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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Line zeitgemäße Abraham a Sander-Llara-Predigt

nicht in einem Notizbuch, wohl aber in meiner Seele, und alles zusammen¬
genommen vergleiche ich dann mit dem, was aus meiner Jugendzeit her-in
meinem Gedächtnis eingegraben steht. Wer sich, was die viel gemißbrauchten
Begriffe von Kunst, Schönheit und Sittlichkeit betrifft, den Unterschied von
damals und heute recht handgreiflich vor Augen führen will, der braucht heute
nur einen Blick auf die literarische Auslage eines Bücherladenfensters zu werfen,
aber um Gottes willen nicht in Gesellschaft seines halberwachsenen Töchterchens
und vollends nicht in der Faschingszeit, wenn anders er es vermeiden will,
daß ihm die Schamröte in das Gesicht steigt.

Ehemals wurden die gediegenen Bandreihen der Klassiker, der zeitgemäßen,
unumgänglichen Schulgelehrten oder der Schönliteraten höchstens einmal durch
die kolorierte Einbanddecke des Robinson Crusoe oder erner Jndianergeschichtc
unterbrochen, ohne daß dadurch der Ernst so vielbündiger Wissenschaft irgendwie
beeinträchtigt worden wäre. Oder es hing einer der unvergeßlichen Münchner
Bilderbogen aus, um deu sich dann jung und alt in friedlicher Eintracht
Scharte, dicht gedrängt stehend, oft bis in die Mitte der Fahrstraße hinein.
Da konnte man schon von den Gesichtern ablesen, was unverfälschte, im Dienste
echten Humors und nicht spekulativer Gemeinheit stehende Kunst für eine herz¬
erquickende Wirkung bei den Menschen erzielte. Diese Wirkung zeigte sich bei
allen gleich echt, gleich offenkundig, ob nun ein würdiger Gelehrter vor den:
Ladenfenster stand oder ein Arbeitsmami im blauen Kittel und mit schwieligen
Händen, ob ein stumpfnäsiger Schusterjuuge oder ein geschniegelter Garde¬
leutnant, ob ein renommierender Korpsstudent oder ein Backfisch im Flügelkleid
und mit der Mühlknappe in der Hand.

Und heute --? Welch künstlerische Ausbeute geben zum Beispiel in der
Faschingszeit allein die zahllos zur Schau gestellten illustrierten und dazu, noch
witzig sein sollenden Blätter dem Publikum zu genießen! In wie schamloser,
brutaler Weise wird hier die sogenannte Kunst verabreicht, nur um aus dem
niedrigsten Trieb im Menschen, aus seinem unveräußerlichen, tierischen Erbteil
Kapital zu schlagen. Man sieht es dieser Sorte von Kunstprodukten über die
ganze Straßenbreite herüber an, daß sich ihre Macher in der bildlichen Dar¬
stellung von Gemeinheiten förmlich überbieten, um das Titelblatt der Zeitschrift
ja recht in die Augen fallend zu machen.

Natürlich spielt das Weib, besser der Ausbund von Weibern, auch auf
diesen Kunstblättern die weitaus größte Rolle. Aber hier ist es zumeist nicht
das ganz nackte Weib, hier ist es das halbnackte, oder besser das mangelhaft
verhüllte, das bis auf die diskretesten Reste entkleidete Weib, was als Reizmittel
für die Zeitschrift zur allgemeinen Besichtigung vorgeführt wird. Ist das Kunst,
ist das Schönheit, ist es Sittlichkeit -- oder ist es nicht vielmehr dem modernen,
dekadenten Übergeschmack zu verdankende Schweinerei? Ein Erfreuliches darf
selbst bei diesem bedauerlichen Anlaß zugegeben werden. Es schlummert noch
immer so viel gesundes, durch vielhundertjährige Kulturzucht anerzogenes Schaul-


Line zeitgemäße Abraham a Sander-Llara-Predigt

nicht in einem Notizbuch, wohl aber in meiner Seele, und alles zusammen¬
genommen vergleiche ich dann mit dem, was aus meiner Jugendzeit her-in
meinem Gedächtnis eingegraben steht. Wer sich, was die viel gemißbrauchten
Begriffe von Kunst, Schönheit und Sittlichkeit betrifft, den Unterschied von
damals und heute recht handgreiflich vor Augen führen will, der braucht heute
nur einen Blick auf die literarische Auslage eines Bücherladenfensters zu werfen,
aber um Gottes willen nicht in Gesellschaft seines halberwachsenen Töchterchens
und vollends nicht in der Faschingszeit, wenn anders er es vermeiden will,
daß ihm die Schamröte in das Gesicht steigt.

Ehemals wurden die gediegenen Bandreihen der Klassiker, der zeitgemäßen,
unumgänglichen Schulgelehrten oder der Schönliteraten höchstens einmal durch
die kolorierte Einbanddecke des Robinson Crusoe oder erner Jndianergeschichtc
unterbrochen, ohne daß dadurch der Ernst so vielbündiger Wissenschaft irgendwie
beeinträchtigt worden wäre. Oder es hing einer der unvergeßlichen Münchner
Bilderbogen aus, um deu sich dann jung und alt in friedlicher Eintracht
Scharte, dicht gedrängt stehend, oft bis in die Mitte der Fahrstraße hinein.
Da konnte man schon von den Gesichtern ablesen, was unverfälschte, im Dienste
echten Humors und nicht spekulativer Gemeinheit stehende Kunst für eine herz¬
erquickende Wirkung bei den Menschen erzielte. Diese Wirkung zeigte sich bei
allen gleich echt, gleich offenkundig, ob nun ein würdiger Gelehrter vor den:
Ladenfenster stand oder ein Arbeitsmami im blauen Kittel und mit schwieligen
Händen, ob ein stumpfnäsiger Schusterjuuge oder ein geschniegelter Garde¬
leutnant, ob ein renommierender Korpsstudent oder ein Backfisch im Flügelkleid
und mit der Mühlknappe in der Hand.

