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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Gskar Jäger

So darf seine Stimme Anspruch darauf machen, gehört zu werden. Was
er uns als die reichen Erfahrungen eines langen Lebens zu sagen hatte, hat
er bereits vor einigen Jahren in den beiden Bänden seines Werkes "Aus der
Praxis" niedergelegt. Zu dem, als was er sie schon damals bezeichnet hatte,
einem pädagogischen Testament, sind sie jetzt im eigentlichen Sinn des
Wortes geworden. Mit scharfgespitzter Feder zerstiebt er gar manche bunt
schillernde Seifenblase, die selbstzufriedene Pädagogen zu ihrer eigenen und
anderer harmloser Gemüter Ergötzung emporsteigen ließen.

Sein Zorn gilt besonders den Tüfteleien der Methodiker, die mit ihren
Spitzfindigkeiten alle Natur aus der Schule vertreiben. "Man legt jetzt einen
einigermaßen übertriebenen Wert auf die Einzelheiten der Unterrichtstechnik,
und man redet ohne weitere Bestimmung gern von der .neuen Methode'' es
bildet sich eine Art methodischer oder methodistischer Orthodoxie, die wie jede
Orthodoxie die Freiheit nicht bloß beschränkt, sondern -- und zwar gerade bei
den ernst Angelegten -- innerlich lahmt." -- "Künftighin wird es bloß noch
Lehrkräfte geben: allerdings diese Lehrkräfte.werden keine Individuen mehr sein,
sondern nur die willenlosen Organe der richtigen Methode, welche ihnen auf
irgendeiner Kandidatenbildungsanstalt eingegossen morden, -- dagegen aber
werden sie die Individualität ihrer Sextaner, sämtlicher, aufs genaueste kennen."
Wenn aber die Methodenjäger meinen, die Vorstellungs- und Gedanken-
verbindungen in den Köpfen der Schüler alle in ihrer Gewalt zu haben, so
irren sie. "Wir sind noch nicht so weit wie der Sokrates des Aristophanes,
daß wir die Flohsprünge des unreifen jugendlichen Gedankens messen könnten."
Jäger macht dem jungen Lehrer einen besseren Vorschlag. "Wie wär's denn,
wenn dit dich kurz und gut entschlössest und ließest einmal Methode Methode
sein, besäuuest dich, daß du ein achtundzwanzigjähriger Manu bist und diese
hier zehnjährige Knaben: -- sähest ab von Titel und Karriere u. tgi. und
unterrichtetest in der Fröhlichkeit deines Herzens darauf löst" Was Jäger vom
Lehrer verlangt, sagt er in kurzen Worten. Er verlangt nicht: Vor allein habe
Geist! Denn "man könnte im Geist der Zeit, und auch uicht ohne Sinn,
ebensogut dem jungen Lehrer zurufen: Vor allem habe 10 000 Taler!". Er


Hcuiptmaims "Kaiser Karls Geisel" -- eines der Dramen aus der üblen jüngsten Periode --
trotz reichlich bemessener sexueller Zutat. Andererseits haben wir gerade aus neuerer Zeit
die Tatsache zu verzeichnen, daß die erfolgreichsten Romane die am wenigsten geschlechtlichen
waren. Z. B. Thomas Manns "Buddenbrooks", Hesses "Peter Camenzind", Frenssens "Jörn
Abt", Omptedas "Sylvester v. Geyer" -- Werke der besten Erzählungsliteratur, die in
Zehn- und Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet sind. Das gibt doch auch zu
denken und zeigt, daß es jedenfalls auf dem Gebiete des Romans nicht so einfach liegt,
wie der Herr Verfasser annimmt. Wenn man nicht bei einzelnen Werken stehen bleibt --
deren es übrigens zur Zeit Schillers und Goethes nach Zahl und Intensität verhältnis¬
mäßig mindestens so viel erotische gab wie jetzt -- wenn man also aufs Ganze sieht, so haben
wir gerade im Roman gegenwärtig vielleicht eine Art Blüte... kann sein, sie ist schon gewesen.
Darauf hat z. B. much Heinrich Spiero in Heft 2 dieses Jahrgangs überzeugend hin¬
D. Schrftltg. gewiesen.
Gskar Jäger

