Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Argentinien

Präsidentschaft durch Niederwerfung der Indianer die Pampa, die große Ebene
zwischen den? Atlantischen Ozean und den Kordilleren, beruhigt und so dieses
große Hinterland der Kultur erschlossen.

Für die europäische Welt hat Argentinien eine Bedeutung erst seit dem
letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts gewonnen, seit Eisenbahnen im
Innern und Dampfschiffverbindungen mit Europa die Reichtümer des Landes
dem Weltverkehr zuführten. Erst dadurch ist es möglich geworden, Produkte zu
verwerten, die früher verloren gingen, weil sie nicht abgesetzt werden konnten.
Noch in den achtziger Jahren ist es vorgekommen, daß Tausende von Rindern
geschlachtet wurden, nur um die Haut zu gewinnen; das Fleisch blieb wertlos
und wurde vergraben. Ein Umschwung trat hierin erst ein, nachdem das
Gefrierverfahren gestattete, gefrornes Fleisch in großen Mengen zu exportieren.

Der Handel, der unter spanischer Herrschaft durch schwere Zölle belastet
war, steht seit der Unabhängigkeitserklärung der La Plata-Staaten allen Nationen
offen; ein 1889 erlassenes Gesetz beseitigte alle Ausfuhrzölle.

Der Hcmptreichtum des Landes besteht in der ausgedehnten Bodenfläche
von 2 855 620 qkm (Preußen Ü48000 qkm), die nur von 6 Millionen Menschen
bewohnt wird. Von diesen leben in der Hauptstadt Buenos Aires 1^ Million,
d. h. etwa der fünfte Teil der gesamten Bevölkerung. Das erscheint unnatürlich;
die Erklärung dafür ist indessen bald gefunden. Der bei weitem größte Teil
des Landes ist Weideland, auf dem die ungezählten Herden von Rindvieh,
Schafen, Pferden weiden. Die großen Güter, Estancias genannt, sind von
Drahtzäunen eingefriedet, das Vieh bleibt während des ganzen Jahres unter
freiem Himmel. Der Wirtschaftsbetrieb ist demgemäß einfach und verlangt die
persönliche Anwesenheit des Besitzers nicht. Der argentinische Großgrundbesitzer
lebt daher fast ausschließlich in der Stadt und zwar in der Hauptstadt, da die
Provinzstädte nichts bieten. Hinzu kommt die Beamtenschaft der Republik, der
größte Teil des Offizierkorps, die fremden Kaufleute. Buenos Aires ist ein
Kulturzentrum ersten Ranges; die Stadt hat eine größere Ausdehnung als
Paris und ist söderalisiert, d. h. der Bürgermeister wird vom Präsidenten der
Republik ernannt, die Verwaltung ist der Nationalregierung direkt unterstellt.

Das gesellschaftliche Leben erschöpft sich auf dem Korso, in der Oper
und in den Klubs; eine offizielle Geselligkeit gibt es nicht. Der Korso ist sehr
besucht; es gibt wohl keine europäische Hauptstadt, wo man schönere Pferde und
elegantere Equipagen sehen kann als dort -- vielleicht Se. Petersburg aus¬
genommen. In der großen Oper, in der während der Monate Juli und August
von den ersten italienischen Kräften gespielt wird, gibt sich die Gesellschaft
allabendlich ein Stelldichein. Alle Welt, auch im Parkett, ist in großer Toilette,
und da die jungen Mädchen in den Logen grundsätzlich die vorderen Plätze
einnehmen, so bietet das Haus einen vornehmen und ungewöhnlich schönen
Anblick. Außer der großen Oper gibt es noch eine zweite italienische Oper, die
ebenfalls ersten Ranges ist; in der Regel eine französische Operette oder Lustspiel,


Argentinien

Präsidentschaft durch Niederwerfung der Indianer die Pampa, die große Ebene
zwischen den? Atlantischen Ozean und den Kordilleren, beruhigt und so dieses
große Hinterland der Kultur erschlossen.

