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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Praktischer Patriotismus

jedoch den Halt, wenn man sich bemüht, die Aufgabe der Volksbildung, wie
sie in Deutschland gegenwärtig ins Auge zu fassen ist, ihrem Zweck und
Stoff nach zu erfassen.

Wir müssen, um deutlich zu sein, zunächst hervorheben, daß die Basis
für jedwede Staatsentwicklung auf volkswirtschaftlichen Gebiete ruht. Wie
alle Schöpfungen der Welt schließlich ihr Entstehen dem Selbsterhaltungstrieb
ihrer Schöpfer verdanken, seien es die Bauten der winzigen Ameisen oder
die Paläste der Menschen, so ist auch für das Gedeihen der Staaten das Zweck¬
oder Bedürfnismoment entscheidend. Aus ihm heraus, aus einer wirt¬
schaftlich notwendigen Gemeinschaft zwischen Nord und Süd, dem Zollverein,
ist z. B. das Deutsche Reich erstanden -- ein Gemeinwesen, das ein festes
Band für die kulturellen und wirtschaftlichen Kräfte des Deutschtums bietet.
Die Trostworte Goethes "Unsre guten Chausseen und unsre künftigen Eisen¬
bahnen werden dafür sorgen, daß das Deutsche Reich zusammengeschweißt
werde" erfüllten sich. Die wirtschaftliche Notwendigkeit des Reichsgedankens
forderte ihre Rechte. Nach jahrhundertelangem Ringen wurde es endlich zur
Tatsache, daß der unverwüstliche Kern des deutschen Volkes in seiner
Zusammengehörigkeit erblickt werden muß.

Haben wir Deutsche nun aber Grund, auf den Lorbeeren unsrer Väter
mit dem Bewußtsein auszuruhen, das Erreichbare, einen konstitutionellen deutschen
Bundesstaat, erreicht zu haben? Ergeben sich aus dieser erhabenen Schöpfung
des deutschen Idealismus nicht weitere und wichtige Aufgaben? Unsre
gegenwärtigen beklagenswerten Verhältnisse geben eine deutliche Antwort. Das
deutsche Volk ist für den Reichsgedanken allein durch die Gesetzeskraft der Retchs-
verfassung nicht reif geworden. Die politischen Rechte und wirtschaftlichen
Vorteile, die ihm in dieser verbürgt sind, kommen vielmehr erst dann zur
Geltung, wenn es sich in den Reichsgedanken einlebt.

Der Deutsche bewegt sich vielfach noch zwischen verständnisschwacher
Sentimentalität und kleinlichen Geschäftsmaterialismus. Bedenklichkeit und
Gleichgültigkeit gesellen sich in erschreckendem Maß hinzu. Nur schwer vermag er,
Sonderinteressen um der gemeinsamen Sache willen hintanzusetzen. Es scheint
vielmehr, als ob jeder Deutsche in jedem Deutschen seinen ärgsten Feind erblickt,
gegen den er sich am liebsten mit fremden Elementen verbündet. Diese
Untugenden, die dem deutschen Volk schon viel geschadet haben, müssen und können
durch einen Reichsidealismus beseitigt werden. Spekulation im tiefern Sinn des
Wortes muß in allen Elementen des Reichs die Begeisterung für dieses erhalten.
Solange sich dem Einzelnen nicht von selbst das Reichsinteresse als End¬
zweck vor Augen stellt, ist jede Beteiligung des Bürgers am öffentlichen Leben,
jede Parteitätigkeit für das Ganze gefährlich. Ist es denn aber so schwer,
sich stets gegenwärtig zu halten, daß der mächtige nie zuvor geahnte Auf¬
schwung, den deutsche Wissenschaft, Kunst, Technik, Industrie usw. in den letzten
.Jahrzehnten genommen haben, in allererster Linie eben der Reichsgründung zu


Praktischer Patriotismus

jedoch den Halt, wenn man sich bemüht, die Aufgabe der Volksbildung, wie
sie in Deutschland gegenwärtig ins Auge zu fassen ist, ihrem Zweck und
Stoff nach zu erfassen.

Wir müssen, um deutlich zu sein, zunächst hervorheben, daß die Basis
für jedwede Staatsentwicklung auf volkswirtschaftlichen Gebiete ruht. Wie
alle Schöpfungen der Welt schließlich ihr Entstehen dem Selbsterhaltungstrieb
ihrer Schöpfer verdanken, seien es die Bauten der winzigen Ameisen oder
die Paläste der Menschen, so ist auch für das Gedeihen der Staaten das Zweck¬
oder Bedürfnismoment entscheidend. Aus ihm heraus, aus einer wirt¬
schaftlich notwendigen Gemeinschaft zwischen Nord und Süd, dem Zollverein,
ist z. B. das Deutsche Reich erstanden — ein Gemeinwesen, das ein festes
Band für die kulturellen und wirtschaftlichen Kräfte des Deutschtums bietet.
Die Trostworte Goethes „Unsre guten Chausseen und unsre künftigen Eisen¬
bahnen werden dafür sorgen, daß das Deutsche Reich zusammengeschweißt
werde" erfüllten sich. Die wirtschaftliche Notwendigkeit des Reichsgedankens
forderte ihre Rechte. Nach jahrhundertelangem Ringen wurde es endlich zur
Tatsache, daß der unverwüstliche Kern des deutschen Volkes in seiner
Zusammengehörigkeit erblickt werden muß.

