Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Die Verwaltung der geistigen Güter Sinnlichkeit entgegenkommt und die praktischen Fähigkeiten stärkt, weil es sie Die Verwaltung der geistigen Güter Sinnlichkeit entgegenkommt und die praktischen Fähigkeiten stärkt, weil es sie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315759"/> <fw type="header" place="top"> Die Verwaltung der geistigen Güter</fw><lb/> <p xml:id="ID_629" prev="#ID_628" next="#ID_630"> Sinnlichkeit entgegenkommt und die praktischen Fähigkeiten stärkt, weil es sie<lb/> ruhen läßt und dafür zu anderen Kräften spricht. In einem Organismus<lb/> stehen alle Kräfte untereinander in Wechselwirkung. Liegen bestimmte Partien<lb/> brach, so leiden die anderen. Ein Gelehrter, der sich nur mit abstrakter Denk¬<lb/> tätigkeit befaßte, würde bald aufhören, ein Gelehrter zu sein, und ein Praktiker,<lb/> dessen kulturelle Gehirnpartien niemals befruchtet würden, würde auch als<lb/> Praktiker bald zweiten Ranges und untergeordnet werden. Er würde vom<lb/> Praktiker zum praktischen Banausen herabsinken und vom praktischen Banausen<lb/> zum ganz gewöhnlichen Dummkopf hätte er es dann nicht mehr allzu weit.<lb/> Nun besteht zwar für die Erfrischung durch die Kunst das Ersatzmittel des<lb/> Amüsements. Die stille Freude an einem Buch, das ernsthafte Theater, die<lb/> Gemäldegalerie kann durch das Weinrestaurant und den Bierpalast insofern<lb/> ersetzt werden, als beide einen gewissen Wechsel schaffen. Es besteht nur der<lb/> peinliche Unterschied, daß das Amüsement seine Anhänger mit leerem Kopf und<lb/> leerem Herzen entläßt, daß es zwar gewisse Kräfte ausspannt, den anderen aber<lb/> keine Nahrung zuführt und darum notwendig verödend und schließlich auch<lb/> verheerend wirken muß. Mit leeren Köpfen und leeren Herzen kann man<lb/> gewiß vortreffliche Geschäfte machen, es gibt sogar Geschäfte, bei denen die<lb/> beiden raren Dinge unerläßliche Voraussetzung sind. Das nationale Geschäft<lb/> aber, das nationale wirtschaftliche Leben sinkt sofort, wenn die Herzen und<lb/> Köpfe verarmen. Der praktische Banause ist ein Schmarotzer, der nur da ist,<lb/> weil andere noch keine Banausen geworden sind. Ohne Intelligenz und ohne<lb/> die erfrischende Kraft der Kultur gedeiht heute kein modernes Wirtschaftsleben,<lb/> und daß das zweite von diesen beiden Dingen in England so tief gesunken ist,<lb/> will mir als der schwächste Punkt in der wirtschaftlichen Existenz Englands<lb/> erscheinen. Die Roheit ist schwach, wie sie auch immer mit ihren prallen<lb/> Muskeln renommieren mag. Wenn in einen: Volk der Sport die kulturelle<lb/> Erfrischung verdrängt, die vor allem die Kunst gewährt, so ist das eine Dekadenz<lb/> so gut wie Rückenmarksdarre und Maitressenkultus auch eine ist. Ohne die<lb/> Frische der Empfindung, die man sich nur durch den Zusammenhang mit den<lb/> reichen Empfindungsschätzen der Kunst bewahrt, gibt es keine wirkliche Frische<lb/> des Geistes und keine wirkliche Frische des Willens — es gibt nur noch Hab¬<lb/> sucht und Rücksichtslosigkeit. Diese beiden Dinge aber können zwar den Ein¬<lb/> zelnen bereichern, niemals aber ein Volk. Und woher sollten wir den vater¬<lb/> ländischen Ernst wohl nehmen, ohne den man sich zwar einen Haufen galizisches<lb/> Gesindel. niemals aber ein nobles Volk denken kann? Woher sollte er wohl<lb/> stammen, wenn nicht aus dem kulturellen Ernst, der seine unerläßliche Vor¬<lb/> bedingung ist? Und welches Bild bietet der Geist des Familienlebens, wenn<lb/> kein Strahl der deutsche« Kultur in die Zimmer fällt? Und welche Bedeutung<lb/> wiederum hat ein gehaltvolles Familienleben für die Kraft der heranwachsenden<lb/> Generation? Die kulturellen Güter und der kulturelle Blutumlauf in einem<lb/> Volk sind für die nationale und wirtschaftliche Kraft in Wirklichkeit von der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0120]
