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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Oskar Jäger

kann. Darum ist er ein Feind des Reglementierens, widerrät, in die Selbst¬
regierung der Schüler auch den Turnplatz einzugreifen, und will am allerwenigsten
von obligatorischen Spielstunden hören, die übrigens heute wieder von solchen
verlangt werden, die sonst nicht genug auf Zwang und Tyrannei der Schule
schelten können. Von dem modernen Schlagwort der individuellen Behandlung
hält er nicht viel. Es spottet: "Die Individualität des Schülers, selbst bei
fünfzig, sechzig Schülern in der Klasse, selbst bei Sextanern, die zu meiner Zeit
noch gar keine rechten Individuen waren, soll jetzt ganz besonders berücksichtigt
werden -- man soll u. a. ganz erstaunliche Erfolge erzielt haben durch eine
weise geregelte Benutzung der Schülerbibliothek -- eben mit Berücksichtigung
der Individualitäten." -- "Im Gegensatz hierzu ist zu betonen, daß die
Stärke der Schule vielmehr zunächst und zumeist darin liegt, daß sie ihre
Forderungen ohne Rücksicht auf die sogenannte Individualität an alle richtet;
daß das gleiche Gesetz, die gleiche Ordnung, die gleiche Grammatik über reich
und arm, Grafensohn und Schustersohu, Klugen und Dummen waltet, während
die Stärke des Teils der Erziehung, den die Familie zu besorgen hat, in der
individuellen Behandlung liegt -- die sie anwenden kann, weil sie, die Familie
allein, die Individualitäten wirklich kennt." Ebensowenig ist Jäger ein Freund
jener Bestrebungen, die dem Lehrer den Schularzt an die Seite stellen wollen;
er spottet, hier wohl mit Unrecht, über die Amel-Überbürdungsliga, über die
Wichtigtuerei der Ärzte; auch vou der Verlegung des wissenschaftlichen Unter¬
richts in fünf (jetzt gar in sechs) Stunden auf deu Vormittag, um den Nach¬
mittag freizuhalten, will er nichts wissen. Die Einrichtung widerspricht ihm
dem Grundsatz, daß auch hier dem Schüler die Pflicht, der Beruf, überwiegen müsse.

Und über diese Pflicht denkt Jäger streng. Er glaubt auch nicht, daß
man dabei ganz ohne Strafen auskommen könne. Die neuerdings ver¬
pönte Strafarbeit erscheint ihn: gelegentlich als ein ganz probates Mittel,
besonders wenn es sich, um mit Blücher zu reden, um ein niedriges "Faulltir"
handelt. Es ist nur in der Ordnung, "daß, wenn das Faultier seiue mäßige
Arbeit zur passenden Zeit liederlich und schlecht gemacht hat, er sie zu einer
ihm, dem Faultier, nicht passenden Zeit besser machen muß. -- Im Begriffe
des Arbeitens liegt das Zweckmäßige: indem ich dem Schüler zur Strafe
eine Arbeit gebe, will ich doch, daß er das lerne, was man durch die Arbeit
lernte. Er sollte das wollen, -- weil er es nicht oder noch nicht will, so
muß ich Lehrer, älterer, verständigerer und sittlicherer Mensch für ihn wollen."
Auch vor der körperlichen Strafe schreckt Jäger nicht zurück und bedauert,
"daß man an vielen Anstalten den Rohrstock, das treffliche Werkzeug, dem
Moloch einer falschen Humanität geopfert hat". Er weiß wohl, daß man den
guten Lehrer an dem seltenen Gebrauch dieses Zuchtmittels erkennt, daß es
aber Fälle gibt, wo dieses Mittel das einzig richtige, seine Anwendung eine
Wohltat ist. Denn so viel, als manche, namentlich weichliche Eltern glauben,
kann man mit dem Ehrgefühl nicht ausrichten. "Es muß erst ausgebildet sein,


Oskar Jäger

kann. Darum ist er ein Feind des Reglementierens, widerrät, in die Selbst¬
regierung der Schüler auch den Turnplatz einzugreifen, und will am allerwenigsten
von obligatorischen Spielstunden hören, die übrigens heute wieder von solchen
verlangt werden, die sonst nicht genug auf Zwang und Tyrannei der Schule
schelten können. Von dem modernen Schlagwort der individuellen Behandlung
hält er nicht viel. Es spottet: „Die Individualität des Schülers, selbst bei
fünfzig, sechzig Schülern in der Klasse, selbst bei Sextanern, die zu meiner Zeit
noch gar keine rechten Individuen waren, soll jetzt ganz besonders berücksichtigt
werden — man soll u. a. ganz erstaunliche Erfolge erzielt haben durch eine
weise geregelte Benutzung der Schülerbibliothek — eben mit Berücksichtigung
der Individualitäten." — „Im Gegensatz hierzu ist zu betonen, daß die
Stärke der Schule vielmehr zunächst und zumeist darin liegt, daß sie ihre
Forderungen ohne Rücksicht auf die sogenannte Individualität an alle richtet;
daß das gleiche Gesetz, die gleiche Ordnung, die gleiche Grammatik über reich
und arm, Grafensohn und Schustersohu, Klugen und Dummen waltet, während
die Stärke des Teils der Erziehung, den die Familie zu besorgen hat, in der
individuellen Behandlung liegt — die sie anwenden kann, weil sie, die Familie
allein, die Individualitäten wirklich kennt." Ebensowenig ist Jäger ein Freund
jener Bestrebungen, die dem Lehrer den Schularzt an die Seite stellen wollen;
er spottet, hier wohl mit Unrecht, über die Amel-Überbürdungsliga, über die
Wichtigtuerei der Ärzte; auch vou der Verlegung des wissenschaftlichen Unter¬
richts in fünf (jetzt gar in sechs) Stunden auf deu Vormittag, um den Nach¬
mittag freizuhalten, will er nichts wissen. Die Einrichtung widerspricht ihm
dem Grundsatz, daß auch hier dem Schüler die Pflicht, der Beruf, überwiegen müsse.

