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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Eine zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

gefühl in unserem Volk, daß selbst der abgelebteste Geselle sich mit einen:
unbehaglichen, scheuen Blick zurückzieht, sobald er sich beim Genießenwollen dieser
hochmodernen buchhändlerischen Schaufensterauslagen von anderen beobachtet sieht.

Noch einen Blick auf die zur Schau aufliegenden Bücher. Ihre grell¬
farbigen Einbände, ihr grotesker, gesperrter und gespreizter Druck ist noch nicht
das Auffallendste, Befremdendste an ihnen. Viel mehr fordert das eigenartige
Sammelsurium von Titeln und Aufschriften unser neugieriges Staunen heraus.
Da liest man: Über Nacktheit und Schönheit, über das Nackte, über die Nackt¬
kultur, über die Schönheit des weiblichen Körpers, über die Rassenschönheit des
Weibes -- und so fort, in ewig wechselnder Zusammenstellung. Wo wir Hin¬
blicken, überall drangt sich uns in Bild und Wort des Weibes Nacktheit und
Schönheit auf. Einfach zum Abscheu, zum Ekel--! Und daneben, gleich band¬
weise behandelt, das hochaktuelle, so überaus beliebte sexuelle Thema, in grell¬
farbigen Umschlag gehüllt und mit einer wahren Prachtfülle interessanter Buchtitel
bedruckt. Und hinter allen her, wie eine stattliche Polizeigarde, die schwere
Menge von Sittlichkeits- und Unsittlichkeitsbüchern. Bände, Folianten rücken da
auf, als grobes Geschütz, von den "Wir jungen Männer" an bis zu den "Was
muß die Jungfrau wissen?" --

Da habt ihr die Bescherung, ihr Propheten der Schönheit und Nacketei!
Laßt euer ewiges Gestüte und Getue über Kunst, Schönheit und Sittlichkeit,
dann braucht es nicht des lästigen Geschmieres über das Sexuelle und die
Unsittlichkeit! Was die jungen Männer und Jungfrauen von heute wissen
müssen? Wie sie sich als Kulturanwärter zu benehmen haben, wie sie ihren
Verpflichtungen den Mitmenschen gegenüber am besten und eifrigsten nachkommen
können, das müssen sie vor allem wissen! Von dem Nacktsein und von der
Geschlechterfrage brauchen sie gar nichts zu wissen -- kein Jota! Und am
allerwenigsten sollen sie derlei Wissenschaft aus den sogenannten "guten Rat¬
gebern", aus den väterlich belehrenden Büchern schöpfen. Der Umgang mit der
Natur und das Beispiel der Tiere wird sie auch in dem unterrichten, was sie
vom Tier als ererbten Rest noch in das Menschtum mit herübergenommen haben.

Mehr als alle Aufklärung über das Sexuelle und seine Schäden für Leib
und Seele, mehr als alles Unterrichten und Predigen über wahres, gesundes,
natürliches Empfinden in dieser heiklen Angelegenheit nicht bei Kindern das gute
Beispiel der Eltern. Wenn der Vater die schlechten Häuser absucht, wenn die
Mutter auf Maskenbällen und Redouten Abenteuern nachjagt, dann helfen weder
den jungen Männern noch den Jungfrauen die unberufenen, hilfebeflissenen
Bücherratschläge, hinter denen selbst wieder der Menschenkenner nur allzuoft und
allzu berechtigt den eingefleischter, unausrottbaren sexuellen Prickel wittern muß.
Wenn der heuchelte Alte im Wirtshause in Gegenwart des Sohnes seinen Arm
der Kellnerin um die unkeusche Hüfte schlingt, kann man es dem Jungen nicht
so sehr verübeln, wenn er sich dasselbe und oft noch mehr bei ähnlich gefälligen
Wesen erlaubt. Wenn aber der Vater gar die Heiligkeit seines eigenen Heinis


Eine zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

gefühl in unserem Volk, daß selbst der abgelebteste Geselle sich mit einen:
unbehaglichen, scheuen Blick zurückzieht, sobald er sich beim Genießenwollen dieser
hochmodernen buchhändlerischen Schaufensterauslagen von anderen beobachtet sieht.

Noch einen Blick auf die zur Schau aufliegenden Bücher. Ihre grell¬
farbigen Einbände, ihr grotesker, gesperrter und gespreizter Druck ist noch nicht
das Auffallendste, Befremdendste an ihnen. Viel mehr fordert das eigenartige
Sammelsurium von Titeln und Aufschriften unser neugieriges Staunen heraus.
Da liest man: Über Nacktheit und Schönheit, über das Nackte, über die Nackt¬
kultur, über die Schönheit des weiblichen Körpers, über die Rassenschönheit des
Weibes — und so fort, in ewig wechselnder Zusammenstellung. Wo wir Hin¬
blicken, überall drangt sich uns in Bild und Wort des Weibes Nacktheit und
Schönheit auf. Einfach zum Abscheu, zum Ekel--! Und daneben, gleich band¬
weise behandelt, das hochaktuelle, so überaus beliebte sexuelle Thema, in grell¬
farbigen Umschlag gehüllt und mit einer wahren Prachtfülle interessanter Buchtitel
bedruckt. Und hinter allen her, wie eine stattliche Polizeigarde, die schwere
Menge von Sittlichkeits- und Unsittlichkeitsbüchern. Bände, Folianten rücken da
auf, als grobes Geschütz, von den „Wir jungen Männer" an bis zu den „Was
muß die Jungfrau wissen?" —

Da habt ihr die Bescherung, ihr Propheten der Schönheit und Nacketei!
Laßt euer ewiges Gestüte und Getue über Kunst, Schönheit und Sittlichkeit,
dann braucht es nicht des lästigen Geschmieres über das Sexuelle und die
Unsittlichkeit! Was die jungen Männer und Jungfrauen von heute wissen
müssen? Wie sie sich als Kulturanwärter zu benehmen haben, wie sie ihren
Verpflichtungen den Mitmenschen gegenüber am besten und eifrigsten nachkommen
können, das müssen sie vor allem wissen! Von dem Nacktsein und von der
Geschlechterfrage brauchen sie gar nichts zu wissen — kein Jota! Und am
allerwenigsten sollen sie derlei Wissenschaft aus den sogenannten „guten Rat¬
gebern", aus den väterlich belehrenden Büchern schöpfen. Der Umgang mit der
Natur und das Beispiel der Tiere wird sie auch in dem unterrichten, was sie
vom Tier als ererbten Rest noch in das Menschtum mit herübergenommen haben.

