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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Liberalismus und Grgmüsatio"?

Dampf und Kurs entscheiden. Wohl reden die beiderlei Leute im Schiff ein¬
ander einmal etwa drein, aber die Grenze zwischen beiden ist dort gezogen und
deutlich. Verband und Partei jedoch greifen stark ineinander über. Warum?
Die Wirtschaft eines Volkes setzt sich aus so vielen Stücken zusammen, daß die
Vertreter eines einzelnen Stückes, die Verbandsleute, immer nur für eine
Minderheit des Volkes einstehen. Die Leitsätze der Partei dagegen erheben,
wofern sie echt sind, den Anspruch auf Geltung für die Volksmehrheit. Weil
freilich der Mensch im allgemeinen den Zwang des Hungers stärker spürt als
jedes andere Gesetz, so verzweifelt der Parteimann und -fnhrer jeweilen an
den ewigen Mächten, die seinem Programm das Leben gegeben haben, und
wirft sich, nachgebend dem irdischen Hang seines Publikums, in die Arme des
Verbandes. Die Partei mit ihrem Aufblick zur Idee ist gleichsam das "Ewig-
Weibliche", zugleich Minder - Selbständige in der Politik, der Verband ist
daneben wie der "Mann aus dem Erdenkloß". Man hat in den letzten
Jahren scherzhaft von einer Paarung gewisser Parteien gesprochen: eine wider¬
liche Vergleichung und eine Unmöglichkeit an sich; denn das wäre die Paarung
zweier weiblicher Wesen. Aber die Paarung zwischen Partei und Verband liegt
nahe und vollzieht sich alle Tage: Konservative Partei mit dem Bund der
Landwirte, Sozialdemokratie mit dem Gewerkverein, die nationalliberale Partei
mit dem Industriellen-Verband, die Papstpartei je nach Ort und Umständen
mit dem Verband, der die festeste Stütze verspricht. Stütze! ja, es stützt sich
die Partei auf die Massigkeit und Massivität und den Werktagsverdienst des
Verbandes, es schmückt sich und beglückt sich der Verband mit den Sonntags-
gewündern der Partei. Geist und Kraft, diese Losung der eigentlichen Partei,
veräußert sich so in Stoff und Macht.

Und die liberale Partei? wie verhält sie sich dabei?

Bei aller Paarung zwischen Verbänden und Parteien steht die liberale
Partei da als Jungfer. Und diese Jungfer darf auf ihren ledigen Stand
stolz und ihrer Freiheit froh sein. Was als Schwäche des Liberalismus
erscheint, sei begrüßt als seine Stärke. Denn was ist Liberalismus?
Ein namhafter Liberaler hat unlängst geantwortet: vom gegenwärtigen
Liberalismus könne man nur sagen, was er nicht sei. Also halten wir
uns an Vergangenheit und Herkunft des "Liberalen" selbst. Liberias, Freiheit
bedeutet im bürgerlichen Leben alter und neuer Zeit doch das, daß einer
mündig, rechtsfähig ist. Damit kommt ihm als Recht und Pflicht zu: die
Selbsthilfe, die Selbstverantwortung. Und dies ist das eigentliche Kenn¬
zeichen des freien Mannes. Aus dem Freiheitsstand erwächst der Freiheitsgeist;
aus der Liberias die Liberalität Liberalität, die Gesinnung und Lebens¬
führung des Liberalen, ist nicht etwa das lockere "Leben und Lebenlassen",
sondern die strenge Erziehung zur Selbsthilfe und Selbstverantwortung, in deren
Gemäßheit der Liberale bei sich selbst beginnt. Mit dem Beispiel der Selbsthilfe,
nicht der Verbandshilfe, mit der Erziehung zur Selbstverantwortung, nicht zum


Liberalismus und Grgmüsatio»?

Dampf und Kurs entscheiden. Wohl reden die beiderlei Leute im Schiff ein¬
ander einmal etwa drein, aber die Grenze zwischen beiden ist dort gezogen und
deutlich. Verband und Partei jedoch greifen stark ineinander über. Warum?
Die Wirtschaft eines Volkes setzt sich aus so vielen Stücken zusammen, daß die
Vertreter eines einzelnen Stückes, die Verbandsleute, immer nur für eine
Minderheit des Volkes einstehen. Die Leitsätze der Partei dagegen erheben,
wofern sie echt sind, den Anspruch auf Geltung für die Volksmehrheit. Weil
freilich der Mensch im allgemeinen den Zwang des Hungers stärker spürt als
jedes andere Gesetz, so verzweifelt der Parteimann und -fnhrer jeweilen an
den ewigen Mächten, die seinem Programm das Leben gegeben haben, und
wirft sich, nachgebend dem irdischen Hang seines Publikums, in die Arme des
Verbandes. Die Partei mit ihrem Aufblick zur Idee ist gleichsam das „Ewig-
Weibliche", zugleich Minder - Selbständige in der Politik, der Verband ist
daneben wie der „Mann aus dem Erdenkloß". Man hat in den letzten
Jahren scherzhaft von einer Paarung gewisser Parteien gesprochen: eine wider¬
liche Vergleichung und eine Unmöglichkeit an sich; denn das wäre die Paarung
zweier weiblicher Wesen. Aber die Paarung zwischen Partei und Verband liegt
nahe und vollzieht sich alle Tage: Konservative Partei mit dem Bund der
Landwirte, Sozialdemokratie mit dem Gewerkverein, die nationalliberale Partei
mit dem Industriellen-Verband, die Papstpartei je nach Ort und Umständen
mit dem Verband, der die festeste Stütze verspricht. Stütze! ja, es stützt sich
die Partei auf die Massigkeit und Massivität und den Werktagsverdienst des
Verbandes, es schmückt sich und beglückt sich der Verband mit den Sonntags-
gewündern der Partei. Geist und Kraft, diese Losung der eigentlichen Partei,
veräußert sich so in Stoff und Macht.

