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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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des notwendigen liegt der große Stil", wie Schiller sagte. Marsch nun war
nicht nur dem Zufälligen, dein Unbelebten und der landschaftlichen Natur
gegenüber gleichgültig, er übersah geflissentlich auch das Individuum, und ver¬
zichtete in selbstauferlegter Beschränkung auf die Wiedergabe des Reizes, der
Schönheit, der Anmut des einzelnen konkreten Menschen. Er verlangte nicht
das Besondere, Jeweilige, sondern das Gemeinsame, Typische, allen Wesentliche.
Und von seinen Malereien begehrte er, daß sie die sichtbaren Darstellungen
des Begriffes "Mensch" sein, daß sie das dem Menschen Wesentliche künstlerisch
zum Ausdruck bringen, dabei aber als Formgebilde architektonisch wirken möchten.

Seiner eigentümlichen Anschauung gemäß fühlte er sich zur Betonung der
Form gedrängt; denn er war davon überzeugt, daß sich in der Form das
Wesentliche restlos zum Ausdruck ringe. Diesen Ausdruck des Wesentlichen
seinerseits im Bildwerk zu immer klareren, eindringlicherem, wuchtigen: künstlerischen
Ausdruck zu entwickeln, war er Zeit seines Lebens auf das begierigste bemüht.
In seinen: Streben nach Form steht er nun einigen modernen Künstlern nahe;
er kam zu seinen: ästhetischen Programm auf intellektuellen: Wege, während
jene Formkünstler, die ich hier in: Auge habe, mehr instinktmäßig, durch ihr
Temperament dahin gelangten, ähnliches anzustreben.

Ein Wichtiges, das in seiner ganzen Tragweite und Ausnutzungsmöglichkeit
für die Erlangung stilmüßiger Wirkung in: Bilde von den Impressionisten
selbst nicht genügend gewürdigt wurde, und das von ungleich höherer Bedeutung
ist als die neu gewonnenen technischen Ausdrucksmittel, ist die vom Im¬
pressionismus eingeführte besondere Art des Sehens: das Sehen der großen
Form. Sie war bereits Marsch zu eigen. Den großen Eindruck von Form,
Farbe und Ton erhalten wir, wenn wir die Sehliuien parallel einstellen und
solcherweise die Erscheinungen ins Auge fassen. Auf dieser Art des Sehens
beruht der bildkünstlerische Impressionismus, der daraus die notwendigen
Folgerungen zieht. Wenn wir den tastenden Blick, um einen Ausdruck des
Bildhauers Hildebrand, der ein vertrauter Freund vou Marsch' war, zu ge¬
brauchen, ohne ihn auf einen bestimmten Teil der Erscheinung zu richten, den
ganzen Gegenstand umfassen lassen, werden die Einzelheiten untergeordnet und
nur der Umriß des Dinges wahrgenommen. Je nach den: individuell be¬
dingten verschiedenen Erfassen wird der Dingumriß eckiger oder rundlicher,
aber stets als einfache und große Form gesehen werde::. Eine solcherart ge¬
gebene Grundform einheitlich mit ihren künstlerischen Abwechslungen in: Bilde
durchgeführt, ergibt den Stil. Es wird also das Streben nach Stil (Max
Liebermann nennt ihn den Endzweck der Kunst) durch die individuelle Wieder¬
gabe der großen Form und deren einheitlichen Durchführung begünstigt.

Diese eminent künstlerisch wirkende Betonung der großen Form haben die
extrem gewordenen Impressionisten vernachlässigt; sie haben sogar teilweise
gänzlich auf sie verzichtet, und sich dadurch um ein ungemein starkes künstlerisches,
nicht bloß technisches Mittel gebracht.


des notwendigen liegt der große Stil", wie Schiller sagte. Marsch nun war
nicht nur dem Zufälligen, dein Unbelebten und der landschaftlichen Natur
gegenüber gleichgültig, er übersah geflissentlich auch das Individuum, und ver¬
zichtete in selbstauferlegter Beschränkung auf die Wiedergabe des Reizes, der
Schönheit, der Anmut des einzelnen konkreten Menschen. Er verlangte nicht
das Besondere, Jeweilige, sondern das Gemeinsame, Typische, allen Wesentliche.
Und von seinen Malereien begehrte er, daß sie die sichtbaren Darstellungen
des Begriffes „Mensch" sein, daß sie das dem Menschen Wesentliche künstlerisch
zum Ausdruck bringen, dabei aber als Formgebilde architektonisch wirken möchten.

Seiner eigentümlichen Anschauung gemäß fühlte er sich zur Betonung der
Form gedrängt; denn er war davon überzeugt, daß sich in der Form das
Wesentliche restlos zum Ausdruck ringe. Diesen Ausdruck des Wesentlichen
seinerseits im Bildwerk zu immer klareren, eindringlicherem, wuchtigen: künstlerischen
Ausdruck zu entwickeln, war er Zeit seines Lebens auf das begierigste bemüht.
In seinen: Streben nach Form steht er nun einigen modernen Künstlern nahe;
er kam zu seinen: ästhetischen Programm auf intellektuellen: Wege, während
jene Formkünstler, die ich hier in: Auge habe, mehr instinktmäßig, durch ihr
Temperament dahin gelangten, ähnliches anzustreben.

Ein Wichtiges, das in seiner ganzen Tragweite und Ausnutzungsmöglichkeit
für die Erlangung stilmüßiger Wirkung in: Bilde von den Impressionisten
selbst nicht genügend gewürdigt wurde, und das von ungleich höherer Bedeutung
ist als die neu gewonnenen technischen Ausdrucksmittel, ist die vom Im¬
pressionismus eingeführte besondere Art des Sehens: das Sehen der großen
Form. Sie war bereits Marsch zu eigen. Den großen Eindruck von Form,
Farbe und Ton erhalten wir, wenn wir die Sehliuien parallel einstellen und
solcherweise die Erscheinungen ins Auge fassen. Auf dieser Art des Sehens
beruht der bildkünstlerische Impressionismus, der daraus die notwendigen
Folgerungen zieht. Wenn wir den tastenden Blick, um einen Ausdruck des
Bildhauers Hildebrand, der ein vertrauter Freund vou Marsch' war, zu ge¬
brauchen, ohne ihn auf einen bestimmten Teil der Erscheinung zu richten, den
ganzen Gegenstand umfassen lassen, werden die Einzelheiten untergeordnet und
nur der Umriß des Dinges wahrgenommen. Je nach den: individuell be¬
dingten verschiedenen Erfassen wird der Dingumriß eckiger oder rundlicher,
aber stets als einfache und große Form gesehen werde::. Eine solcherart ge¬
gebene Grundform einheitlich mit ihren künstlerischen Abwechslungen in: Bilde
durchgeführt, ergibt den Stil. Es wird also das Streben nach Stil (Max
Liebermann nennt ihn den Endzweck der Kunst) durch die individuelle Wieder¬
gabe der großen Form und deren einheitlichen Durchführung begünstigt.

Diese eminent künstlerisch wirkende Betonung der großen Form haben die
extrem gewordenen Impressionisten vernachlässigt; sie haben sogar teilweise
gänzlich auf sie verzichtet, und sich dadurch um ein ungemein starkes künstlerisches,
nicht bloß technisches Mittel gebracht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/94>, abgerufen am 24.07.2024.