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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

und nicht im Gedächtnis haftet, weil das Gefühl kalt bleibt, so kann das
Geringfügigste durch entsprechende Kunst auf das äußerste spannen, unterhalten,
rühren. Diesem Zauber des Stils haben vor allem Franzosen und Italiener
gehuldigt und ihre Sprachen daraufhin geschliffen. Briefe und Konversation
bildeten die hohe Stufe des spannenden Stils, ebenso wie die höfisch feine
Kanzelberedsamkeit. Die pathetischen oder kölnischen Begebenheiten des Hofes
wurden mit epischer Gewalt dargestellt. So verfuhr Bossuet in seiner berühmten
Grabrede der jungen, geheimnisvoll verstorbenen Madame Henriette mit dem
geschickt angebrachten Aufschrei: ,Maäa,ins Sö msurt, ^lackame est mordet",
bei dem die ganze Zuhörerschaft in Tränen und Krämpfe verfiel. So Madame
de Sevigne in ihrem Meisterbrief, der die geplante Mesalliance der Cousine
des Königs anzeigte.

Jeder Schriftsteller erfindet eigene Tricks, um feinen Stil spannend zu
machen. Zum Beispiel la Bruyere, der eine lange Charakteristik mit einem
überraschend kurzen, ironischen Sätzchen schließt, das sie erklärt und beleuchtet,
wie "II sse pauvre, it est mens". Voltaire, der mit virouettierender Grazie
die Neugier durch überraschende Zickzackzüge steigert, Stendhal, der ewig
vibrierend und nervös dem Leser wie ein Aal zu entwischen scheint. Von
modernen Schriftstellern ist Anatole France der einzige, der solch raffinierte
Kunst als Erbteil übernommen hat und selbständig fortbildet. Ähnlich kunst¬
voll verfuhren englische Essayisten, wie Macaulay, wie Earlnle, der mit plötz¬
lichen, kurzen Sätzen oder leidenschaftlich verhindernden Apostrophen seine Dar¬
stellungsart fesselnd machte. Nach derselben Richtung versucht sich in Deutschland
mancher moderne Schriftsteller, der die Fesseln des ewig Langweiligen nur mit
Widerwillen und Ermüdung trug. Die italienische Schriftsprache wirkt leicht zu
pomphaft rethorisch, um abwechslungsreich, also spannend zu wirken. Dagegen
lassen die verschiedenen Dialekte, besonders der graziöse venezianische, alle Stil¬
scherze und spielerischen Effekte zu. Im Dialekt gedieh daher besonders das
Puppenspiel und die "Commedia dell' Arte", die beide gleichberechtigt mit dem
Märchen das spannende in seiner größten Unmittelbarkeit mit naivem Nach¬
druck zeigen.

Wenn in irgendeiner Kunstgattung das spannende nicht nur voll berechtigt,
sondern als Lonckitio sine qua non erscheint, so ist es in der dramatischen
Kunst. Bei dem ganzen bitteren Streit zwischen Romantikern und Klassikern
blieb das spannende der Handlung als Grundbedingung jeden Dramas
unbeanstandet. Es behaupteten die einen, daß die gespannte Aufmerksamkeit
des Publikums durch die drei Einheiten gefördert, durch die Zerrissenheit eines
Shakespeare aber gestört werde. Wenn die Klassizisten auch meist langweilig
erschienen, so hatten sie doch prinzipiell das Bestreben, auf vornehme Weise
unterhaltend zu sein. Es war dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts
aufgespart, das spannende Moment von der Bühne auszuschalten, es für ein
veraltetes, unnützes oder sogar unliterarisches Element zu erklären und die


Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

und nicht im Gedächtnis haftet, weil das Gefühl kalt bleibt, so kann das
Geringfügigste durch entsprechende Kunst auf das äußerste spannen, unterhalten,
rühren. Diesem Zauber des Stils haben vor allem Franzosen und Italiener
gehuldigt und ihre Sprachen daraufhin geschliffen. Briefe und Konversation
bildeten die hohe Stufe des spannenden Stils, ebenso wie die höfisch feine
Kanzelberedsamkeit. Die pathetischen oder kölnischen Begebenheiten des Hofes
wurden mit epischer Gewalt dargestellt. So verfuhr Bossuet in seiner berühmten
Grabrede der jungen, geheimnisvoll verstorbenen Madame Henriette mit dem
geschickt angebrachten Aufschrei: ,Maäa,ins Sö msurt, ^lackame est mordet",
bei dem die ganze Zuhörerschaft in Tränen und Krämpfe verfiel. So Madame
de Sevigne in ihrem Meisterbrief, der die geplante Mesalliance der Cousine
des Königs anzeigte.

