Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Nationalstaat oder Wirtschaftsverband? Hauptstadt abzuholen, galt Österreich noch als ein deutscher Staat. Wenigstens Ähnlich liegt die Entwicklung im russischen Anteil von Polen. Nur sind Die großen Errungenschaften unserer Wirtschaft haben die Fiktion entstehn Nationalstaat oder Wirtschaftsverband? Hauptstadt abzuholen, galt Österreich noch als ein deutscher Staat. Wenigstens Ähnlich liegt die Entwicklung im russischen Anteil von Polen. Nur sind Die großen Errungenschaften unserer Wirtschaft haben die Fiktion entstehn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315658"/> <fw type="header" place="top"> Nationalstaat oder Wirtschaftsverband?</fw><lb/> <p xml:id="ID_31" prev="#ID_30"> Hauptstadt abzuholen, galt Österreich noch als ein deutscher Staat. Wenigstens<lb/> war die Regierung deutsch und deutsch schien auch das Heer. Schon im Jahre 1872<lb/> gestattete diese deutsche Regierung die Austreibung des deutschen Einflusses aus<lb/> allen Teilen der Verwaltung Galiziens. Dann ist sie Schritt für Schritt vor<lb/> den Ansprüchen der Ungarn, Polen, Tschechen und schließlich der Italiener<lb/> zurückgewichen. Die deutschen Führer der Wirtschaft aber begannen die deutschen<lb/> Stellungen zu räumen, weil ihre wirtschaftlichen Interessen sich immer mehr<lb/> mit denen ihrer slawischen Arbeiter vereinigen. Der Adel in Böhmen, der<lb/> durch Jahrhunderte deutsch war, oder wenigstens wegen seiner dynastischen<lb/> Beziehungen mit dem Deutschtum hielt, hat seit dreißig Jahren angefangen, sich<lb/> als einen Teil des tschechischen Volks zu betrachten, weil es gemeinsame Interessen<lb/> mit den Massen gefunden hat. Arthur Krupp in Berndorf, ein Vetter des<lb/> verstorbenen Alfred Krupp in Essen, muß im Interesse seiner Unternehmung im<lb/> Weichbilde der deutschen Stadt Wien eine tschechische Schule einrichten. Es<lb/> sind somit Anzeichen dafür vorhanden, daß die Slawisierung Österreichs nicht<lb/> nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft Fortschritte macht. Die<lb/> Entwicklung auf dem nördlichen Balkan dürfte zunächst in derselben Richtung<lb/> wirken; sie treibt Österreich immer mehr zur führenden Stellung in der slawischen<lb/> Welt. Freilich treibt sie auch zur Auseinandersetzung mit Rußland. In dieser<lb/> Richtung drängen auch die Wünsche der Polen. Denn nur ein Krieg zwischen<lb/> den Unterzeichnern des Wiener Vertrages von 1815 kann Aussicht auf weitere<lb/> Vereinigung ehemals polnischer Landesteile eröffnen. Die gegenwärtige Lage<lb/> erinnert in dieser Beziehung lebhaft an die Zeit von 1877 bis 1879. Auch<lb/> damals hofften die Polen auf einen Zusammenstoß der Vertragsmächte, und bei<lb/> einem Jubiläum in Krakau konnte Stanislaw Kozmian ausrufen, die Warschauer<lb/> Polen wüßten, wohin sie gehörten. Die Slawisierung Österreichs in dem<lb/> angedeuteten weiten Maße ist nur möglich geworden, weil das Deutschtum in<lb/> den habsburgischen Landen keinen Rückhalt an der Hauptmasse des Deutschtums<lb/> im Reich hat. Die österreichischen Jnteressenverbände fordern schwarzgelbe Staats¬<lb/> bürger und nicht deutsche Kulturträger. Die Entwicklung der Wirtschaft hüben<lb/> und drüben hat zwischen die Deutschen hemmende Mauern geschoben.</p><lb/> <p xml:id="ID_32"> Ähnlich liegt die Entwicklung im russischen Anteil von Polen. Nur sind<lb/> die vom Reiche abgeschnittenen Deutschen dort nicht russifiziert, sondern polonisiert.<lb/> Die deutschen Unternehmer in Lodz und Warschau werden aus demselben Grunde<lb/> Polen, wie der böhmische Adel tschechisch wird; die russische Regierung kann sie<lb/> nicht vor der Polonisierung schützen, weil sie weder über kulturelle noch wirtschaftliche<lb/> Machtmittel verfügt, mit denen sie politisch wirken könnte. In beiden Ländern hat<lb/> das Deutschtum sowohl die kulturellen wie die wirtschaftlichen Machtmittel in<lb/> der Hand, darf es aber mit Rücksicht auf die heimische Wirtschaft nicht wagen,<lb/> sich ihrer politisch zu bedienen.</p><lb/> <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Die großen Errungenschaften unserer Wirtschaft haben die Fiktion entstehn<lb/> lassen, als könne alles mit Geld „gemacht", d. h. erzwungen werden. Wir</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
Nationalstaat oder Wirtschaftsverband?