Für die europäische Welt hat Argentinien eine Bedeutung erst seit dem
letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts gewonnen, seit Eisenbahnen im
Innern und Dampfschiffverbindungen mit Europa die Reichtümer des Landes
dem Weltverkehr zuführten. Erst dadurch ist es möglich geworden, Produkte zu
verwerten, die früher verloren gingen, weil sie nicht abgesetzt werden konnten.
Noch in den achtziger Jahren ist es vorgekommen, daß Tausende von Rindern
geschlachtet wurden, nur um die Haut zu gewinnen; das Fleisch blieb wertlos
und wurde vergraben. Ein Umschwung trat hierin erst ein, nachdem das
Gefrierverfahren gestattete, gefrornes Fleisch in großen Mengen zu exportieren.

Der Handel, der unter spanischer Herrschaft durch schwere Zölle belastet
war, steht seit der Unabhängigkeitserklärung der La Plata-Staaten allen Nationen
offen; ein 1889 erlassenes Gesetz beseitigte alle Ausfuhrzölle.

Der Hcmptreichtum des Landes besteht in der ausgedehnten Bodenfläche
von 2 855 620 qkm (Preußen Ü48000 qkm), die nur von 6 Millionen Menschen
bewohnt wird. Von diesen leben in der Hauptstadt Buenos Aires 1^ Million,
d. h. etwa der fünfte Teil der gesamten Bevölkerung. Das erscheint unnatürlich;
die Erklärung dafür ist indessen bald gefunden. Der bei weitem größte Teil
des Landes ist Weideland, auf dem die ungezählten Herden von Rindvieh,
Schafen, Pferden weiden. Die großen Güter, Estancias genannt, sind von
Drahtzäunen eingefriedet, das Vieh bleibt während des ganzen Jahres unter
freiem Himmel. Der Wirtschaftsbetrieb ist demgemäß einfach und verlangt die
persönliche Anwesenheit des Besitzers nicht. Der argentinische Großgrundbesitzer
lebt daher fast ausschließlich in der Stadt und zwar in der Hauptstadt, da die
Provinzstädte nichts bieten. Hinzu kommt die Beamtenschaft der Republik, der
größte Teil des Offizierkorps, die fremden Kaufleute. Buenos Aires ist ein
Kulturzentrum ersten Ranges; die Stadt hat eine größere Ausdehnung als
Paris und ist söderalisiert, d. h. der Bürgermeister wird vom Präsidenten der
Republik ernannt, die Verwaltung ist der Nationalregierung direkt unterstellt.

