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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Oskar Jäger

und zwar richtig ausgebildet, ehe man es ausrufen kann: und nur wer ein
sehr strenges Pflichtgefühl bei sich selbst ausgebildet hat, kann einigermaßen
darauf zählen, daß seine Schüler aus Ehrgefühl handeln -- sich vor dem Genius
des Guten schämen."

Bei dem Kapitel Strafe geschieht es ja am leichtesten, daß Eltern und
Lehrer verschiedener Meinung sind, doch bieten sich auch sonst im sehnlicher
leider nur zu oft Gelegenheiten, wo das ersehnte einträchtige Zusammengehen
' von "Schule und Elternhaus" hart aus die Probe gestellt wird. Gewiß erscheint
auch Jäger das Zusammengehen als erstrebenswertes Ziel; doch ist er als
erfahrener Schulmann sich wohl bewußt, wie schwer dies in der Praxis zu
erreichen ist. Denn erstens gibt es diese Dinge "Schule und Elternhaus" gar
nicht. "Es gibt nur Schulen oder Elternhäuser in concroto, ja in concre-
tissimo -- den Lehrer -- den Herrn Kommerzienrat -- und, schlimmer, die
Frau Kommerzienrätin, den Schuhmachermeister -- und, besser, die Frau
Schuhmacherin." Und dann ist die Hauptschwierigkeit im Verkehr mit den
Eltern, daß sie meistens meinen, "daß Sonne, Mond und Sterne sich um ihr
Felixchen drehen". Am gefährlichsten sind sie um die Versetzungszeit. Geduld
viel Geduld heißt es dann mit ihnen haben. "Denn du weißt nicht, in
welcher üblen Haut oft der Vater oder die Mutter steckt, wenn sie deines
Rates in pädagogischen Dingen sich erholen wollen." Der Ansicht, daß die
"Familie" den Charakter der Schule bestimmen müßte und sie, die Familie,
die eigentliche Mandantin und Lehnsherrin der Schule wäre,'tritt Jäger ent¬
schieden entgegen. Für ihn ist der Lehrer lediglich Vertreter und Mandatar
des Staates und hat somit das Recht, der Familie und ihren Ansprüchen,
gegebenenfalls auch dem, was sie Kirche nenneu, in Kraft des Staates, der
Allgemeinheit, der Nation gegenüber- und, wenn es sein muß, entgegenzutreten.
"Denn dieser, der Staat, die Nation, hat ein erstes Recht an ihre Glieder,
sofern sie Väter und Mütter und Söhne sind."

Eine systematische Theorie der Pädagogik hat Jäger nicht gegeben, nicht
geben wollen. Aus der Praxis sind seine Ratschläge erwachsen, für die
Praxis sind sie bestimmt. Seiner unumwundenen Ehrlichkeit, seinem drastischen
Humor, seinem bald gutmütigen, bald ingrimmigen Spott kann sich so leicht
niemand entziehen. Die Anschauungen, die er einst mit der ganzen Wucht
seiner Persönlichkeit vertrat, sind heute vielfach nicht mehr gültig; gar manches,
was er erkämpfte, hat sich Bahn gebrochen.

Die Weltverbesserer haben heute an der Schule ein reiches Feld ihrer
Tätigkeit, auf dein sie auch des Beifalls eines verehrungswürdigen Publikums
sicher sind. Auf die Schule schelten ist Mode und Zeichen des fortgeschrittenen
Geistes; für die vielgeschmähte einzutreten erfordert heute Selbständigkeit des
Denkens und fast schon Mut. Auch hier wird wohl auf die Fieberhitze des
Paroxysmus die Reaktion und mit ihr die kühlere Besonnenheit folgen. Da
können Männer wie Jäger Führer werden. Von ihnen mögen wir lernen.


Oskar Jäger

und zwar richtig ausgebildet, ehe man es ausrufen kann: und nur wer ein
sehr strenges Pflichtgefühl bei sich selbst ausgebildet hat, kann einigermaßen
darauf zählen, daß seine Schüler aus Ehrgefühl handeln — sich vor dem Genius
des Guten schämen."

Bei dem Kapitel Strafe geschieht es ja am leichtesten, daß Eltern und
Lehrer verschiedener Meinung sind, doch bieten sich auch sonst im sehnlicher
leider nur zu oft Gelegenheiten, wo das ersehnte einträchtige Zusammengehen
' von „Schule und Elternhaus" hart aus die Probe gestellt wird. Gewiß erscheint
auch Jäger das Zusammengehen als erstrebenswertes Ziel; doch ist er als
erfahrener Schulmann sich wohl bewußt, wie schwer dies in der Praxis zu
erreichen ist. Denn erstens gibt es diese Dinge „Schule und Elternhaus" gar
nicht. „Es gibt nur Schulen oder Elternhäuser in concroto, ja in concre-
tissimo — den Lehrer — den Herrn Kommerzienrat — und, schlimmer, die
Frau Kommerzienrätin, den Schuhmachermeister — und, besser, die Frau
Schuhmacherin." Und dann ist die Hauptschwierigkeit im Verkehr mit den
Eltern, daß sie meistens meinen, „daß Sonne, Mond und Sterne sich um ihr
Felixchen drehen". Am gefährlichsten sind sie um die Versetzungszeit. Geduld
viel Geduld heißt es dann mit ihnen haben. „Denn du weißt nicht, in
welcher üblen Haut oft der Vater oder die Mutter steckt, wenn sie deines
Rates in pädagogischen Dingen sich erholen wollen." Der Ansicht, daß die
„Familie" den Charakter der Schule bestimmen müßte und sie, die Familie,
die eigentliche Mandantin und Lehnsherrin der Schule wäre,'tritt Jäger ent¬
schieden entgegen. Für ihn ist der Lehrer lediglich Vertreter und Mandatar
des Staates und hat somit das Recht, der Familie und ihren Ansprüchen,
gegebenenfalls auch dem, was sie Kirche nenneu, in Kraft des Staates, der
Allgemeinheit, der Nation gegenüber- und, wenn es sein muß, entgegenzutreten.
„Denn dieser, der Staat, die Nation, hat ein erstes Recht an ihre Glieder,
sofern sie Väter und Mütter und Söhne sind."