So darf seine Stimme Anspruch darauf machen, gehört zu werden. Was
er uns als die reichen Erfahrungen eines langen Lebens zu sagen hatte, hat
er bereits vor einigen Jahren in den beiden Bänden seines Werkes „Aus der
Praxis" niedergelegt. Zu dem, als was er sie schon damals bezeichnet hatte,
einem pädagogischen Testament, sind sie jetzt im eigentlichen Sinn des
Wortes geworden. Mit scharfgespitzter Feder zerstiebt er gar manche bunt
schillernde Seifenblase, die selbstzufriedene Pädagogen zu ihrer eigenen und
anderer harmloser Gemüter Ergötzung emporsteigen ließen.

Sein Zorn gilt besonders den Tüfteleien der Methodiker, die mit ihren
Spitzfindigkeiten alle Natur aus der Schule vertreiben. „Man legt jetzt einen
einigermaßen übertriebenen Wert auf die Einzelheiten der Unterrichtstechnik,
und man redet ohne weitere Bestimmung gern von der .neuen Methode'' es
bildet sich eine Art methodischer oder methodistischer Orthodoxie, die wie jede
Orthodoxie die Freiheit nicht bloß beschränkt, sondern — und zwar gerade bei
den ernst Angelegten — innerlich lahmt." — „Künftighin wird es bloß noch
Lehrkräfte geben: allerdings diese Lehrkräfte.werden keine Individuen mehr sein,
sondern nur die willenlosen Organe der richtigen Methode, welche ihnen auf
irgendeiner Kandidatenbildungsanstalt eingegossen morden, — dagegen aber
werden sie die Individualität ihrer Sextaner, sämtlicher, aufs genaueste kennen."
Wenn aber die Methodenjäger meinen, die Vorstellungs- und Gedanken-
verbindungen in den Köpfen der Schüler alle in ihrer Gewalt zu haben, so
irren sie. „Wir sind noch nicht so weit wie der Sokrates des Aristophanes,
daß wir die Flohsprünge des unreifen jugendlichen Gedankens messen könnten."
Jäger macht dem jungen Lehrer einen besseren Vorschlag. „Wie wär's denn,
wenn dit dich kurz und gut entschlössest und ließest einmal Methode Methode
sein, besäuuest dich, daß du ein achtundzwanzigjähriger Manu bist und diese
hier zehnjährige Knaben: — sähest ab von Titel und Karriere u. tgi. und
unterrichtetest in der Fröhlichkeit deines Herzens darauf löst" Was Jäger vom
Lehrer verlangt, sagt er in kurzen Worten. Er verlangt nicht: Vor allein habe
Geist! Denn „man könnte im Geist der Zeit, und auch uicht ohne Sinn,
ebensogut dem jungen Lehrer zurufen: Vor allem habe 10 000 Taler!". Er