Die Verwaltung der geistigen Güter
Sinnlichkeit entgegenkommt und die praktischen Fähigkeiten stärkt, weil es sie
ruhen läßt und dafür zu anderen Kräften spricht. In einem Organismus
stehen alle Kräfte untereinander in Wechselwirkung. Liegen bestimmte Partien
brach, so leiden die anderen. Ein Gelehrter, der sich nur mit abstrakter Denk¬
tätigkeit befaßte, würde bald aufhören, ein Gelehrter zu sein, und ein Praktiker,
dessen kulturelle Gehirnpartien niemals befruchtet würden, würde auch als
Praktiker bald zweiten Ranges und untergeordnet werden. Er würde vom
Praktiker zum praktischen Banausen herabsinken und vom praktischen Banausen
zum ganz gewöhnlichen Dummkopf hätte er es dann nicht mehr allzu weit.
Nun besteht zwar für die Erfrischung durch die Kunst das Ersatzmittel des
Amüsements. Die stille Freude an einem Buch, das ernsthafte Theater, die
Gemäldegalerie kann durch das Weinrestaurant und den Bierpalast insofern
ersetzt werden, als beide einen gewissen Wechsel schaffen. Es besteht nur der
peinliche Unterschied, daß das Amüsement seine Anhänger mit leerem Kopf und
leerem Herzen entläßt, daß es zwar gewisse Kräfte ausspannt, den anderen aber
keine Nahrung zuführt und darum notwendig verödend und schließlich auch
verheerend wirken muß. Mit leeren Köpfen und leeren Herzen kann man
gewiß vortreffliche Geschäfte machen, es gibt sogar Geschäfte, bei denen die
beiden raren Dinge unerläßliche Voraussetzung sind. Das nationale Geschäft
aber, das nationale wirtschaftliche Leben sinkt sofort, wenn die Herzen und
Köpfe verarmen. Der praktische Banause ist ein Schmarotzer, der nur da ist,
weil andere noch keine Banausen geworden sind. Ohne Intelligenz und ohne
die erfrischende Kraft der Kultur gedeiht heute kein modernes Wirtschaftsleben,
und daß das zweite von diesen beiden Dingen in England so tief gesunken ist,
will mir als der schwächste Punkt in der wirtschaftlichen Existenz Englands
erscheinen. Die Roheit ist schwach, wie sie auch immer mit ihren prallen
Muskeln renommieren mag. Wenn in einen: Volk der Sport die kulturelle
Erfrischung verdrängt, die vor allem die Kunst gewährt, so ist das eine Dekadenz
so gut wie Rückenmarksdarre und Maitressenkultus auch eine ist. Ohne die
Frische der Empfindung, die man sich nur durch den Zusammenhang mit den
reichen Empfindungsschätzen der Kunst bewahrt, gibt es keine wirkliche Frische
des Geistes und keine wirkliche Frische des Willens — es gibt nur noch Hab¬
sucht und Rücksichtslosigkeit. Diese beiden Dinge aber können zwar den Ein¬
zelnen bereichern, niemals aber ein Volk. Und woher sollten wir den vater¬
ländischen Ernst wohl nehmen, ohne den man sich zwar einen Haufen galizisches
Gesindel. niemals aber ein nobles Volk denken kann? Woher sollte er wohl
stammen, wenn nicht aus dem kulturellen Ernst, der seine unerläßliche Vor¬
bedingung ist? Und welches Bild bietet der Geist des Familienlebens, wenn
kein Strahl der deutsche« Kultur in die Zimmer fällt? Und welche Bedeutung
wiederum hat ein gehaltvolles Familienleben für die Kraft der heranwachsenden
Generation? Die kulturellen Güter und der kulturelle Blutumlauf in einem
Volk sind für die nationale und wirtschaftliche Kraft in Wirklichkeit von der
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