Und heute —? Welch künstlerische Ausbeute geben zum Beispiel in der
Faschingszeit allein die zahllos zur Schau gestellten illustrierten und dazu, noch
witzig sein sollenden Blätter dem Publikum zu genießen! In wie schamloser,
brutaler Weise wird hier die sogenannte Kunst verabreicht, nur um aus dem
niedrigsten Trieb im Menschen, aus seinem unveräußerlichen, tierischen Erbteil
Kapital zu schlagen. Man sieht es dieser Sorte von Kunstprodukten über die
ganze Straßenbreite herüber an, daß sich ihre Macher in der bildlichen Dar¬
stellung von Gemeinheiten förmlich überbieten, um das Titelblatt der Zeitschrift
ja recht in die Augen fallend zu machen.

Natürlich spielt das Weib, besser der Ausbund von Weibern, auch auf
diesen Kunstblättern die weitaus größte Rolle. Aber hier ist es zumeist nicht
das ganz nackte Weib, hier ist es das halbnackte, oder besser das mangelhaft
verhüllte, das bis auf die diskretesten Reste entkleidete Weib, was als Reizmittel
für die Zeitschrift zur allgemeinen Besichtigung vorgeführt wird. Ist das Kunst,
ist das Schönheit, ist es Sittlichkeit — oder ist es nicht vielmehr dem modernen,
dekadenten Übergeschmack zu verdankende Schweinerei? Ein Erfreuliches darf
selbst bei diesem bedauerlichen Anlaß zugegeben werden. Es schlummert noch
immer so viel gesundes, durch vielhundertjährige Kulturzucht anerzogenes Schaul-


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[0610] Line zeitgemäße Abraham a Sander-Llara-Predigt nicht in einem Notizbuch, wohl aber in meiner Seele, und alles zusammen¬ genommen vergleiche ich dann mit dem, was aus meiner Jugendzeit her-in meinem Gedächtnis eingegraben steht. Wer sich, was die viel gemißbrauchten Begriffe von Kunst, Schönheit und Sittlichkeit betrifft, den Unterschied von damals und heute recht handgreiflich vor Augen führen will, der braucht heute nur einen Blick auf die literarische Auslage eines Bücherladenfensters zu werfen, aber um Gottes willen nicht in Gesellschaft seines halberwachsenen Töchterchens und vollends nicht in der Faschingszeit, wenn anders er es vermeiden will, daß ihm die Schamröte in das Gesicht steigt. Ehemals wurden die gediegenen Bandreihen der Klassiker, der zeitgemäßen, unumgänglichen Schulgelehrten oder der Schönliteraten höchstens einmal durch die kolorierte Einbanddecke des Robinson Crusoe oder erner Jndianergeschichtc unterbrochen, ohne daß dadurch der Ernst so vielbündiger Wissenschaft irgendwie beeinträchtigt worden wäre. Oder es hing einer der unvergeßlichen Münchner Bilderbogen aus, um deu sich dann jung und alt in friedlicher Eintracht Scharte, dicht gedrängt stehend, oft bis in die Mitte der Fahrstraße hinein. Da konnte man schon von den Gesichtern ablesen, was unverfälschte, im Dienste echten Humors und nicht spekulativer Gemeinheit stehende Kunst für eine herz¬ erquickende Wirkung bei den Menschen erzielte. Diese Wirkung zeigte sich bei allen gleich echt, gleich offenkundig, ob nun ein würdiger Gelehrter vor den: Ladenfenster stand oder ein Arbeitsmami im blauen Kittel und mit schwieligen Händen, ob ein stumpfnäsiger Schusterjuuge oder ein geschniegelter Garde¬ leutnant, ob ein renommierender Korpsstudent oder ein Backfisch im Flügelkleid und mit der Mühlknappe in der Hand. Und heute —? Welch künstlerische Ausbeute geben zum Beispiel in der Faschingszeit allein die zahllos zur Schau gestellten illustrierten und dazu, noch witzig sein sollenden Blätter dem Publikum zu genießen! In wie schamloser, brutaler Weise wird hier die sogenannte Kunst verabreicht, nur um aus dem niedrigsten Trieb im Menschen, aus seinem unveräußerlichen, tierischen Erbteil Kapital zu schlagen. Man sieht es dieser Sorte von Kunstprodukten über die ganze Straßenbreite herüber an, daß sich ihre Macher in der bildlichen Dar¬ stellung von Gemeinheiten förmlich überbieten, um das Titelblatt der Zeitschrift ja recht in die Augen fallend zu machen. Natürlich spielt das Weib, besser der Ausbund von Weibern, auch auf diesen Kunstblättern die weitaus größte Rolle. Aber hier ist es zumeist nicht das ganz nackte Weib, hier ist es das halbnackte, oder besser das mangelhaft verhüllte, das bis auf die diskretesten Reste entkleidete Weib, was als Reizmittel für die Zeitschrift zur allgemeinen Besichtigung vorgeführt wird. Ist das Kunst, ist das Schönheit, ist es Sittlichkeit — oder ist es nicht vielmehr dem modernen, dekadenten Übergeschmack zu verdankende Schweinerei? Ein Erfreuliches darf selbst bei diesem bedauerlichen Anlaß zugegeben werden. Es schlummert noch immer so viel gesundes, durch vielhundertjährige Kulturzucht anerzogenes Schaul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/610>, abgerufen am 04.07.2024.