Jeder Schriftsteller erfindet eigene Tricks, um feinen Stil spannend zu
machen. Zum Beispiel la Bruyere, der eine lange Charakteristik mit einem
überraschend kurzen, ironischen Sätzchen schließt, das sie erklärt und beleuchtet,
wie „II sse pauvre, it est mens". Voltaire, der mit virouettierender Grazie
die Neugier durch überraschende Zickzackzüge steigert, Stendhal, der ewig
vibrierend und nervös dem Leser wie ein Aal zu entwischen scheint. Von
modernen Schriftstellern ist Anatole France der einzige, der solch raffinierte
Kunst als Erbteil übernommen hat und selbständig fortbildet. Ähnlich kunst¬
voll verfuhren englische Essayisten, wie Macaulay, wie Earlnle, der mit plötz¬
lichen, kurzen Sätzen oder leidenschaftlich verhindernden Apostrophen seine Dar¬
stellungsart fesselnd machte. Nach derselben Richtung versucht sich in Deutschland
mancher moderne Schriftsteller, der die Fesseln des ewig Langweiligen nur mit
Widerwillen und Ermüdung trug. Die italienische Schriftsprache wirkt leicht zu
pomphaft rethorisch, um abwechslungsreich, also spannend zu wirken. Dagegen
lassen die verschiedenen Dialekte, besonders der graziöse venezianische, alle Stil¬
scherze und spielerischen Effekte zu. Im Dialekt gedieh daher besonders das
Puppenspiel und die „Commedia dell' Arte", die beide gleichberechtigt mit dem
Märchen das spannende in seiner größten Unmittelbarkeit mit naivem Nach¬
druck zeigen.

Wenn in irgendeiner Kunstgattung das spannende nicht nur voll berechtigt,
sondern als Lonckitio sine qua non erscheint, so ist es in der dramatischen
Kunst. Bei dem ganzen bitteren Streit zwischen Romantikern und Klassikern
blieb das spannende der Handlung als Grundbedingung jeden Dramas
unbeanstandet. Es behaupteten die einen, daß die gespannte Aufmerksamkeit
des Publikums durch die drei Einheiten gefördert, durch die Zerrissenheit eines
Shakespeare aber gestört werde. Wenn die Klassizisten auch meist langweilig
erschienen, so hatten sie doch prinzipiell das Bestreben, auf vornehme Weise
unterhaltend zu sein. Es war dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts
aufgespart, das spannende Moment von der Bühne auszuschalten, es für ein
veraltetes, unnützes oder sogar unliterarisches Element zu erklären und die


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[0553] Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur und nicht im Gedächtnis haftet, weil das Gefühl kalt bleibt, so kann das Geringfügigste durch entsprechende Kunst auf das äußerste spannen, unterhalten, rühren. Diesem Zauber des Stils haben vor allem Franzosen und Italiener gehuldigt und ihre Sprachen daraufhin geschliffen. Briefe und Konversation bildeten die hohe Stufe des spannenden Stils, ebenso wie die höfisch feine Kanzelberedsamkeit. Die pathetischen oder kölnischen Begebenheiten des Hofes wurden mit epischer Gewalt dargestellt. So verfuhr Bossuet in seiner berühmten Grabrede der jungen, geheimnisvoll verstorbenen Madame Henriette mit dem geschickt angebrachten Aufschrei: ,Maäa,ins Sö msurt, ^lackame est mordet", bei dem die ganze Zuhörerschaft in Tränen und Krämpfe verfiel. So Madame de Sevigne in ihrem Meisterbrief, der die geplante Mesalliance der Cousine des Königs anzeigte. Jeder Schriftsteller erfindet eigene Tricks, um feinen Stil spannend zu machen. Zum Beispiel la Bruyere, der eine lange Charakteristik mit einem überraschend kurzen, ironischen Sätzchen schließt, das sie erklärt und beleuchtet, wie „II sse pauvre, it est mens". Voltaire, der mit virouettierender Grazie die Neugier durch überraschende Zickzackzüge steigert, Stendhal, der ewig vibrierend und nervös dem Leser wie ein Aal zu entwischen scheint. Von modernen Schriftstellern ist Anatole France der einzige, der solch raffinierte Kunst als Erbteil übernommen hat und selbständig fortbildet. Ähnlich kunst¬ voll verfuhren englische Essayisten, wie Macaulay, wie Earlnle, der mit plötz¬ lichen, kurzen Sätzen oder leidenschaftlich verhindernden Apostrophen seine Dar¬ stellungsart fesselnd machte. Nach derselben Richtung versucht sich in Deutschland mancher moderne Schriftsteller, der die Fesseln des ewig Langweiligen nur mit Widerwillen und Ermüdung trug. Die italienische Schriftsprache wirkt leicht zu pomphaft rethorisch, um abwechslungsreich, also spannend zu wirken. Dagegen lassen die verschiedenen Dialekte, besonders der graziöse venezianische, alle Stil¬ scherze und spielerischen Effekte zu. Im Dialekt gedieh daher besonders das Puppenspiel und die „Commedia dell' Arte", die beide gleichberechtigt mit dem Märchen das spannende in seiner größten Unmittelbarkeit mit naivem Nach¬ druck zeigen. Wenn in irgendeiner Kunstgattung das spannende nicht nur voll berechtigt, sondern als Lonckitio sine qua non erscheint, so ist es in der dramatischen Kunst. Bei dem ganzen bitteren Streit zwischen Romantikern und Klassikern blieb das spannende der Handlung als Grundbedingung jeden Dramas unbeanstandet. Es behaupteten die einen, daß die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums durch die drei Einheiten gefördert, durch die Zerrissenheit eines Shakespeare aber gestört werde. Wenn die Klassizisten auch meist langweilig erschienen, so hatten sie doch prinzipiell das Bestreben, auf vornehme Weise unterhaltend zu sein. Es war dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts aufgespart, das spannende Moment von der Bühne auszuschalten, es für ein veraltetes, unnützes oder sogar unliterarisches Element zu erklären und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/553>, abgerufen am 24.07.2024.