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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Romane

Geyer" und "Emsen", Specks "Zwei Seelen", "Buddenbrooks" von Thomas
Mann, "Ludolf Ursleu" vou Ricarda Huch, "Die Wacht am Rhein" von Clara
Viebig, oder den "Rangierbahnhof" von Helene Bostan, um nur diese zu nennen.
Es muß auch Zeiten geben, in denen ohne sonderliche Überraschungen auf dem
nun Erworbenen weiter gearbeitet wird, und es darf in solchen literarisch ruhigen
Tagen und Jahren nicht ungerecht übersehen werden, daß der deutsche Roman
im ganzen in diesen letzten zwanzig Jahren außerordentlich an Gehalt und Form,
an Ümspannungskraft ins Weitere und an Versenkungskraft ins Persönliche und
Engere gewonnen hat. Wenn, auch bei den Büchern dieser Jahreswende, die
überraschenden Züge fehlen, so bleibt doch der ehrlichen Gestaltung genug, auch
da, wo die Verfasser lediglich in der alten Bahn weiterschreiten, neue Höhen
nicht erreichen.

Das ist vor allem bei Gustav Frenssen der Fall. Sein "Klaus Hinrich
Baas" (Berlin, G. Grote) bedeutet im Rückblick auf "Hilligeulei" eine tüchtige
Erhebung, in der Parallele mit dem "Jörn Abt" freilich und mit den "Drei
Getreuen" keinen Fortschritt. Es fehlen all die Dinge, die "Hilligenlei" so
unsympathisch machten -- die sinnliche Überreizung, die hochmütige und dabei
oberflächliche Absprecherei, vor allem in religiösen Dingen, die ganze wirre und
seichte Tendenz einer Wiedergeburt, die doch nur aus einem weit tieferen Er¬
leben heraus geschehen könnte. Aber es fehlen diesem neuen Buch auch zu
seinem Vorteil die konstruktiven Mängel früherer Frenssenscher Werke, es ist viel
straffer zusammengehalten, und wenn Frenssens an sich schöne und volkstüm¬
liche Neigung zu Einstreuungen emportaucht, so geschieht das unaufdringlich und
am rechten Ort. Klaus Hinrich Baas gelangt als Knabe mit den Eltern von
einen: Höfchen in Holstein am Rande der Geest mitten ins betriebsamste
Hamburg, wo der Vater Arbeiter wird. In ihm ist, wie in Jörn Abt, ein
starker Drang nach oben, nach Bildung, nach sozialer Geltung, auch nach Reichtum.
Und nach mannigfachen Schicksalen kommt der Halbwüchsige auf einen ham-
burgischen Kontorsessel, dann nach Indien, wird, als Mann zurückgekehrt, durch
eine rasch entflammte und doch irregehende Neigung in enge, kleinstädtische Ver¬
hältnisse hineingeschoben und arbeitet sich aus diesen wieder ins große kauf¬
männische Leben Hamburgs zurück. Er gewinnt nach Trennung feiner ersten
Ehe die Hand der Tochter eines alten, aber niedergehenden Kaufmannshauses,
bringt dies in die Höhe und kommt zu Vermögen. In dem Augenblick, da
sein Schwager und Teilhaber durch private Spekulation das Haus aufs neue
an deu Rand des Abgrundes bringt, hat Klaus bereits einen anderen Faden
gesponnen und sich einen neuen Weg in ein nach Ostasten arbeitendes Handels¬
haus gebahnt. Hier aber tritt in ihm der seelische Umschwung ein, freilich
schon etwas zu spät für unser Empfinden, denn allzulange schon erscheint er
uns immer mehr als ein reiner Geldjäger und Nüchterling, der weder etwas
von dem großen Wagemut hansischer Kaufmannschaft hat und versteht, noch
auch innerlich emporwächst aus der Misere, deren Anblick und Miterleben seine
Kindheit verdüstert und angespornt hat. Er läuft sich erst zur Ruhe auf alten
heimatlichen Pfaden, auf denen er dann sein ganzes selbstisches Ich kennen
lernt, erkennen muß, wie er nach dem armen Bruder oben in Holstein, auch
in seinen besten Tagen, nie gefragt, wie er im Grunde immer nur an sich und
an Geld gedacht hat. Nur freilich bricht das breite Buch jetzt allzu knapp ab,
denn wir haben nicht die Überzeugung, daß Klaus Hinrich Baas, da er nun
auf Jahre von Weib und Kind hinweg nach China verschlagen wird, als ein
anderer geht und als ein anderer zurückkommen wird. Es bleibt ein un-