Und die liberale Partei? wie verhält sie sich dabei?

Bei aller Paarung zwischen Verbänden und Parteien steht die liberale
Partei da als Jungfer. Und diese Jungfer darf auf ihren ledigen Stand
stolz und ihrer Freiheit froh sein. Was als Schwäche des Liberalismus
erscheint, sei begrüßt als seine Stärke. Denn was ist Liberalismus?
Ein namhafter Liberaler hat unlängst geantwortet: vom gegenwärtigen
Liberalismus könne man nur sagen, was er nicht sei. Also halten wir
uns an Vergangenheit und Herkunft des „Liberalen" selbst. Liberias, Freiheit
bedeutet im bürgerlichen Leben alter und neuer Zeit doch das, daß einer
mündig, rechtsfähig ist. Damit kommt ihm als Recht und Pflicht zu: die
Selbsthilfe, die Selbstverantwortung. Und dies ist das eigentliche Kenn¬
zeichen des freien Mannes. Aus dem Freiheitsstand erwächst der Freiheitsgeist;
aus der Liberias die Liberalität Liberalität, die Gesinnung und Lebens¬
führung des Liberalen, ist nicht etwa das lockere „Leben und Lebenlassen",
sondern die strenge Erziehung zur Selbsthilfe und Selbstverantwortung, in deren
Gemäßheit der Liberale bei sich selbst beginnt. Mit dem Beispiel der Selbsthilfe,
nicht der Verbandshilfe, mit der Erziehung zur Selbstverantwortung, nicht zum


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[0432] Liberalismus und Grgmüsatio»? Dampf und Kurs entscheiden. Wohl reden die beiderlei Leute im Schiff ein¬ ander einmal etwa drein, aber die Grenze zwischen beiden ist dort gezogen und deutlich. Verband und Partei jedoch greifen stark ineinander über. Warum? Die Wirtschaft eines Volkes setzt sich aus so vielen Stücken zusammen, daß die Vertreter eines einzelnen Stückes, die Verbandsleute, immer nur für eine Minderheit des Volkes einstehen. Die Leitsätze der Partei dagegen erheben, wofern sie echt sind, den Anspruch auf Geltung für die Volksmehrheit. Weil freilich der Mensch im allgemeinen den Zwang des Hungers stärker spürt als jedes andere Gesetz, so verzweifelt der Parteimann und -fnhrer jeweilen an den ewigen Mächten, die seinem Programm das Leben gegeben haben, und wirft sich, nachgebend dem irdischen Hang seines Publikums, in die Arme des Verbandes. Die Partei mit ihrem Aufblick zur Idee ist gleichsam das „Ewig- Weibliche", zugleich Minder - Selbständige in der Politik, der Verband ist daneben wie der „Mann aus dem Erdenkloß". Man hat in den letzten Jahren scherzhaft von einer Paarung gewisser Parteien gesprochen: eine wider¬ liche Vergleichung und eine Unmöglichkeit an sich; denn das wäre die Paarung zweier weiblicher Wesen. Aber die Paarung zwischen Partei und Verband liegt nahe und vollzieht sich alle Tage: Konservative Partei mit dem Bund der Landwirte, Sozialdemokratie mit dem Gewerkverein, die nationalliberale Partei mit dem Industriellen-Verband, die Papstpartei je nach Ort und Umständen mit dem Verband, der die festeste Stütze verspricht. Stütze! ja, es stützt sich die Partei auf die Massigkeit und Massivität und den Werktagsverdienst des Verbandes, es schmückt sich und beglückt sich der Verband mit den Sonntags- gewündern der Partei. Geist und Kraft, diese Losung der eigentlichen Partei, veräußert sich so in Stoff und Macht. Und die liberale Partei? wie verhält sie sich dabei? Bei aller Paarung zwischen Verbänden und Parteien steht die liberale Partei da als Jungfer. Und diese Jungfer darf auf ihren ledigen Stand stolz und ihrer Freiheit froh sein. Was als Schwäche des Liberalismus erscheint, sei begrüßt als seine Stärke. Denn was ist Liberalismus? Ein namhafter Liberaler hat unlängst geantwortet: vom gegenwärtigen Liberalismus könne man nur sagen, was er nicht sei. Also halten wir uns an Vergangenheit und Herkunft des „Liberalen" selbst. Liberias, Freiheit bedeutet im bürgerlichen Leben alter und neuer Zeit doch das, daß einer mündig, rechtsfähig ist. Damit kommt ihm als Recht und Pflicht zu: die Selbsthilfe, die Selbstverantwortung. Und dies ist das eigentliche Kenn¬ zeichen des freien Mannes. Aus dem Freiheitsstand erwächst der Freiheitsgeist; aus der Liberias die Liberalität Liberalität, die Gesinnung und Lebens¬ führung des Liberalen, ist nicht etwa das lockere „Leben und Lebenlassen", sondern die strenge Erziehung zur Selbsthilfe und Selbstverantwortung, in deren Gemäßheit der Liberale bei sich selbst beginnt. Mit dem Beispiel der Selbsthilfe, nicht der Verbandshilfe, mit der Erziehung zur Selbstverantwortung, nicht zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/432>, abgerufen am 01.10.2024.