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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vernachlässigung der sachlichen Momente zugunsten einer liebevollen Ausmalung der
Äußerlichkeiten oder, was schlimmer ist, zugunsten eines weitgetriebenem Personal¬
klatsches. Für den Stimmungsbildner ist selbstverständlich die nüchterne Arbeits¬
sitzung ohne Belang. Sie läßt sich höchstens insofern ausbeuten, als sie Anlaß
gibt festzustellen, wie viele Abgeordnete auf dem Ledersofas schlafen. Das
Stimmungsbild bedarf des "großen Tages", der sich wie eine Theaterpremiere
oder wie ein Sensationsprozeß behandeln läßt. Forensische Gewohnheit scheint
dazu beizutragen, daß der Stimmungsbildner die Hauptperson des Tages wie
einen Angeklagten behandelt. An den ganz großen Tagen ist das natürlich der
Reichskanzler. Wie sieht er aus? Ist er frisch oder abgespannt? Zuversichtlich oder
nervös? Mit wem spricht er? Aha, mit einem Zentrumsmann! Er bittet den
schwarzblauen Block um gut Wetter. Mit einem Konservativen! Er läßt sich von
dem ungekrönten König von Preußen vorschreiben, was er sagen soll. Mit einem
Nationalliberalen! Er bestellt sich eine Jnterpellation über das persönliche Regiment.
Was hat er an? Die Frage ist für das Stimmungsbild äußerst wichtig, vielleicht,
weil es für die Damen geschrieben wird, die bei der Wahl des Zeitungsabonnements
ein wichtiges Wort mitzusprechen haben. So las man jetzt in den Zeitungen:
"Herr von Bethmann Hollweg hat die ersten Monate im neuen Amt dazu benutzt,
sich äußerlich sorgfältiger herzurichten. Ein tadelloser grauer Gehrock von neuestem
Schnitte umschließt die noch immer nach vorngebeugte Gestalt." Man hat das
Gefühl, daß der Schreiber dieser Zeilen gar nicht gemerkt hat, wie ungezogen er
ist. Ungeschminkte Rüpelei dagegen spricht aus folgenden Sätzen: "Mit der
Plastik der äußern Haltung hapert es ein wenig bei Herrn von Bethmann Hollweg.
Er redet ein bischen viel mit den Händen -- ob auch mit deu Füßen, ließ sich




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vernachlässigung der sachlichen Momente zugunsten einer liebevollen Ausmalung der
Äußerlichkeiten oder, was schlimmer ist, zugunsten eines weitgetriebenem Personal¬
klatsches. Für den Stimmungsbildner ist selbstverständlich die nüchterne Arbeits¬
sitzung ohne Belang. Sie läßt sich höchstens insofern ausbeuten, als sie Anlaß
gibt festzustellen, wie viele Abgeordnete auf dem Ledersofas schlafen. Das
Stimmungsbild bedarf des „großen Tages", der sich wie eine Theaterpremiere
oder wie ein Sensationsprozeß behandeln läßt. Forensische Gewohnheit scheint
dazu beizutragen, daß der Stimmungsbildner die Hauptperson des Tages wie
einen Angeklagten behandelt. An den ganz großen Tagen ist das natürlich der
Reichskanzler. Wie sieht er aus? Ist er frisch oder abgespannt? Zuversichtlich oder
nervös? Mit wem spricht er? Aha, mit einem Zentrumsmann! Er bittet den
schwarzblauen Block um gut Wetter. Mit einem Konservativen! Er läßt sich von
dem ungekrönten König von Preußen vorschreiben, was er sagen soll. Mit einem
Nationalliberalen! Er bestellt sich eine Jnterpellation über das persönliche Regiment.
Was hat er an? Die Frage ist für das Stimmungsbild äußerst wichtig, vielleicht,
weil es für die Damen geschrieben wird, die bei der Wahl des Zeitungsabonnements
ein wichtiges Wort mitzusprechen haben. So las man jetzt in den Zeitungen:
„Herr von Bethmann Hollweg hat die ersten Monate im neuen Amt dazu benutzt,
sich äußerlich sorgfältiger herzurichten. Ein tadelloser grauer Gehrock von neuestem
Schnitte umschließt die noch immer nach vorngebeugte Gestalt." Man hat das
Gefühl, daß der Schreiber dieser Zeilen gar nicht gemerkt hat, wie ungezogen er
ist. Ungeschminkte Rüpelei dagegen spricht aus folgenden Sätzen: „Mit der
Plastik der äußern Haltung hapert es ein wenig bei Herrn von Bethmann Hollweg.
Er redet ein bischen viel mit den Händen — ob auch mit deu Füßen, ließ sich




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[0058] Maßgebliches und Unmaßgebliches Vernachlässigung der sachlichen Momente zugunsten einer liebevollen Ausmalung der Äußerlichkeiten oder, was schlimmer ist, zugunsten eines weitgetriebenem Personal¬ klatsches. Für den Stimmungsbildner ist selbstverständlich die nüchterne Arbeits¬ sitzung ohne Belang. Sie läßt sich höchstens insofern ausbeuten, als sie Anlaß gibt festzustellen, wie viele Abgeordnete auf dem Ledersofas schlafen. Das Stimmungsbild bedarf des „großen Tages", der sich wie eine Theaterpremiere oder wie ein Sensationsprozeß behandeln läßt. Forensische Gewohnheit scheint dazu beizutragen, daß der Stimmungsbildner die Hauptperson des Tages wie einen Angeklagten behandelt. An den ganz großen Tagen ist das natürlich der Reichskanzler. Wie sieht er aus? Ist er frisch oder abgespannt? Zuversichtlich oder nervös? Mit wem spricht er? Aha, mit einem Zentrumsmann! Er bittet den schwarzblauen Block um gut Wetter. Mit einem Konservativen! Er läßt sich von dem ungekrönten König von Preußen vorschreiben, was er sagen soll. Mit einem Nationalliberalen! Er bestellt sich eine Jnterpellation über das persönliche Regiment. Was hat er an? Die Frage ist für das Stimmungsbild äußerst wichtig, vielleicht, weil es für die Damen geschrieben wird, die bei der Wahl des Zeitungsabonnements ein wichtiges Wort mitzusprechen haben. So las man jetzt in den Zeitungen: „Herr von Bethmann Hollweg hat die ersten Monate im neuen Amt dazu benutzt, sich äußerlich sorgfältiger herzurichten. Ein tadelloser grauer Gehrock von neuestem Schnitte umschließt die noch immer nach vorngebeugte Gestalt." Man hat das Gefühl, daß der Schreiber dieser Zeilen gar nicht gemerkt hat, wie ungezogen er ist. Ungeschminkte Rüpelei dagegen spricht aus folgenden Sätzen: „Mit der Plastik der äußern Haltung hapert es ein wenig bei Herrn von Bethmann Hollweg. Er redet ein bischen viel mit den Händen — ob auch mit deu Füßen, ließ sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/58>, abgerufen am 04.07.2024.