Hcuiptmaims „Kaiser Karls Geisel" — eines der Dramen aus der üblen jüngsten Periode —
trotz reichlich bemessener sexueller Zutat. Andererseits haben wir gerade aus neuerer Zeit
die Tatsache zu verzeichnen, daß die erfolgreichsten Romane die am wenigsten geschlechtlichen
waren. Z. B. Thomas Manns „Buddenbrooks", Hesses „Peter Camenzind", Frenssens „Jörn
Abt", Omptedas „Sylvester v. Geyer" — Werke der besten Erzählungsliteratur, die in
Zehn- und Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet sind. Das gibt doch auch zu
denken und zeigt, daß es jedenfalls auf dem Gebiete des Romans nicht so einfach liegt,
wie der Herr Verfasser annimmt. Wenn man nicht bei einzelnen Werken stehen bleibt —
deren es übrigens zur Zeit Schillers und Goethes nach Zahl und Intensität verhältnis¬
mäßig mindestens so viel erotische gab wie jetzt — wenn man also aufs Ganze sieht, so haben
wir gerade im Roman gegenwärtig vielleicht eine Art Blüte... kann sein, sie ist schon gewesen.
Darauf hat z. B. much Heinrich Spiero in Heft 2 dieses Jahrgangs überzeugend hin¬
D. Schrftltg. gewiesen.
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[0616] Gskar Jäger So darf seine Stimme Anspruch darauf machen, gehört zu werden. Was er uns als die reichen Erfahrungen eines langen Lebens zu sagen hatte, hat er bereits vor einigen Jahren in den beiden Bänden seines Werkes „Aus der Praxis" niedergelegt. Zu dem, als was er sie schon damals bezeichnet hatte, einem pädagogischen Testament, sind sie jetzt im eigentlichen Sinn des Wortes geworden. Mit scharfgespitzter Feder zerstiebt er gar manche bunt schillernde Seifenblase, die selbstzufriedene Pädagogen zu ihrer eigenen und anderer harmloser Gemüter Ergötzung emporsteigen ließen. Sein Zorn gilt besonders den Tüfteleien der Methodiker, die mit ihren Spitzfindigkeiten alle Natur aus der Schule vertreiben. „Man legt jetzt einen einigermaßen übertriebenen Wert auf die Einzelheiten der Unterrichtstechnik, und man redet ohne weitere Bestimmung gern von der .neuen Methode'' es bildet sich eine Art methodischer oder methodistischer Orthodoxie, die wie jede Orthodoxie die Freiheit nicht bloß beschränkt, sondern — und zwar gerade bei den ernst Angelegten — innerlich lahmt." — „Künftighin wird es bloß noch Lehrkräfte geben: allerdings diese Lehrkräfte.werden keine Individuen mehr sein, sondern nur die willenlosen Organe der richtigen Methode, welche ihnen auf irgendeiner Kandidatenbildungsanstalt eingegossen morden, — dagegen aber werden sie die Individualität ihrer Sextaner, sämtlicher, aufs genaueste kennen." Wenn aber die Methodenjäger meinen, die Vorstellungs- und Gedanken- verbindungen in den Köpfen der Schüler alle in ihrer Gewalt zu haben, so irren sie. „Wir sind noch nicht so weit wie der Sokrates des Aristophanes, daß wir die Flohsprünge des unreifen jugendlichen Gedankens messen könnten." Jäger macht dem jungen Lehrer einen besseren Vorschlag. „Wie wär's denn, wenn dit dich kurz und gut entschlössest und ließest einmal Methode Methode sein, besäuuest dich, daß du ein achtundzwanzigjähriger Manu bist und diese hier zehnjährige Knaben: — sähest ab von Titel und Karriere u. tgi. und unterrichtetest in der Fröhlichkeit deines Herzens darauf löst" Was Jäger vom Lehrer verlangt, sagt er in kurzen Worten. Er verlangt nicht: Vor allein habe Geist! Denn „man könnte im Geist der Zeit, und auch uicht ohne Sinn, ebensogut dem jungen Lehrer zurufen: Vor allem habe 10 000 Taler!". Er Hcuiptmaims „Kaiser Karls Geisel" — eines der Dramen aus der üblen jüngsten Periode — trotz reichlich bemessener sexueller Zutat. Andererseits haben wir gerade aus neuerer Zeit die Tatsache zu verzeichnen, daß die erfolgreichsten Romane die am wenigsten geschlechtlichen waren. Z. B. Thomas Manns „Buddenbrooks", Hesses „Peter Camenzind", Frenssens „Jörn Abt", Omptedas „Sylvester v. Geyer" — Werke der besten Erzählungsliteratur, die in Zehn- und Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet sind. Das gibt doch auch zu denken und zeigt, daß es jedenfalls auf dem Gebiete des Romans nicht so einfach liegt, wie der Herr Verfasser annimmt. Wenn man nicht bei einzelnen Werken stehen bleibt — deren es übrigens zur Zeit Schillers und Goethes nach Zahl und Intensität verhältnis¬ mäßig mindestens so viel erotische gab wie jetzt — wenn man also aufs Ganze sieht, so haben wir gerade im Roman gegenwärtig vielleicht eine Art Blüte... kann sein, sie ist schon gewesen. Darauf hat z. B. much Heinrich Spiero in Heft 2 dieses Jahrgangs überzeugend hin¬ D. Schrftltg. gewiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/616>, abgerufen am 22.12.2024.