Deutsche Romane

Geyer" und „Emsen", Specks „Zwei Seelen", „Buddenbrooks" von Thomas
Mann, „Ludolf Ursleu" vou Ricarda Huch, „Die Wacht am Rhein" von Clara
Viebig, oder den „Rangierbahnhof" von Helene Bostan, um nur diese zu nennen.
Es muß auch Zeiten geben, in denen ohne sonderliche Überraschungen auf dem
nun Erworbenen weiter gearbeitet wird, und es darf in solchen literarisch ruhigen
Tagen und Jahren nicht ungerecht übersehen werden, daß der deutsche Roman
im ganzen in diesen letzten zwanzig Jahren außerordentlich an Gehalt und Form,
an Ümspannungskraft ins Weitere und an Versenkungskraft ins Persönliche und
Engere gewonnen hat. Wenn, auch bei den Büchern dieser Jahreswende, die
überraschenden Züge fehlen, so bleibt doch der ehrlichen Gestaltung genug, auch
da, wo die Verfasser lediglich in der alten Bahn weiterschreiten, neue Höhen
nicht erreichen.

Das ist vor allem bei Gustav Frenssen der Fall. Sein „Klaus Hinrich
Baas" (Berlin, G. Grote) bedeutet im Rückblick auf „Hilligeulei" eine tüchtige
Erhebung, in der Parallele mit dem „Jörn Abt" freilich und mit den „Drei
Getreuen" keinen Fortschritt. Es fehlen all die Dinge, die „Hilligenlei" so
unsympathisch machten — die sinnliche Überreizung, die hochmütige und dabei
oberflächliche Absprecherei, vor allem in religiösen Dingen, die ganze wirre und
seichte Tendenz einer Wiedergeburt, die doch nur aus einem weit tieferen Er¬
leben heraus geschehen könnte. Aber es fehlen diesem neuen Buch auch zu
seinem Vorteil die konstruktiven Mängel früherer Frenssenscher Werke, es ist viel
straffer zusammengehalten, und wenn Frenssens an sich schöne und volkstüm¬
liche Neigung zu Einstreuungen emportaucht, so geschieht das unaufdringlich und
am rechten Ort. Klaus Hinrich Baas gelangt als Knabe mit den Eltern von
einen: Höfchen in Holstein am Rande der Geest mitten ins betriebsamste
Hamburg, wo der Vater Arbeiter wird. In ihm ist, wie in Jörn Abt, ein
starker Drang nach oben, nach Bildung, nach sozialer Geltung, auch nach Reichtum.
Und nach mannigfachen Schicksalen kommt der Halbwüchsige auf einen ham-
burgischen Kontorsessel, dann nach Indien, wird, als Mann zurückgekehrt, durch
eine rasch entflammte und doch irregehende Neigung in enge, kleinstädtische Ver¬
hältnisse hineingeschoben und arbeitet sich aus diesen wieder ins große kauf¬
männische Leben Hamburgs zurück. Er gewinnt nach Trennung feiner ersten
Ehe die Hand der Tochter eines alten, aber niedergehenden Kaufmannshauses,
bringt dies in die Höhe und kommt zu Vermögen. In dem Augenblick, da
sein Schwager und Teilhaber durch private Spekulation das Haus aufs neue
an deu Rand des Abgrundes bringt, hat Klaus bereits einen anderen Faden
gesponnen und sich einen neuen Weg in ein nach Ostasten arbeitendes Handels¬
haus gebahnt. Hier aber tritt in ihm der seelische Umschwung ein, freilich
schon etwas zu spät für unser Empfinden, denn allzulange schon erscheint er
uns immer mehr als ein reiner Geldjäger und Nüchterling, der weder etwas
von dem großen Wagemut hansischer Kaufmannschaft hat und versteht, noch
auch innerlich emporwächst aus der Misere, deren Anblick und Miterleben seine
Kindheit verdüstert und angespornt hat. Er läuft sich erst zur Ruhe auf alten
heimatlichen Pfaden, auf denen er dann sein ganzes selbstisches Ich kennen
lernt, erkennen muß, wie er nach dem armen Bruder oben in Holstein, auch
in seinen besten Tagen, nie gefragt, wie er im Grunde immer nur an sich und
an Geld gedacht hat. Nur freilich bricht das breite Buch jetzt allzu knapp ab,
denn wir haben nicht die Überzeugung, daß Klaus Hinrich Baas, da er nun
auf Jahre von Weib und Kind hinweg nach China verschlagen wird, als ein
anderer geht und als ein anderer zurückkommen wird. Es bleibt ein un-