Das gesellschaftliche Leben erschöpft sich auf dem Korso, in der Oper
und in den Klubs; eine offizielle Geselligkeit gibt es nicht. Der Korso ist sehr
besucht; es gibt wohl keine europäische Hauptstadt, wo man schönere Pferde und
elegantere Equipagen sehen kann als dort — vielleicht Se. Petersburg aus¬
genommen. In der großen Oper, in der während der Monate Juli und August
von den ersten italienischen Kräften gespielt wird, gibt sich die Gesellschaft
allabendlich ein Stelldichein. Alle Welt, auch im Parkett, ist in großer Toilette,
und da die jungen Mädchen in den Logen grundsätzlich die vorderen Plätze
einnehmen, so bietet das Haus einen vornehmen und ungewöhnlich schönen
Anblick. Außer der großen Oper gibt es noch eine zweite italienische Oper, die
ebenfalls ersten Ranges ist; in der Regel eine französische Operette oder Lustspiel,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316061"/>
          <fw type="header" place="top"> Argentinien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2260" prev="#ID_2259"> Präsidentschaft durch Niederwerfung der Indianer die Pampa, die große Ebene<lb/>
zwischen den? Atlantischen Ozean und den Kordilleren, beruhigt und so dieses<lb/>
große Hinterland der Kultur erschlossen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2261"> Für die europäische Welt hat Argentinien eine Bedeutung erst seit dem<lb/>
letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts gewonnen, seit Eisenbahnen im<lb/>
Innern und Dampfschiffverbindungen mit Europa die Reichtümer des Landes<lb/>
dem Weltverkehr zuführten. Erst dadurch ist es möglich geworden, Produkte zu<lb/>
verwerten, die früher verloren gingen, weil sie nicht abgesetzt werden konnten.<lb/>
Noch in den achtziger Jahren ist es vorgekommen, daß Tausende von Rindern<lb/>
geschlachtet wurden, nur um die Haut zu gewinnen; das Fleisch blieb wertlos<lb/>
und wurde vergraben. Ein Umschwung trat hierin erst ein, nachdem das<lb/>
Gefrierverfahren gestattete, gefrornes Fleisch in großen Mengen zu exportieren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2262"> Der Handel, der unter spanischer Herrschaft durch schwere Zölle belastet<lb/>
war, steht seit der Unabhängigkeitserklärung der La Plata-Staaten allen Nationen<lb/>
offen; ein 1889 erlassenes Gesetz beseitigte alle Ausfuhrzölle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2263"> Der Hcmptreichtum des Landes besteht in der ausgedehnten Bodenfläche<lb/>
von 2 855 620 qkm (Preußen Ü48000 qkm), die nur von 6 Millionen Menschen<lb/>
bewohnt wird. Von diesen leben in der Hauptstadt Buenos Aires 1^ Million,<lb/>
d. h. etwa der fünfte Teil der gesamten Bevölkerung. Das erscheint unnatürlich;<lb/>
die Erklärung dafür ist indessen bald gefunden. Der bei weitem größte Teil<lb/>
des Landes ist Weideland, auf dem die ungezählten Herden von Rindvieh,<lb/>
Schafen, Pferden weiden. Die großen Güter, Estancias genannt, sind von<lb/>
Drahtzäunen eingefriedet, das Vieh bleibt während des ganzen Jahres unter<lb/>
freiem Himmel. Der Wirtschaftsbetrieb ist demgemäß einfach und verlangt die<lb/>
persönliche Anwesenheit des Besitzers nicht. Der argentinische Großgrundbesitzer<lb/>
lebt daher fast ausschließlich in der Stadt und zwar in der Hauptstadt, da die<lb/>
Provinzstädte nichts bieten. Hinzu kommt die Beamtenschaft der Republik, der<lb/>
größte Teil des Offizierkorps, die fremden Kaufleute. Buenos Aires ist ein<lb/>
Kulturzentrum ersten Ranges; die Stadt hat eine größere Ausdehnung als<lb/>
Paris und ist söderalisiert, d. h. der Bürgermeister wird vom Präsidenten der<lb/>
Republik ernannt, die Verwaltung ist der Nationalregierung direkt unterstellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2264" next="#ID_2265"> Das gesellschaftliche Leben erschöpft sich auf dem Korso, in der Oper<lb/>
und in den Klubs; eine offizielle Geselligkeit gibt es nicht. Der Korso ist sehr<lb/>
besucht; es gibt wohl keine europäische Hauptstadt, wo man schönere Pferde und<lb/>
