
des Reichslandes (also auch der zahlreichen Altdeutschen und der loyalen ein¬
heimischen Elemente, nicht bloß der verhältnißmäßig kleinen Gruppe der Notabeln)
sondern vor allem auch die des Reiches im Auge behält. Hierzu ist
erforderlich, daß vor allem die Frage des Wahlrechts zum Landesausschuß durch
Reichsgesetz geregelt wird, und zwar vor oder gleichzeitig mit der Abänderung
der Verfassung; denn wollte man dem Lande zuerst die Rechte eines selbständigen
Bundesstaates geben und ihm überlassen, danach sein Wahlrecht selbst abzu¬
ändern, so würden zweifellos diejenigen Elemente, die zurzeit im Landesausschuß
den Ausschlag geben, das Wahlrecht so gestalten, daß auf absehbare Zeit ihr
eigener Einfluß erhalten und womöglich gestärkt werden würde. Das deutsche
Interesse jedoch erfordert, daß vor allem -- selbst auf die Gefahr hin, daß die
Sozialdemokraten eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Mandaten eroberten --
den Minderheiten im Lande die Möglichkeit gegeben werde, sich eine Vertretung
im Landesausschuß zu sichern. Das deutsche Element im Lande beträgt heute
ungefähr ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Zu ihm gehört die größere
Hälfte der Gebildeten des Landes, die Professoren der Universität, die meisten
höheren Reichs- und Landesbeamten, viele Ärzte, Anwälte und sonstige Ver¬
treter der freien Berufe, auch ein namhafter Teil der Großindustriellen und Gro߬
kaufleute, ganz abgesehen von den Tausenden von Offizieren und Militär¬
beamten. Diese alle haben im Landesausschuß keinen einzigen Vertreter ihrer
Interessen. Dabei wird man nicht behaupten können, daß die einheimischen
Volksvertreter den Willen und die Fähigkeit besitzen, auch diesem Teile der
Bevölkerung gerecht zu werden, oder daß das Land an einheimischen Intelligenzen
reich genug sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Lücken in den gebildeten Kreisen
des Landes, die nach den: Kriege durch Auswanderung entstanden sind und
noch bis in die jüngste Gegenwart immer von neuem entstehen, sind eben zum
größten Teil durch Altdeutsche, zum weit geringeren durch den Nachwuchs aus
dem Lande selbst ausgefüllt worden.

Die leidigen Folgen dieser anormalen Zustände würden fast sämtlich ver¬
schwinden, wenn dem Lande ein vielleicht dein württembergischen Wahlrecht
ähnliches Proportionalwahlrecht gegeben würde. Ein solches würde nicht nur
dem deutschen Element zu einer Vertretung verhelfen, es würde noch einen
weiteren Vorteil mit sich bringen, indem es den bedauerlichen Wahlkompromissen
ein Ende bereiten würde, die jetzt zu Ergebnissen führen, die fast durchweg die
wahre Gesinnung der Wähler keineswegs zum Ausdruck bringen. Überdies
würde die Ersetzung des bestehenden indirekten Wahlmodus durch ein direktes
Wahlsystem voraussichtlich das politische Interesse der Bevölkerung beleben.


Llsaß-lothringische Fragen

betreiben und durchzusetzen. Wenn aber das Reich darauf verzichtet, die elsa߬
lothringische Frage so zu lösen, wie es den Reichs- und den wahren elsa߬
lothringischen Interessen sicher am besten entspräche, so muß wenigstens mit aller
Entschiedenheit gefordert werden, daß die Lösung der elsaß-lothringischen Frage
in einer Weise erfolgt, die nicht nur die Interessen der gesamten Bevölkerung
des Reichslandes (also auch der zahlreichen Altdeutschen und der loyalen ein¬
heimischen Elemente, nicht bloß der verhältnißmäßig kleinen Gruppe der Notabeln)
sondern vor allem auch die des Reiches im Auge behält. Hierzu ist
erforderlich, daß vor allem die Frage des Wahlrechts zum Landesausschuß durch
Reichsgesetz geregelt wird, und zwar vor oder gleichzeitig mit der Abänderung
der Verfassung; denn wollte man dem Lande zuerst die Rechte eines selbständigen
Bundesstaates geben und ihm überlassen, danach sein Wahlrecht selbst abzu¬
ändern, so würden zweifellos diejenigen Elemente, die zurzeit im Landesausschuß
den Ausschlag geben, das Wahlrecht so gestalten, daß auf absehbare Zeit ihr
eigener Einfluß erhalten und womöglich gestärkt werden würde. Das deutsche
Interesse jedoch erfordert, daß vor allem — selbst auf die Gefahr hin, daß die
Sozialdemokraten eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Mandaten eroberten —
den Minderheiten im Lande die Möglichkeit gegeben werde, sich eine Vertretung
im Landesausschuß zu sichern. Das deutsche Element im Lande beträgt heute
ungefähr ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Zu ihm gehört die größere
Hälfte der Gebildeten des Landes, die Professoren der Universität, die meisten
höheren Reichs- und Landesbeamten, viele Ärzte, Anwälte und sonstige Ver¬
treter der freien Berufe, auch ein namhafter Teil der Großindustriellen und Gro߬
kaufleute, ganz abgesehen von den Tausenden von Offizieren und Militär¬
beamten. Diese alle haben im Landesausschuß keinen einzigen Vertreter ihrer
Interessen. Dabei wird man nicht behaupten können, daß die einheimischen
Volksvertreter den Willen und die Fähigkeit besitzen, auch diesem Teile der
Bevölkerung gerecht zu werden, oder daß das Land an einheimischen Intelligenzen
reich genug sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Lücken in den gebildeten Kreisen
des Landes, die nach den: Kriege durch Auswanderung entstanden sind und
noch bis in die jüngste Gegenwart immer von neuem entstehen, sind eben zum
größten Teil durch Altdeutsche, zum weit geringeren durch den Nachwuchs aus
dem Lande selbst ausgefüllt worden.

Die leidigen Folgen dieser anormalen Zustände würden fast sämtlich ver¬
schwinden, wenn dem Lande ein vielleicht dein württembergischen Wahlrecht
ähnliches Proportionalwahlrecht gegeben würde. Ein solches würde nicht nur
dem deutschen Element zu einer Vertretung verhelfen, es würde noch einen
weiteren Vorteil mit sich bringen, indem es den bedauerlichen Wahlkompromissen
ein Ende bereiten würde, die jetzt zu Ergebnissen führen, die fast durchweg die
wahre Gesinnung der Wähler keineswegs zum Ausdruck bringen. Überdies
würde die Ersetzung des bestehenden indirekten Wahlmodus durch ein direktes
Wahlsystem voraussichtlich das politische Interesse der Bevölkerung beleben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/603>, abgerufen am 26.08.2024.