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[0067] Deutsche Romane Geyer" und „Emsen", Specks „Zwei Seelen", „Buddenbrooks" von Thomas Mann, „Ludolf Ursleu" vou Ricarda Huch, „Die Wacht am Rhein" von Clara Viebig, oder den „Rangierbahnhof" von Helene Bostan, um nur diese zu nennen. Es muß auch Zeiten geben, in denen ohne sonderliche Überraschungen auf dem nun Erworbenen weiter gearbeitet wird, und es darf in solchen literarisch ruhigen Tagen und Jahren nicht ungerecht übersehen werden, daß der deutsche Roman im ganzen in diesen letzten zwanzig Jahren außerordentlich an Gehalt und Form, an Ümspannungskraft ins Weitere und an Versenkungskraft ins Persönliche und Engere gewonnen hat. Wenn, auch bei den Büchern dieser Jahreswende, die überraschenden Züge fehlen, so bleibt doch der ehrlichen Gestaltung genug, auch da, wo die Verfasser lediglich in der alten Bahn weiterschreiten, neue Höhen nicht erreichen. Das ist vor allem bei Gustav Frenssen der Fall. Sein „Klaus Hinrich Baas" (Berlin, G. Grote) bedeutet im Rückblick auf „Hilligeulei" eine tüchtige Erhebung, in der Parallele mit dem „Jörn Abt" freilich und mit den „Drei Getreuen" keinen Fortschritt. Es fehlen all die Dinge, die „Hilligenlei" so unsympathisch machten — die sinnliche Überreizung, die hochmütige und dabei oberflächliche Absprecherei, vor allem in religiösen Dingen, die ganze wirre und seichte Tendenz einer Wiedergeburt, die doch nur aus einem weit tieferen Er¬ leben heraus geschehen könnte. Aber es fehlen diesem neuen Buch auch zu seinem Vorteil die konstruktiven Mängel früherer Frenssenscher Werke, es ist viel straffer zusammengehalten, und wenn Frenssens an sich schöne und volkstüm¬ liche Neigung zu Einstreuungen emportaucht, so geschieht das unaufdringlich und am rechten Ort. Klaus Hinrich Baas gelangt als Knabe mit den Eltern von einen: Höfchen in Holstein am Rande der Geest mitten ins betriebsamste Hamburg, wo der Vater Arbeiter wird. In ihm ist, wie in Jörn Abt, ein starker Drang nach oben, nach Bildung, nach sozialer Geltung, auch nach Reichtum. Und nach mannigfachen Schicksalen kommt der Halbwüchsige auf einen ham- burgischen Kontorsessel, dann nach Indien, wird, als Mann zurückgekehrt, durch eine rasch entflammte und doch irregehende Neigung in enge, kleinstädtische Ver¬ hältnisse hineingeschoben und arbeitet sich aus diesen wieder ins große kauf¬ männische Leben Hamburgs zurück. Er gewinnt nach Trennung feiner ersten Ehe die Hand der Tochter eines alten, aber niedergehenden Kaufmannshauses, bringt dies in die Höhe und kommt zu Vermögen. In dem Augenblick, da sein Schwager und Teilhaber durch private Spekulation das Haus aufs neue an deu Rand des Abgrundes bringt, hat Klaus bereits einen anderen Faden gesponnen und sich einen neuen Weg in ein nach Ostasten arbeitendes Handels¬ haus gebahnt. Hier aber tritt in ihm der seelische Umschwung ein, freilich schon etwas zu spät für unser Empfinden, denn allzulange schon erscheint er uns immer mehr als ein reiner Geldjäger und Nüchterling, der weder etwas von dem großen Wagemut hansischer Kaufmannschaft hat und versteht, noch auch innerlich emporwächst aus der Misere, deren Anblick und Miterleben seine Kindheit verdüstert und angespornt hat. Er läuft sich erst zur Ruhe auf alten heimatlichen Pfaden, auf denen er dann sein ganzes selbstisches Ich kennen lernt, erkennen muß, wie er nach dem armen Bruder oben in Holstein, auch in seinen besten Tagen, nie gefragt, wie er im Grunde immer nur an sich und an Geld gedacht hat. Nur freilich bricht das breite Buch jetzt allzu knapp ab, denn wir haben nicht die Überzeugung, daß Klaus Hinrich Baas, da er nun auf Jahre von Weib und Kind hinweg nach China verschlagen wird, als ein anderer geht und als ein anderer zurückkommen wird. Es bleibt ein un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/67>, abgerufen am 22.12.2024.