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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Nationalstaat oder lvirtschaftsverbcmd?

bürger in Frankreich oder Rußland oder sonstwo zu werden. Je nach den
politischen Beziehungen der gerade in Frage kommenden Länder zum Deutschen
Reich wird der Staatsbürger deutscher Zunge dem Deutschen Reich Freund oder
Feind sein müssen. In vielen Fällen wird die Haltung des ausgewanderten
Deutschen zur einen oder anderen Nationalität auch davon abhängen, welcher
Staat imstande sein wird, die materiellen Interessen des Einzelnen am wirk¬
samsten zu schützen. Wer die Verhandlungen, die die letzten Handelsverträge
vorbereiteten, verfolgt hat, wird sich erinnern, daß deutsche Firmen sogar, die
sowohl im In- wie Auslande Fabriken haben, versuchen, solche Tarife in den
Handelsvertrag zu bringen, die geradewegs eure Schädigung einheimischer Unter-
nehmungen und eure Förderung der russischen zum Ziel hatten.

Durch die Auswanderung, die sich nach Schließung der russischen Grenze
hauptsächlich nach Amerika wandte, sind dem Deutschen Reiche zahlreiche gute
Kräfte verloren gegangen. Eine mangelhafte, durch Formalismus beschwerte
Gesetzgebung fördert diese Verluste bis heute. Um diesen Verlusten Einhalt zu
tun, ohne es zu einem Bruch mit Rußland kommen zu lassen -- diese Rücksicht
stand auch im Mittelpunkte der Bismarckschen Politik --, wurde der Erwerb
von Kolonien gefördert, auf den zu gleicher Zeit auch rührige Handelsherren
aus den Hansastädten bedacht waren. Mit der kolonialen Ära wurde nun freilich
erreicht, daß dem Deutschen Reich alljährlich einige tausend "Staatsbürger"
erhalten bleiben, aber das "Deutschtum" als solches in der Heimat, auf dem
Kontinent wurde nicht gekräftigt. Im Gegenteil, wir sehen im Verlauf der
Entwicklung, daß auch die Kolonialpolitik unsere nationale Stoßkraft schwächt,
wenn wir auch unumwunden zugeben, daß sie der nationalen Wirtschaft unzählige
Betätigungsgebiete eröffnet hat.

Zunächst geht mit der Ausdehnung der Kolonien die Notwendigkeit einer
Vergrößerung unproduktiver Ausgaben Hand in Hand. Die Sicherheit unserer
Kolonien erfordert die Haltung einer SchtEtruppe, fordert die ständige Ver¬
größerung unserer Flotte. Gewiß, Handel und Wandel beleben sich mächtig.
Aber diese Belebung hat, so sehr wir uns ihrer freuen, auch eine Kehrseite.
Die unter dem Schutzzoll entstandene Industrie, die die ganze Welt mit ihren
Erzeugnissen versieht, stellt diese Erzeugnisse längst nicht mehr mit den eigenen
deutschen Händen her, sondern muß, um den Anforderungen des Weltmarkts
genügen zu können, viele hunderttausend nichtdeutsche, zum größten Teil sogar
ausländische Arbeiter heranziehen. Um unser Kapital an Energie, Geist
und Geld beschäftigen zu können, müssen wir Menschen von geringerer Kultur
heranziehen. Die Zahl dieser ausländischen Kräfte aber wird um so schneller
anwachsen, je besser sich unsere industrielle Entwicklung vollzieht. Aufzuhalten
ist diese Entwicklung heute uicht mehr ohne den schwersten materiellen Schaden
für das Reich und die Gesamtheit der Staatsbürger. Neben den steigenden
Bedürfnissen an Arbeitskräften ist auch die Wiederausfrischung des Bauernstandes
in der Ostmark nur ein so winziges Mittel, daß es im Zusammenhang mit der


Nationalstaat oder lvirtschaftsverbcmd?

bürger in Frankreich oder Rußland oder sonstwo zu werden. Je nach den
politischen Beziehungen der gerade in Frage kommenden Länder zum Deutschen
Reich wird der Staatsbürger deutscher Zunge dem Deutschen Reich Freund oder
Feind sein müssen. In vielen Fällen wird die Haltung des ausgewanderten
Deutschen zur einen oder anderen Nationalität auch davon abhängen, welcher
Staat imstande sein wird, die materiellen Interessen des Einzelnen am wirk¬
samsten zu schützen. Wer die Verhandlungen, die die letzten Handelsverträge
vorbereiteten, verfolgt hat, wird sich erinnern, daß deutsche Firmen sogar, die
sowohl im In- wie Auslande Fabriken haben, versuchen, solche Tarife in den
Handelsvertrag zu bringen, die geradewegs eure Schädigung einheimischer Unter-
nehmungen und eure Förderung der russischen zum Ziel hatten.

Durch die Auswanderung, die sich nach Schließung der russischen Grenze
hauptsächlich nach Amerika wandte, sind dem Deutschen Reiche zahlreiche gute
Kräfte verloren gegangen. Eine mangelhafte, durch Formalismus beschwerte
Gesetzgebung fördert diese Verluste bis heute. Um diesen Verlusten Einhalt zu
tun, ohne es zu einem Bruch mit Rußland kommen zu lassen — diese Rücksicht
stand auch im Mittelpunkte der Bismarckschen Politik —, wurde der Erwerb
von Kolonien gefördert, auf den zu gleicher Zeit auch rührige Handelsherren
aus den Hansastädten bedacht waren. Mit der kolonialen Ära wurde nun freilich
erreicht, daß dem Deutschen Reich alljährlich einige tausend „Staatsbürger"
erhalten bleiben, aber das „Deutschtum" als solches in der Heimat, auf dem
Kontinent wurde nicht gekräftigt. Im Gegenteil, wir sehen im Verlauf der
Entwicklung, daß auch die Kolonialpolitik unsere nationale Stoßkraft schwächt,
wenn wir auch unumwunden zugeben, daß sie der nationalen Wirtschaft unzählige
Betätigungsgebiete eröffnet hat.

Zunächst geht mit der Ausdehnung der Kolonien die Notwendigkeit einer
Vergrößerung unproduktiver Ausgaben Hand in Hand. Die Sicherheit unserer
Kolonien erfordert die Haltung einer SchtEtruppe, fordert die ständige Ver¬
größerung unserer Flotte. Gewiß, Handel und Wandel beleben sich mächtig.
Aber diese Belebung hat, so sehr wir uns ihrer freuen, auch eine Kehrseite.
Die unter dem Schutzzoll entstandene Industrie, die die ganze Welt mit ihren
Erzeugnissen versieht, stellt diese Erzeugnisse längst nicht mehr mit den eigenen
deutschen Händen her, sondern muß, um den Anforderungen des Weltmarkts
genügen zu können, viele hunderttausend nichtdeutsche, zum größten Teil sogar
ausländische Arbeiter heranziehen. Um unser Kapital an Energie, Geist
und Geld beschäftigen zu können, müssen wir Menschen von geringerer Kultur
heranziehen. Die Zahl dieser ausländischen Kräfte aber wird um so schneller
anwachsen, je besser sich unsere industrielle Entwicklung vollzieht. Aufzuhalten
ist diese Entwicklung heute uicht mehr ohne den schwersten materiellen Schaden
für das Reich und die Gesamtheit der Staatsbürger. Neben den steigenden
Bedürfnissen an Arbeitskräften ist auch die Wiederausfrischung des Bauernstandes
in der Ostmark nur ein so winziges Mittel, daß es im Zusammenhang mit der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/17>, abgerufen am 02.10.2024.