Und über diese Pflicht denkt Jäger streng. Er glaubt auch nicht, daß
man dabei ganz ohne Strafen auskommen könne. Die neuerdings ver¬
pönte Strafarbeit erscheint ihn: gelegentlich als ein ganz probates Mittel,
besonders wenn es sich, um mit Blücher zu reden, um ein niedriges „Faulltir"
handelt. Es ist nur in der Ordnung, „daß, wenn das Faultier seiue mäßige
Arbeit zur passenden Zeit liederlich und schlecht gemacht hat, er sie zu einer
ihm, dem Faultier, nicht passenden Zeit besser machen muß. — Im Begriffe
des Arbeitens liegt das Zweckmäßige: indem ich dem Schüler zur Strafe
eine Arbeit gebe, will ich doch, daß er das lerne, was man durch die Arbeit
lernte. Er sollte das wollen, — weil er es nicht oder noch nicht will, so
muß ich Lehrer, älterer, verständigerer und sittlicherer Mensch für ihn wollen."
Auch vor der körperlichen Strafe schreckt Jäger nicht zurück und bedauert,
„daß man an vielen Anstalten den Rohrstock, das treffliche Werkzeug, dem
Moloch einer falschen Humanität geopfert hat". Er weiß wohl, daß man den
guten Lehrer an dem seltenen Gebrauch dieses Zuchtmittels erkennt, daß es
aber Fälle gibt, wo dieses Mittel das einzig richtige, seine Anwendung eine
Wohltat ist. Denn so viel, als manche, namentlich weichliche Eltern glauben,
kann man mit dem Ehrgefühl nicht ausrichten. „Es muß erst ausgebildet sein,


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[0618] Oskar Jäger kann. Darum ist er ein Feind des Reglementierens, widerrät, in die Selbst¬ regierung der Schüler auch den Turnplatz einzugreifen, und will am allerwenigsten von obligatorischen Spielstunden hören, die übrigens heute wieder von solchen verlangt werden, die sonst nicht genug auf Zwang und Tyrannei der Schule schelten können. Von dem modernen Schlagwort der individuellen Behandlung hält er nicht viel. Es spottet: „Die Individualität des Schülers, selbst bei fünfzig, sechzig Schülern in der Klasse, selbst bei Sextanern, die zu meiner Zeit noch gar keine rechten Individuen waren, soll jetzt ganz besonders berücksichtigt werden — man soll u. a. ganz erstaunliche Erfolge erzielt haben durch eine weise geregelte Benutzung der Schülerbibliothek — eben mit Berücksichtigung der Individualitäten." — „Im Gegensatz hierzu ist zu betonen, daß die Stärke der Schule vielmehr zunächst und zumeist darin liegt, daß sie ihre Forderungen ohne Rücksicht auf die sogenannte Individualität an alle richtet; daß das gleiche Gesetz, die gleiche Ordnung, die gleiche Grammatik über reich und arm, Grafensohn und Schustersohu, Klugen und Dummen waltet, während die Stärke des Teils der Erziehung, den die Familie zu besorgen hat, in der individuellen Behandlung liegt — die sie anwenden kann, weil sie, die Familie allein, die Individualitäten wirklich kennt." Ebensowenig ist Jäger ein Freund jener Bestrebungen, die dem Lehrer den Schularzt an die Seite stellen wollen; er spottet, hier wohl mit Unrecht, über die Amel-Überbürdungsliga, über die Wichtigtuerei der Ärzte; auch vou der Verlegung des wissenschaftlichen Unter¬ richts in fünf (jetzt gar in sechs) Stunden auf deu Vormittag, um den Nach¬ mittag freizuhalten, will er nichts wissen. Die Einrichtung widerspricht ihm dem Grundsatz, daß auch hier dem Schüler die Pflicht, der Beruf, überwiegen müsse. Und über diese Pflicht denkt Jäger streng. Er glaubt auch nicht, daß man dabei ganz ohne Strafen auskommen könne. Die neuerdings ver¬ pönte Strafarbeit erscheint ihn: gelegentlich als ein ganz probates Mittel, besonders wenn es sich, um mit Blücher zu reden, um ein niedriges „Faulltir" handelt. Es ist nur in der Ordnung, „daß, wenn das Faultier seiue mäßige Arbeit zur passenden Zeit liederlich und schlecht gemacht hat, er sie zu einer ihm, dem Faultier, nicht passenden Zeit besser machen muß. — Im Begriffe des Arbeitens liegt das Zweckmäßige: indem ich dem Schüler zur Strafe eine Arbeit gebe, will ich doch, daß er das lerne, was man durch die Arbeit lernte. Er sollte das wollen, — weil er es nicht oder noch nicht will, so muß ich Lehrer, älterer, verständigerer und sittlicherer Mensch für ihn wollen." Auch vor der körperlichen Strafe schreckt Jäger nicht zurück und bedauert, „daß man an vielen Anstalten den Rohrstock, das treffliche Werkzeug, dem Moloch einer falschen Humanität geopfert hat". Er weiß wohl, daß man den guten Lehrer an dem seltenen Gebrauch dieses Zuchtmittels erkennt, daß es aber Fälle gibt, wo dieses Mittel das einzig richtige, seine Anwendung eine Wohltat ist. Denn so viel, als manche, namentlich weichliche Eltern glauben, kann man mit dem Ehrgefühl nicht ausrichten. „Es muß erst ausgebildet sein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/618>, abgerufen am 22.12.2024.