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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Adele Schopenhauers Tagebücher

Im Mittelpunkte der Tagesbücher steht Ateles Herzensfreundin Ottilie von
Pogowisch, die nachmalige Schwiegertochter Goethes. Ihr Leben wird durch sie
ausgefüllt, sie behandelt sie als ihre bessere Hälfte. Sie kann es nicht fassen, das; sie
sie mit einem andern teilen, sie an August v. Goethe verlieren soll. Aber sie fleht
nur zu Gott, daß er das Füllhorn des Segens über Ottilie ausschütte. Es will
dem hellsehender Mädchen nicht aus dem Sinn, daß Ottilie ihren Bräutigam
lieb hat, aber nicht liebt, und daß zwischen den Verlobten keine Wahlverwandt¬
schaft besteht. Eine stille, ernste, matronenartige Rührung überkommt sie bei den:
Anblicke der zahlreichen Mißverständnisse, Launen und Härten, durch die sie sich
ihr junges Leben verbittern. Sie tulit sich schließlich in die Hoffnung ein. daß
Ottilie auf deu Gatten wirken wird; aber die Hoffnung geht nicht in Erfüllung,
sie muß sich resigniert eingestehen, daß bei ihm eine Häutung nicht zu erwarten ist.
Wie Ottilie die Heldin, so ist Ferdinand Heinke, später Polizeipräsident und
Kurator der Universität zu Breslau, der Held der Tagebücher. Ihre Neigung zu
ihm war hoffnungslos, dennoch blieb er unbeschränkter Herr ihrer Seele. Es
versteht sich von selbst, daß die Tagebücher auf das Verhältnis Artur Schopenhauers
zu Mutter und Schwester neue Streiflichter warfen. Sie vertraut den geliebten
Blättern an, wie die Mutter den einzigen Sohn herzlos dem Hausfreunde opfert,
wie sie alle unter Gerstenbergks Launen und Willkür zu leiden haben, wie sich
Johanna doch uicht von ihm trennen kann und sogar eine Verbindung zwischen
ihm und Adele zu wünschen scheint. Und Adele krankt an diesen unreinen Ver¬
hältnissen, sie leidet unter der natürlichen Entfremdung zwischen Artur und den Seinen.

Die Verfasserin ist eine Lebenskünstlerin. Sie ist, wie sie sich einmal nennt,
die starke Adele und sie verkörpert die Sentenz, daß wahre Klugheit mild ist. Nur
ab und zu regen sich leise Schmerz und Ingrimm in ihr, sie fühlt sich verlassen
und verwundet. Sie vergleicht in sinniger Weise die Wünsche mit Kindern: sie
scheinen einer andern Welt zu gehören und sehen so ernst über Blumen und
Sterne hin, aber sind sie einmal recht munter und wach geworden, so wollen sie
die ganze Erde und toben und laufen, und die alte Wärterin Vernunft rennt
hinterher und kann sie nicht halten und zügeln. In: Zusammenhange damit richtet sie
die vorwurfsvolle Frage an das Schicksal: "Wer konnte glücklicher werden als
ich, wer konnte besser lieben als ich und, ohne Stolz sage ich's, liebend glücklicher
machen?"

Es fehlt in den Tagebüchern nicht an poetischen Wendungen und Gedanken.
Auch Witz, Humor und Satire würzen sie. Es weht in ihnen etwas von der
Luft, in der die gewaltigen Gedanken des Olympiers zu Gestalt und Leben gediehen.


Bernhard Münz


Adele Schopenhauers Tagebücher

Im Mittelpunkte der Tagesbücher steht Ateles Herzensfreundin Ottilie von
Pogowisch, die nachmalige Schwiegertochter Goethes. Ihr Leben wird durch sie
ausgefüllt, sie behandelt sie als ihre bessere Hälfte. Sie kann es nicht fassen, das; sie
sie mit einem andern teilen, sie an August v. Goethe verlieren soll. Aber sie fleht
nur zu Gott, daß er das Füllhorn des Segens über Ottilie ausschütte. Es will
dem hellsehender Mädchen nicht aus dem Sinn, daß Ottilie ihren Bräutigam
lieb hat, aber nicht liebt, und daß zwischen den Verlobten keine Wahlverwandt¬
schaft besteht. Eine stille, ernste, matronenartige Rührung überkommt sie bei den:
Anblicke der zahlreichen Mißverständnisse, Launen und Härten, durch die sie sich
ihr junges Leben verbittern. Sie tulit sich schließlich in die Hoffnung ein. daß
Ottilie auf deu Gatten wirken wird; aber die Hoffnung geht nicht in Erfüllung,
sie muß sich resigniert eingestehen, daß bei ihm eine Häutung nicht zu erwarten ist.
Wie Ottilie die Heldin, so ist Ferdinand Heinke, später Polizeipräsident und
Kurator der Universität zu Breslau, der Held der Tagebücher. Ihre Neigung zu
ihm war hoffnungslos, dennoch blieb er unbeschränkter Herr ihrer Seele. Es
versteht sich von selbst, daß die Tagebücher auf das Verhältnis Artur Schopenhauers
zu Mutter und Schwester neue Streiflichter warfen. Sie vertraut den geliebten
Blättern an, wie die Mutter den einzigen Sohn herzlos dem Hausfreunde opfert,
wie sie alle unter Gerstenbergks Launen und Willkür zu leiden haben, wie sich
Johanna doch uicht von ihm trennen kann und sogar eine Verbindung zwischen
ihm und Adele zu wünschen scheint. Und Adele krankt an diesen unreinen Ver¬
hältnissen, sie leidet unter der natürlichen Entfremdung zwischen Artur und den Seinen.

Die Verfasserin ist eine Lebenskünstlerin. Sie ist, wie sie sich einmal nennt,
die starke Adele und sie verkörpert die Sentenz, daß wahre Klugheit mild ist. Nur
ab und zu regen sich leise Schmerz und Ingrimm in ihr, sie fühlt sich verlassen
und verwundet. Sie vergleicht in sinniger Weise die Wünsche mit Kindern: sie
scheinen einer andern Welt zu gehören und sehen so ernst über Blumen und
Sterne hin, aber sind sie einmal recht munter und wach geworden, so wollen sie
die ganze Erde und toben und laufen, und die alte Wärterin Vernunft rennt
hinterher und kann sie nicht halten und zügeln. In: Zusammenhange damit richtet sie
die vorwurfsvolle Frage an das Schicksal: „Wer konnte glücklicher werden als
ich, wer konnte besser lieben als ich und, ohne Stolz sage ich's, liebend glücklicher
machen?"

Es fehlt in den Tagebüchern nicht an poetischen Wendungen und Gedanken.
Auch Witz, Humor und Satire würzen sie. Es weht in ihnen etwas von der
Luft, in der die gewaltigen Gedanken des Olympiers zu Gestalt und Leben gediehen.


Bernhard Münz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/587>, abgerufen am 04.07.2024.