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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Romane

historischer Belebung, die besonders ihren vorletzten Novellenband auszeichnete,
in der Erzählung "Auge um Auge". Da malt sie die düstern Geschicke eines
Hofes und eines Dorfes in Westfalen im Mindener Bezirk zur Zeit der
Franzosenherrschaft: Bedrückung, Not, Quälerei, blutige Rache und ruhiges
Opfer des Vaters für den Sohn und für sein Haus -- das alles kommt da
historisch und menschlich lebendig empor in der spröden, echten Färbung, die
diese Dichterin überhaupt ihren Gebilden zu geben weiß. Das matte Licht
jener Tage, noch vom Winter verfinstert, scheint durch die Scheiben, wenn
hinten in der Bibel der Bauernvogt Tag um Tag seine Rechnung gegen
die Franzosen einträgt und schließlich selbst das Konto glatt macht, indem er
den deutschen Kapitän, der sich zum Franzosen gemacht hat, niederschießt. Die
Novelle ist ein Prachtstück historischer Heimatkunst.

Dein Nachlaß Detlevs von Liliencron ist nun auch der Ernsts von
Wildenbruch gefolgt. Neben dem Schauspiel "Der deutsche König" und den
"Letzten Gedichten" enthält er auch einen kleinen Band Novellen, der den jetzt
doppelt bedeutsamen Titel trägt: "Die letzte Partie" (Berlin, G. Grote). Es sind
zwei Geschichten, eine lange und eine kurze. Aber wie die kurze dem Ganzen
den Titel gegeben hat, so gibt auch sie allein einen wirklichen letzten Begriff
von Wildenbruchs erzählender Kunst. Die Erzählung von den beiden Zwillings¬
brüdern, die sich aus spröder Liebe im Leben aus dem Wege gegangen sind
und nun erst als alte Leute regelmäßig zu einer Partie Billard zusammen¬
kommen, klingt aus in ein gespenstisches Erlebnis, das der überlebende Bruder
aufzeichnet. Er hat in der Todesstunde des anderen mit diesem noch eine
letzte Partie gespielt, und niemand außer ihm selbst hat den Mitspieler kommen
und gehen sehen, der andere aber stirbt ihm rasch nach. Die Kunst, ein
ungewöhnliches Erlebnis aufs knappste zusammenzupressen, offenbart sich in
dieser schlichten Geschichte noch einmal, nicht mehr mit der brausenden Leiden¬
schaft, die jüngere Schöpfungen Wildenbruchs durchdrang, aber noch mit dem
ganzen, nimmermüden Herzschlag einer immer wieder gestaltenden Phantasie.

Wenn ich freilich offen heraus sagen sollte, welchem Buch unter allen, die
diese Zeit mir ins Hans trug, ich den Preis gebe, so wäre es der Roman
von Hermine Villinger "Die Nebächle" (Stuttgart und Leipzig, Deutsche
Verlagsanstalt). Die schöne Tochter einer schönen, verwitweten Hofschauspieleriu
in.Karlsruhe heiratet einen schwäbischen Freiherrn von Rebach, einen schwachen,
kallösen Mann, neben dein die zarte, energielose Frau dahinlebt, ohne irgend¬
wie die Erziehung ihrer sechs Töchter wirklich zu beeinflussen. Die jungen
Baronessen wachsen auf dem verschuldeten und immer mehr heruuterkommenden
Rittergut in völliger Freiheit auf, hinter der aber die Großmutter steht,
eine Frau so voller Humor, Natürlichkeit und Herzensgüte, daß man
Hermine Villinger die Wirkung auf dies junge Geschlecht und über ihr eigenes
Leben hinaus völlig glaubt. Und so werden aus den sechs Rebächles sechs
Menschen, die schwerer oder leichter zu kämpfen haben, aber alle sechs ins
volle Leben hinein und durch das Leben hindurch kommen, ganz freilich die
Enkel der Großmutter, außer einer nicht mehr die Kinder ihrer Eltern. Es
geht hurtig her in dem Buche, die Geschicke purzeln durcheinander, es geschieht
auch wohl'mal eine nicht ganz mißglückte Abschweifung in fremde Verhältnisse,
aber wo die Rebächles mit der Großmutter, der alten französischen Erzieherin,
der bärbeißigen Köchin und dem Dorflehrer unter sich sind, da sprudelt es
nur so von echtem, humorvollen: und vor allem durch und durch liebeerfülltem
Leben. Es ist ein Buch, an dem sich ein Kranker gesund und ein Trübsinniger