Eine systematische Theorie der Pädagogik hat Jäger nicht gegeben, nicht
geben wollen. Aus der Praxis sind seine Ratschläge erwachsen, für die
Praxis sind sie bestimmt. Seiner unumwundenen Ehrlichkeit, seinem drastischen
Humor, seinem bald gutmütigen, bald ingrimmigen Spott kann sich so leicht
niemand entziehen. Die Anschauungen, die er einst mit der ganzen Wucht
seiner Persönlichkeit vertrat, sind heute vielfach nicht mehr gültig; gar manches,
was er erkämpfte, hat sich Bahn gebrochen.

Die Weltverbesserer haben heute an der Schule ein reiches Feld ihrer
Tätigkeit, auf dein sie auch des Beifalls eines verehrungswürdigen Publikums
sicher sind. Auf die Schule schelten ist Mode und Zeichen des fortgeschrittenen
Geistes; für die vielgeschmähte einzutreten erfordert heute Selbständigkeit des
Denkens und fast schon Mut. Auch hier wird wohl auf die Fieberhitze des
Paroxysmus die Reaktion und mit ihr die kühlere Besonnenheit folgen. Da
können Männer wie Jäger Führer werden. Von ihnen mögen wir lernen.


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[0619] Oskar Jäger und zwar richtig ausgebildet, ehe man es ausrufen kann: und nur wer ein sehr strenges Pflichtgefühl bei sich selbst ausgebildet hat, kann einigermaßen darauf zählen, daß seine Schüler aus Ehrgefühl handeln — sich vor dem Genius des Guten schämen." Bei dem Kapitel Strafe geschieht es ja am leichtesten, daß Eltern und Lehrer verschiedener Meinung sind, doch bieten sich auch sonst im sehnlicher leider nur zu oft Gelegenheiten, wo das ersehnte einträchtige Zusammengehen ' von „Schule und Elternhaus" hart aus die Probe gestellt wird. Gewiß erscheint auch Jäger das Zusammengehen als erstrebenswertes Ziel; doch ist er als erfahrener Schulmann sich wohl bewußt, wie schwer dies in der Praxis zu erreichen ist. Denn erstens gibt es diese Dinge „Schule und Elternhaus" gar nicht. „Es gibt nur Schulen oder Elternhäuser in concroto, ja in concre- tissimo — den Lehrer — den Herrn Kommerzienrat — und, schlimmer, die Frau Kommerzienrätin, den Schuhmachermeister — und, besser, die Frau Schuhmacherin." Und dann ist die Hauptschwierigkeit im Verkehr mit den Eltern, daß sie meistens meinen, „daß Sonne, Mond und Sterne sich um ihr Felixchen drehen". Am gefährlichsten sind sie um die Versetzungszeit. Geduld viel Geduld heißt es dann mit ihnen haben. „Denn du weißt nicht, in welcher üblen Haut oft der Vater oder die Mutter steckt, wenn sie deines Rates in pädagogischen Dingen sich erholen wollen." Der Ansicht, daß die „Familie" den Charakter der Schule bestimmen müßte und sie, die Familie, die eigentliche Mandantin und Lehnsherrin der Schule wäre,'tritt Jäger ent¬ schieden entgegen. Für ihn ist der Lehrer lediglich Vertreter und Mandatar des Staates und hat somit das Recht, der Familie und ihren Ansprüchen, gegebenenfalls auch dem, was sie Kirche nenneu, in Kraft des Staates, der Allgemeinheit, der Nation gegenüber- und, wenn es sein muß, entgegenzutreten. „Denn dieser, der Staat, die Nation, hat ein erstes Recht an ihre Glieder, sofern sie Väter und Mütter und Söhne sind." Eine systematische Theorie der Pädagogik hat Jäger nicht gegeben, nicht geben wollen. Aus der Praxis sind seine Ratschläge erwachsen, für die Praxis sind sie bestimmt. Seiner unumwundenen Ehrlichkeit, seinem drastischen Humor, seinem bald gutmütigen, bald ingrimmigen Spott kann sich so leicht niemand entziehen. Die Anschauungen, die er einst mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit vertrat, sind heute vielfach nicht mehr gültig; gar manches, was er erkämpfte, hat sich Bahn gebrochen. Die Weltverbesserer haben heute an der Schule ein reiches Feld ihrer Tätigkeit, auf dein sie auch des Beifalls eines verehrungswürdigen Publikums sicher sind. Auf die Schule schelten ist Mode und Zeichen des fortgeschrittenen Geistes; für die vielgeschmähte einzutreten erfordert heute Selbständigkeit des Denkens und fast schon Mut. Auch hier wird wohl auf die Fieberhitze des Paroxysmus die Reaktion und mit ihr die kühlere Besonnenheit folgen. Da können Männer wie Jäger Führer werden. Von ihnen mögen wir lernen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/619>, abgerufen am 22.12.2024.