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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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praktischer Patriotismus

Stolzgefühl über die großartigen Leistungen des heutigen Deutschland in
Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr, Landwirtschaft und Schiffahrt
durchdrungen sein, wie kann sie ihr Vaterland wirklich achten, wenn sie das
Bestehende nur mangelhaft kennt? Die Verbreitung grundlegender volks¬
wirtschaftlicher Kenntnisse ist auch für die Kreise ein großes Bedürfnis, die
eine akademische Bildung genossen haben; denn gerade diese Kreise haben
schließlich in ihrer Berufstätigkeit praktischen Blick und Verständnis für die
großen wirtschaftlichen Ziele ihres Vaterlandes zu betätigen. Man möchte
aber erfahrungsgemäß heutzutage sagen, daß manch achtzehnjähriger Kaufmann
an solch praktischem Blick und vor allem an dem Trieb der Selbstentwickelung
und Selbstbildung manch einen wissenschaftlich gebildeten Fünfundzwanzig¬
jährigen überragt. Hiermit steht noch ein anderes in engstem Zusammenhang.
Was fordert das moderne Leben von dem Einzelnen und besonders von dem
Deutschen? Persönlichkett, das bedeutet die Fähigkeit, ureigenes zielbewußtes
Wollen und Handeln ohne feige Rücksicht mit eigener Verantwortung zu tragen,
bedeutet für den Jüngling, daß er eines Tags das Jungenhafte ablege und
zum Mann werde, der, unabhängig nach außen, sich selbst zu dienen vermag.
Hieran fehlt es aber heute sehr. Schauen wir wiederum auf die Scharen
derer, die kraft ihrer akademischen Bildung berufen sind, dereinst führende
Stellungen im Staats-, Kommunal- und Wirtschaftsleben einzunehmen, so
bietet sich uns erstaunlich oft das klägliche Bild der Energielosigkeit als
Karikatur vornehmer Nachlässigkeit. Solch unheilvollen Verhältnissen vor¬
zubeugen ist allerdings in erster Linie Sache der Familie und Schule. Aber
die genügen heute nicht mehr. Kenntnis der Vergangenheit und Verständnis
für die Gegenwart müssen gelehrt werden. Nicht zu verkennen ist es,
daß die Geschichte des Altertums unzählige geistige Schätze enthält. Diese
müssen im Geschichtsstudium, aber für das Verständnis der Gegenwart
verwendet werden, mit andern Worten: das Endziel des Geschichtsunterrichts
ist in der Klarlegung der neueren Entwickelungsvorgänge innerhalb unseres
Vaterlands zu suchen. Ebenso aber, wie das Studium von Biographien den
Charakter des Menschen bildet, so würde auch die Volksbildungstätigkeit in
und außerhalb der Schule durch solchen Geschichtsunterricht zu einer Volks¬
erziehung, zu einem Quell staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins, würde also
auch von moralischer Bedeutung sein, indem sie zur Entfaltung der Persön¬
lichkeit im Einzelnen wesentlich beiträgt.

Die vorstehenden Ausführungen über Zweck und Stoff der angestrebten
Aufklärungstättgkeit lassen nun den bereits oben angedeuteten Grund¬
satz als unanfechtbar erscheinen, daß die uns nötige Bildungszentrale einen
politisch völlig neutralen Charakter zu tragen hat. Wenn wir dem Parteigetriebe
gegenüber den Reichsgedanken zur Geltung bringen wollen, so darf die zu
diesem Zweck unternommene Orientierung nicht wiederum unter dem Zeichen
irgendeiner Partei erfolgen. Sie muß sich vielmehr an alle ohne Unterschied


praktischer Patriotismus

Stolzgefühl über die großartigen Leistungen des heutigen Deutschland in
Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr, Landwirtschaft und Schiffahrt
durchdrungen sein, wie kann sie ihr Vaterland wirklich achten, wenn sie das
Bestehende nur mangelhaft kennt? Die Verbreitung grundlegender volks¬
wirtschaftlicher Kenntnisse ist auch für die Kreise ein großes Bedürfnis, die
eine akademische Bildung genossen haben; denn gerade diese Kreise haben
schließlich in ihrer Berufstätigkeit praktischen Blick und Verständnis für die
großen wirtschaftlichen Ziele ihres Vaterlandes zu betätigen. Man möchte
aber erfahrungsgemäß heutzutage sagen, daß manch achtzehnjähriger Kaufmann
an solch praktischem Blick und vor allem an dem Trieb der Selbstentwickelung
und Selbstbildung manch einen wissenschaftlich gebildeten Fünfundzwanzig¬
jährigen überragt. Hiermit steht noch ein anderes in engstem Zusammenhang.
Was fordert das moderne Leben von dem Einzelnen und besonders von dem
Deutschen? Persönlichkett, das bedeutet die Fähigkeit, ureigenes zielbewußtes
Wollen und Handeln ohne feige Rücksicht mit eigener Verantwortung zu tragen,
bedeutet für den Jüngling, daß er eines Tags das Jungenhafte ablege und
zum Mann werde, der, unabhängig nach außen, sich selbst zu dienen vermag.
Hieran fehlt es aber heute sehr. Schauen wir wiederum auf die Scharen
derer, die kraft ihrer akademischen Bildung berufen sind, dereinst führende
Stellungen im Staats-, Kommunal- und Wirtschaftsleben einzunehmen, so
bietet sich uns erstaunlich oft das klägliche Bild der Energielosigkeit als
Karikatur vornehmer Nachlässigkeit. Solch unheilvollen Verhältnissen vor¬
zubeugen ist allerdings in erster Linie Sache der Familie und Schule. Aber
die genügen heute nicht mehr. Kenntnis der Vergangenheit und Verständnis
für die Gegenwart müssen gelehrt werden. Nicht zu verkennen ist es,
daß die Geschichte des Altertums unzählige geistige Schätze enthält. Diese
müssen im Geschichtsstudium, aber für das Verständnis der Gegenwart
verwendet werden, mit andern Worten: das Endziel des Geschichtsunterrichts
ist in der Klarlegung der neueren Entwickelungsvorgänge innerhalb unseres
Vaterlands zu suchen. Ebenso aber, wie das Studium von Biographien den
Charakter des Menschen bildet, so würde auch die Volksbildungstätigkeit in
und außerhalb der Schule durch solchen Geschichtsunterricht zu einer Volks¬
erziehung, zu einem Quell staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins, würde also
auch von moralischer Bedeutung sein, indem sie zur Entfaltung der Persön¬
lichkeit im Einzelnen wesentlich beiträgt.

Die vorstehenden Ausführungen über Zweck und Stoff der angestrebten
Aufklärungstättgkeit lassen nun den bereits oben angedeuteten Grund¬
satz als unanfechtbar erscheinen, daß die uns nötige Bildungszentrale einen
politisch völlig neutralen Charakter zu tragen hat. Wenn wir dem Parteigetriebe
gegenüber den Reichsgedanken zur Geltung bringen wollen, so darf die zu
diesem Zweck unternommene Orientierung nicht wiederum unter dem Zeichen
irgendeiner Partei erfolgen. Sie muß sich vielmehr an alle ohne Unterschied


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/65>, abgerufen am 24.07.2024.