Deutsche Romane

historischer Belebung, die besonders ihren vorletzten Novellenband auszeichnete,
in der Erzählung „Auge um Auge". Da malt sie die düstern Geschicke eines
Hofes und eines Dorfes in Westfalen im Mindener Bezirk zur Zeit der
Franzosenherrschaft: Bedrückung, Not, Quälerei, blutige Rache und ruhiges
Opfer des Vaters für den Sohn und für sein Haus — das alles kommt da
historisch und menschlich lebendig empor in der spröden, echten Färbung, die
diese Dichterin überhaupt ihren Gebilden zu geben weiß. Das matte Licht
jener Tage, noch vom Winter verfinstert, scheint durch die Scheiben, wenn
hinten in der Bibel der Bauernvogt Tag um Tag seine Rechnung gegen
die Franzosen einträgt und schließlich selbst das Konto glatt macht, indem er
den deutschen Kapitän, der sich zum Franzosen gemacht hat, niederschießt. Die
Novelle ist ein Prachtstück historischer Heimatkunst.

Dein Nachlaß Detlevs von Liliencron ist nun auch der Ernsts von
Wildenbruch gefolgt. Neben dem Schauspiel „Der deutsche König" und den
„Letzten Gedichten" enthält er auch einen kleinen Band Novellen, der den jetzt
doppelt bedeutsamen Titel trägt: „Die letzte Partie" (Berlin, G. Grote). Es sind
zwei Geschichten, eine lange und eine kurze. Aber wie die kurze dem Ganzen
den Titel gegeben hat, so gibt auch sie allein einen wirklichen letzten Begriff
von Wildenbruchs erzählender Kunst. Die Erzählung von den beiden Zwillings¬
brüdern, die sich aus spröder Liebe im Leben aus dem Wege gegangen sind
und nun erst als alte Leute regelmäßig zu einer Partie Billard zusammen¬
kommen, klingt aus in ein gespenstisches Erlebnis, das der überlebende Bruder
aufzeichnet. Er hat in der Todesstunde des anderen mit diesem noch eine
letzte Partie gespielt, und niemand außer ihm selbst hat den Mitspieler kommen
und gehen sehen, der andere aber stirbt ihm rasch nach. Die Kunst, ein
ungewöhnliches Erlebnis aufs knappste zusammenzupressen, offenbart sich in
dieser schlichten Geschichte noch einmal, nicht mehr mit der brausenden Leiden¬
schaft, die jüngere Schöpfungen Wildenbruchs durchdrang, aber noch mit dem
ganzen, nimmermüden Herzschlag einer immer wieder gestaltenden Phantasie.

Wenn ich freilich offen heraus sagen sollte, welchem Buch unter allen, die
diese Zeit mir ins Hans trug, ich den Preis gebe, so wäre es der Roman
von Hermine Villinger „Die Nebächle" (Stuttgart und Leipzig, Deutsche
Verlagsanstalt). Die schöne Tochter einer schönen, verwitweten Hofschauspieleriu
in.Karlsruhe heiratet einen schwäbischen Freiherrn von Rebach, einen schwachen,
kallösen Mann, neben dein die zarte, energielose Frau dahinlebt, ohne irgend¬
wie die Erziehung ihrer sechs Töchter wirklich zu beeinflussen. Die jungen
Baronessen wachsen auf dem verschuldeten und immer mehr heruuterkommenden
Rittergut in völliger Freiheit auf, hinter der aber die Großmutter steht,
eine Frau so voller Humor, Natürlichkeit und Herzensgüte, daß man
Hermine Villinger die Wirkung auf dies junge Geschlecht und über ihr eigenes
Leben hinaus völlig glaubt. Und so werden aus den sechs Rebächles sechs
Menschen, die schwerer oder leichter zu kämpfen haben, aber alle sechs ins
volle Leben hinein und durch das Leben hindurch kommen, ganz freilich die
Enkel der Großmutter, außer einer nicht mehr die Kinder ihrer Eltern. Es
geht hurtig her in dem Buche, die Geschicke purzeln durcheinander, es geschieht
auch wohl'mal eine nicht ganz mißglückte Abschweifung in fremde Verhältnisse,
aber wo die Rebächles mit der Großmutter, der alten französischen Erzieherin,
der bärbeißigen Köchin und dem Dorflehrer unter sich sind, da sprudelt es
nur so von echtem, humorvollen: und vor allem durch und durch liebeerfülltem
Leben. Es ist ein Buch, an dem sich ein Kranker gesund und ein Trübsinniger


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/72>, abgerufen am 22.12.2024.