elegantere Equipagen sehen kann als dort &#x2014; vielleicht Se. Petersburg aus¬<lb/>
genommen. In der großen Oper, in der während der Monate Juli und August<lb/>
von den ersten italienischen Kräften gespielt wird, gibt sich die Gesellschaft<lb/>
allabendlich ein Stelldichein. Alle Welt, auch im Parkett, ist in großer Toilette,<lb/>
und da die jungen Mädchen in den Logen grundsätzlich die vorderen Plätze<lb/>
einnehmen, so bietet das Haus einen vornehmen und ungewöhnlich schönen<lb/>
Anblick. Außer der großen Oper gibt es noch eine zweite italienische Oper, die<lb/>
ebenfalls ersten Ranges ist; in der Regel eine französische Operette oder Lustspiel,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] Argentinien Präsidentschaft durch Niederwerfung der Indianer die Pampa, die große Ebene zwischen den? Atlantischen Ozean und den Kordilleren, beruhigt und so dieses große Hinterland der Kultur erschlossen. Für die europäische Welt hat Argentinien eine Bedeutung erst seit dem letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts gewonnen, seit Eisenbahnen im Innern und Dampfschiffverbindungen mit Europa die Reichtümer des Landes dem Weltverkehr zuführten. Erst dadurch ist es möglich geworden, Produkte zu verwerten, die früher verloren gingen, weil sie nicht abgesetzt werden konnten. Noch in den achtziger Jahren ist es vorgekommen, daß Tausende von Rindern geschlachtet wurden, nur um die Haut zu gewinnen; das Fleisch blieb wertlos und wurde vergraben. Ein Umschwung trat hierin erst ein, nachdem das Gefrierverfahren gestattete, gefrornes Fleisch in großen Mengen zu exportieren. Der Handel, der unter spanischer Herrschaft durch schwere Zölle belastet war, steht seit der Unabhängigkeitserklärung der La Plata-Staaten allen Nationen offen; ein 1889 erlassenes Gesetz beseitigte alle Ausfuhrzölle. Der Hcmptreichtum des Landes besteht in der ausgedehnten Bodenfläche von 2 855 620 qkm (Preußen Ü48000 qkm), die nur von 6 Millionen Menschen bewohnt wird. Von diesen leben in der Hauptstadt Buenos Aires 1^ Million, d. h. etwa der fünfte Teil der gesamten Bevölkerung. Das erscheint unnatürlich; die Erklärung dafür ist indessen bald gefunden. Der bei weitem größte Teil des Landes ist Weideland, auf dem die ungezählten Herden von Rindvieh, Schafen, Pferden weiden. Die großen Güter, Estancias genannt, sind von Drahtzäunen eingefriedet, das Vieh bleibt während des ganzen Jahres unter freiem Himmel. Der Wirtschaftsbetrieb ist demgemäß einfach und verlangt die persönliche Anwesenheit des Besitzers nicht. Der argentinische Großgrundbesitzer lebt daher fast ausschließlich in der Stadt und zwar in der Hauptstadt, da die Provinzstädte nichts bieten. Hinzu kommt die Beamtenschaft der Republik, der größte Teil des Offizierkorps, die fremden Kaufleute. Buenos Aires ist ein Kulturzentrum ersten Ranges; die Stadt hat eine größere Ausdehnung als Paris und ist söderalisiert, d. h. der Bürgermeister wird vom Präsidenten der Republik ernannt, die Verwaltung ist der Nationalregierung direkt unterstellt. Das gesellschaftliche Leben erschöpft sich auf dem Korso, in der Oper und in den Klubs; eine offizielle Geselligkeit gibt es nicht. Der Korso ist sehr besucht; es gibt wohl keine europäische Hauptstadt, wo man schönere Pferde und elegantere Equipagen sehen kann als dort — vielleicht Se. Petersburg aus¬ genommen. In der großen Oper, in der während der Monate Juli und August von den ersten italienischen Kräften gespielt wird, gibt sich die Gesellschaft allabendlich ein Stelldichein. Alle Welt, auch im Parkett, ist in großer Toilette, und da die jungen Mädchen in den Logen grundsätzlich die vorderen Plätze einnehmen, so bietet das Haus einen vornehmen und ungewöhnlich schönen Anblick. Außer der großen Oper gibt es noch eine zweite italienische Oper, die ebenfalls ersten Ranges ist; in der Regel eine französische Operette oder Lustspiel,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/422>, abgerufen am 03.07.2024.