Haben wir Deutsche nun aber Grund, auf den Lorbeeren unsrer Väter
mit dem Bewußtsein auszuruhen, das Erreichbare, einen konstitutionellen deutschen
Bundesstaat, erreicht zu haben? Ergeben sich aus dieser erhabenen Schöpfung
des deutschen Idealismus nicht weitere und wichtige Aufgaben? Unsre
gegenwärtigen beklagenswerten Verhältnisse geben eine deutliche Antwort. Das
deutsche Volk ist für den Reichsgedanken allein durch die Gesetzeskraft der Retchs-
verfassung nicht reif geworden. Die politischen Rechte und wirtschaftlichen
Vorteile, die ihm in dieser verbürgt sind, kommen vielmehr erst dann zur
Geltung, wenn es sich in den Reichsgedanken einlebt.

Der Deutsche bewegt sich vielfach noch zwischen verständnisschwacher
Sentimentalität und kleinlichen Geschäftsmaterialismus. Bedenklichkeit und
Gleichgültigkeit gesellen sich in erschreckendem Maß hinzu. Nur schwer vermag er,
Sonderinteressen um der gemeinsamen Sache willen hintanzusetzen. Es scheint
vielmehr, als ob jeder Deutsche in jedem Deutschen seinen ärgsten Feind erblickt,
gegen den er sich am liebsten mit fremden Elementen verbündet. Diese
Untugenden, die dem deutschen Volk schon viel geschadet haben, müssen und können
durch einen Reichsidealismus beseitigt werden. Spekulation im tiefern Sinn des
Wortes muß in allen Elementen des Reichs die Begeisterung für dieses erhalten.
Solange sich dem Einzelnen nicht von selbst das Reichsinteresse als End¬
zweck vor Augen stellt, ist jede Beteiligung des Bürgers am öffentlichen Leben,
jede Parteitätigkeit für das Ganze gefährlich. Ist es denn aber so schwer,
sich stets gegenwärtig zu halten, daß der mächtige nie zuvor geahnte Auf¬
schwung, den deutsche Wissenschaft, Kunst, Technik, Industrie usw. in den letzten
.Jahrzehnten genommen haben, in allererster Linie eben der Reichsgründung zu


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[0063] Praktischer Patriotismus jedoch den Halt, wenn man sich bemüht, die Aufgabe der Volksbildung, wie sie in Deutschland gegenwärtig ins Auge zu fassen ist, ihrem Zweck und Stoff nach zu erfassen. Wir müssen, um deutlich zu sein, zunächst hervorheben, daß die Basis für jedwede Staatsentwicklung auf volkswirtschaftlichen Gebiete ruht. Wie alle Schöpfungen der Welt schließlich ihr Entstehen dem Selbsterhaltungstrieb ihrer Schöpfer verdanken, seien es die Bauten der winzigen Ameisen oder die Paläste der Menschen, so ist auch für das Gedeihen der Staaten das Zweck¬ oder Bedürfnismoment entscheidend. Aus ihm heraus, aus einer wirt¬ schaftlich notwendigen Gemeinschaft zwischen Nord und Süd, dem Zollverein, ist z. B. das Deutsche Reich erstanden — ein Gemeinwesen, das ein festes Band für die kulturellen und wirtschaftlichen Kräfte des Deutschtums bietet. Die Trostworte Goethes „Unsre guten Chausseen und unsre künftigen Eisen¬ bahnen werden dafür sorgen, daß das Deutsche Reich zusammengeschweißt werde" erfüllten sich. Die wirtschaftliche Notwendigkeit des Reichsgedankens forderte ihre Rechte. Nach jahrhundertelangem Ringen wurde es endlich zur Tatsache, daß der unverwüstliche Kern des deutschen Volkes in seiner Zusammengehörigkeit erblickt werden muß. Haben wir Deutsche nun aber Grund, auf den Lorbeeren unsrer Väter mit dem Bewußtsein auszuruhen, das Erreichbare, einen konstitutionellen deutschen Bundesstaat, erreicht zu haben? Ergeben sich aus dieser erhabenen Schöpfung des deutschen Idealismus nicht weitere und wichtige Aufgaben? Unsre gegenwärtigen beklagenswerten Verhältnisse geben eine deutliche Antwort. Das deutsche Volk ist für den Reichsgedanken allein durch die Gesetzeskraft der Retchs- verfassung nicht reif geworden. Die politischen Rechte und wirtschaftlichen Vorteile, die ihm in dieser verbürgt sind, kommen vielmehr erst dann zur Geltung, wenn es sich in den Reichsgedanken einlebt. Der Deutsche bewegt sich vielfach noch zwischen verständnisschwacher Sentimentalität und kleinlichen Geschäftsmaterialismus. Bedenklichkeit und Gleichgültigkeit gesellen sich in erschreckendem Maß hinzu. Nur schwer vermag er, Sonderinteressen um der gemeinsamen Sache willen hintanzusetzen. Es scheint vielmehr, als ob jeder Deutsche in jedem Deutschen seinen ärgsten Feind erblickt, gegen den er sich am liebsten mit fremden Elementen verbündet. Diese Untugenden, die dem deutschen Volk schon viel geschadet haben, müssen und können durch einen Reichsidealismus beseitigt werden. Spekulation im tiefern Sinn des Wortes muß in allen Elementen des Reichs die Begeisterung für dieses erhalten. Solange sich dem Einzelnen nicht von selbst das Reichsinteresse als End¬ zweck vor Augen stellt, ist jede Beteiligung des Bürgers am öffentlichen Leben, jede Parteitätigkeit für das Ganze gefährlich. Ist es denn aber so schwer, sich stets gegenwärtig zu halten, daß der mächtige nie zuvor geahnte Auf¬ schwung, den deutsche Wissenschaft, Kunst, Technik, Industrie usw. in den letzten .Jahrzehnten genommen haben, in allererster Linie eben der Reichsgründung zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/63>, abgerufen am 04.07.2024.