Hauptstadt abzuholen, galt Österreich noch als ein deutscher Staat. Wenigstens
war die Regierung deutsch und deutsch schien auch das Heer. Schon im Jahre 1872
gestattete diese deutsche Regierung die Austreibung des deutschen Einflusses aus
allen Teilen der Verwaltung Galiziens. Dann ist sie Schritt für Schritt vor
den Ansprüchen der Ungarn, Polen, Tschechen und schließlich der Italiener
zurückgewichen. Die deutschen Führer der Wirtschaft aber begannen die deutschen
Stellungen zu räumen, weil ihre wirtschaftlichen Interessen sich immer mehr
mit denen ihrer slawischen Arbeiter vereinigen. Der Adel in Böhmen, der
durch Jahrhunderte deutsch war, oder wenigstens wegen seiner dynastischen
Beziehungen mit dem Deutschtum hielt, hat seit dreißig Jahren angefangen, sich
als einen Teil des tschechischen Volks zu betrachten, weil es gemeinsame Interessen
mit den Massen gefunden hat. Arthur Krupp in Berndorf, ein Vetter des
verstorbenen Alfred Krupp in Essen, muß im Interesse seiner Unternehmung im
Weichbilde der deutschen Stadt Wien eine tschechische Schule einrichten. Es
sind somit Anzeichen dafür vorhanden, daß die Slawisierung Österreichs nicht
nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft Fortschritte macht. Die
Entwicklung auf dem nördlichen Balkan dürfte zunächst in derselben Richtung
wirken; sie treibt Österreich immer mehr zur führenden Stellung in der slawischen
Welt. Freilich treibt sie auch zur Auseinandersetzung mit Rußland. In dieser
Richtung drängen auch die Wünsche der Polen. Denn nur ein Krieg zwischen
den Unterzeichnern des Wiener Vertrages von 1815 kann Aussicht auf weitere
Vereinigung ehemals polnischer Landesteile eröffnen. Die gegenwärtige Lage
erinnert in dieser Beziehung lebhaft an die Zeit von 1877 bis 1879. Auch
damals hofften die Polen auf einen Zusammenstoß der Vertragsmächte, und bei
einem Jubiläum in Krakau konnte Stanislaw Kozmian ausrufen, die Warschauer
Polen wüßten, wohin sie gehörten. Die Slawisierung Österreichs in dem
angedeuteten weiten Maße ist nur möglich geworden, weil das Deutschtum in
den habsburgischen Landen keinen Rückhalt an der Hauptmasse des Deutschtums
im Reich hat. Die österreichischen Jnteressenverbände fordern schwarzgelbe Staats¬
bürger und nicht deutsche Kulturträger. Die Entwicklung der Wirtschaft hüben
und drüben hat zwischen die Deutschen hemmende Mauern geschoben.
Ähnlich liegt die Entwicklung im russischen Anteil von Polen. Nur sind
die vom Reiche abgeschnittenen Deutschen dort nicht russifiziert, sondern polonisiert.
Die deutschen Unternehmer in Lodz und Warschau werden aus demselben Grunde
Polen, wie der böhmische Adel tschechisch wird; die russische Regierung kann sie
nicht vor der Polonisierung schützen, weil sie weder über kulturelle noch wirtschaftliche
Machtmittel verfügt, mit denen sie politisch wirken könnte. In beiden Ländern hat
das Deutschtum sowohl die kulturellen wie die wirtschaftlichen Machtmittel in
der Hand, darf es aber mit Rücksicht auf die heimische Wirtschaft nicht wagen,
sich ihrer politisch zu bedienen.
Die großen Errungenschaften unserer Wirtschaft haben die Fiktion entstehn
lassen, als könne alles mit Geld „gemacht", d. h. erzwungen werden. Wir
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