Mehr als alle Aufklärung über das Sexuelle und seine Schäden für Leib
und Seele, mehr als alles Unterrichten und Predigen über wahres, gesundes,
natürliches Empfinden in dieser heiklen Angelegenheit nicht bei Kindern das gute
Beispiel der Eltern. Wenn der Vater die schlechten Häuser absucht, wenn die
Mutter auf Maskenbällen und Redouten Abenteuern nachjagt, dann helfen weder
den jungen Männern noch den Jungfrauen die unberufenen, hilfebeflissenen
Bücherratschläge, hinter denen selbst wieder der Menschenkenner nur allzuoft und
allzu berechtigt den eingefleischter, unausrottbaren sexuellen Prickel wittern muß.
Wenn der heuchelte Alte im Wirtshause in Gegenwart des Sohnes seinen Arm
der Kellnerin um die unkeusche Hüfte schlingt, kann man es dem Jungen nicht
so sehr verübeln, wenn er sich dasselbe und oft noch mehr bei ähnlich gefälligen
Wesen erlaubt. Wenn aber der Vater gar die Heiligkeit seines eigenen Heinis


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[0611] Eine zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt gefühl in unserem Volk, daß selbst der abgelebteste Geselle sich mit einen: unbehaglichen, scheuen Blick zurückzieht, sobald er sich beim Genießenwollen dieser hochmodernen buchhändlerischen Schaufensterauslagen von anderen beobachtet sieht. Noch einen Blick auf die zur Schau aufliegenden Bücher. Ihre grell¬ farbigen Einbände, ihr grotesker, gesperrter und gespreizter Druck ist noch nicht das Auffallendste, Befremdendste an ihnen. Viel mehr fordert das eigenartige Sammelsurium von Titeln und Aufschriften unser neugieriges Staunen heraus. Da liest man: Über Nacktheit und Schönheit, über das Nackte, über die Nackt¬ kultur, über die Schönheit des weiblichen Körpers, über die Rassenschönheit des Weibes — und so fort, in ewig wechselnder Zusammenstellung. Wo wir Hin¬ blicken, überall drangt sich uns in Bild und Wort des Weibes Nacktheit und Schönheit auf. Einfach zum Abscheu, zum Ekel--! Und daneben, gleich band¬ weise behandelt, das hochaktuelle, so überaus beliebte sexuelle Thema, in grell¬ farbigen Umschlag gehüllt und mit einer wahren Prachtfülle interessanter Buchtitel bedruckt. Und hinter allen her, wie eine stattliche Polizeigarde, die schwere Menge von Sittlichkeits- und Unsittlichkeitsbüchern. Bände, Folianten rücken da auf, als grobes Geschütz, von den „Wir jungen Männer" an bis zu den „Was muß die Jungfrau wissen?" — Da habt ihr die Bescherung, ihr Propheten der Schönheit und Nacketei! Laßt euer ewiges Gestüte und Getue über Kunst, Schönheit und Sittlichkeit, dann braucht es nicht des lästigen Geschmieres über das Sexuelle und die Unsittlichkeit! Was die jungen Männer und Jungfrauen von heute wissen müssen? Wie sie sich als Kulturanwärter zu benehmen haben, wie sie ihren Verpflichtungen den Mitmenschen gegenüber am besten und eifrigsten nachkommen können, das müssen sie vor allem wissen! Von dem Nacktsein und von der Geschlechterfrage brauchen sie gar nichts zu wissen — kein Jota! Und am allerwenigsten sollen sie derlei Wissenschaft aus den sogenannten „guten Rat¬ gebern", aus den väterlich belehrenden Büchern schöpfen. Der Umgang mit der Natur und das Beispiel der Tiere wird sie auch in dem unterrichten, was sie vom Tier als ererbten Rest noch in das Menschtum mit herübergenommen haben. Mehr als alle Aufklärung über das Sexuelle und seine Schäden für Leib und Seele, mehr als alles Unterrichten und Predigen über wahres, gesundes, natürliches Empfinden in dieser heiklen Angelegenheit nicht bei Kindern das gute Beispiel der Eltern. Wenn der Vater die schlechten Häuser absucht, wenn die Mutter auf Maskenbällen und Redouten Abenteuern nachjagt, dann helfen weder den jungen Männern noch den Jungfrauen die unberufenen, hilfebeflissenen Bücherratschläge, hinter denen selbst wieder der Menschenkenner nur allzuoft und allzu berechtigt den eingefleischter, unausrottbaren sexuellen Prickel wittern muß. Wenn der heuchelte Alte im Wirtshause in Gegenwart des Sohnes seinen Arm der Kellnerin um die unkeusche Hüfte schlingt, kann man es dem Jungen nicht so sehr verübeln, wenn er sich dasselbe und oft noch mehr bei ähnlich gefälligen Wesen erlaubt. Wenn aber der Vater gar die Heiligkeit seines eigenen Heinis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/611>, abgerufen am 04.07.2024.