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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

Verblüffens, und seine Einfälle prägen sich durch einen Nervenschock, den er
mit Kunst herbeiführt, dem Gedächtnis ein. Doch auf die Dauer verstimmt
diese Technik des Verblüffens, wenn sie der Autor auch noch so glänzend
handhabt. Wahrscheinlich, weil sie etwas Heimtückisches, Boshaftes in sich
trägt, wie oft das Leben selbst. Sie weckt das Gefühl der Ohnmacht und
demoralisiert.

In höherem Sinn gelungen und künstlerisch wirkt das spannende immer
bei naiv phantastischen Völkern, die wie Kinder an der Erzählung von geschickt
aneinander geflochtenen UnWahrscheinlichkeiten Freude haben und sich an Misse¬
taten harmlos ergötzen. Missetaten müssen naiv erzählt werden wie im Märchen.
Sobald Reflexion hinzutritt, wirken sie quülerisch, ekelhaft oder gemein wie im
Kolportageroman.

Aus der Art des Spanners bei Lektüre oder Anhören eines Werkes können
wir folgerichtiger als aus anderen Kennzeichen auf den Charakter und sittlichen
Wert seines Dichters schließen. Wenn die Spannung, die er in uns erweckt,
sich im richtigen Moment auflöst, uns erquickt und gestärkt zurückläßt, wie nach
einer heilsamen gymnastischen Übung, dann hat der Verfasser einen gesunden,
ganzen Charakter. Ist die Spannung so gewaltsam, daß fieberhafte Aufregung
sich des Publikums bemächtigt, daß heldische Rosen auf den Wangen glühen,
daß die Finger bebend das Buch durchblättern, dann ist der allzu kunstreiche
Erzähler selbst krankhaft, fieberhaft oder ein gewissenloser Trankmischer, der auf
die Nerven seiner Mitmenschen spekuliert. Wenn die Spannung zur Über¬
spanntheit führt oder wenn man die Absicht merkt und verstimmt wird, dann
sehlt die naive Freude am Fabulieren, der Dichter erscheint vergrämt, ist auch
vielleicht ein gebrochener Mensch, der selbst nicht mehr lebendig genug ist,
seinen Geschöpfen Leben einzuflößen, und nur an der Erinnerung einstigen
Empfindens saugt. Fehlt hingegen einem Werk alles spannende, dann mag
es noch so brav und gut sein, wir können auf einen trockenen und mittel¬
mäßigen Verfasser schließen, dessen Dasein eng von der Konvention umwickelt
war, dem Frau Sünde nur als plumpe Dirne erschien und niemals als das
süßeste Wunder der Welt mit Schlangenblick und seinen zärtlichen Fingern.
Solche Autoren mögen harmlos genug sein von Natur aus, aber sie bestärken
die Engherzigkeit vieler Leute, weil sie die Vorstellungskraft nicht stark genug
erregen. Die große Mehrzahl der lieblosen Urteile in der Welt läßt sich auf
einen Mangel an Vorstellungskraft zurückführen.

Das vornehmste Verdienst der erzählenden Kunst beruht einfach darin, die
Vorstellungskraft, infolgedessen das Empfinden und Mitempfinden der Leser zu
steigern und sie, wenigstens ans Augenblicke, von der Qual des Ich zu befreien,
das heißt sie lebendig für andere zu interessieren. Mit Unrecht ist es namentlich
in Deutschland lange verpönt gewesen und begegnet noch heute manchem Mi߬
trauen, wenn Geschichte oder eine andere Wissenschaft auf spannende, unter¬
haltende Art geboten wird. Bölsches starker Erfolg beruht zum großen Teil


GrenMten I 1910 - 63
Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

Verblüffens, und seine Einfälle prägen sich durch einen Nervenschock, den er
mit Kunst herbeiführt, dem Gedächtnis ein. Doch auf die Dauer verstimmt
diese Technik des Verblüffens, wenn sie der Autor auch noch so glänzend
handhabt. Wahrscheinlich, weil sie etwas Heimtückisches, Boshaftes in sich
trägt, wie oft das Leben selbst. Sie weckt das Gefühl der Ohnmacht und
demoralisiert.

In höherem Sinn gelungen und künstlerisch wirkt das spannende immer
bei naiv phantastischen Völkern, die wie Kinder an der Erzählung von geschickt
aneinander geflochtenen UnWahrscheinlichkeiten Freude haben und sich an Misse¬
taten harmlos ergötzen. Missetaten müssen naiv erzählt werden wie im Märchen.
Sobald Reflexion hinzutritt, wirken sie quülerisch, ekelhaft oder gemein wie im
Kolportageroman.

Aus der Art des Spanners bei Lektüre oder Anhören eines Werkes können
wir folgerichtiger als aus anderen Kennzeichen auf den Charakter und sittlichen
Wert seines Dichters schließen. Wenn die Spannung, die er in uns erweckt,
sich im richtigen Moment auflöst, uns erquickt und gestärkt zurückläßt, wie nach
einer heilsamen gymnastischen Übung, dann hat der Verfasser einen gesunden,
ganzen Charakter. Ist die Spannung so gewaltsam, daß fieberhafte Aufregung
sich des Publikums bemächtigt, daß heldische Rosen auf den Wangen glühen,
daß die Finger bebend das Buch durchblättern, dann ist der allzu kunstreiche
Erzähler selbst krankhaft, fieberhaft oder ein gewissenloser Trankmischer, der auf
die Nerven seiner Mitmenschen spekuliert. Wenn die Spannung zur Über¬
spanntheit führt oder wenn man die Absicht merkt und verstimmt wird, dann
sehlt die naive Freude am Fabulieren, der Dichter erscheint vergrämt, ist auch
vielleicht ein gebrochener Mensch, der selbst nicht mehr lebendig genug ist,
seinen Geschöpfen Leben einzuflößen, und nur an der Erinnerung einstigen
Empfindens saugt. Fehlt hingegen einem Werk alles spannende, dann mag
es noch so brav und gut sein, wir können auf einen trockenen und mittel¬
mäßigen Verfasser schließen, dessen Dasein eng von der Konvention umwickelt
war, dem Frau Sünde nur als plumpe Dirne erschien und niemals als das
süßeste Wunder der Welt mit Schlangenblick und seinen zärtlichen Fingern.
Solche Autoren mögen harmlos genug sein von Natur aus, aber sie bestärken
die Engherzigkeit vieler Leute, weil sie die Vorstellungskraft nicht stark genug
erregen. Die große Mehrzahl der lieblosen Urteile in der Welt läßt sich auf
einen Mangel an Vorstellungskraft zurückführen.

Das vornehmste Verdienst der erzählenden Kunst beruht einfach darin, die
Vorstellungskraft, infolgedessen das Empfinden und Mitempfinden der Leser zu
steigern und sie, wenigstens ans Augenblicke, von der Qual des Ich zu befreien,
das heißt sie lebendig für andere zu interessieren. Mit Unrecht ist es namentlich
in Deutschland lange verpönt gewesen und begegnet noch heute manchem Mi߬
trauen, wenn Geschichte oder eine andere Wissenschaft auf spannende, unter¬
haltende Art geboten wird. Bölsches starker Erfolg beruht zum großen Teil


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[0549] Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur Verblüffens, und seine Einfälle prägen sich durch einen Nervenschock, den er mit Kunst herbeiführt, dem Gedächtnis ein. Doch auf die Dauer verstimmt diese Technik des Verblüffens, wenn sie der Autor auch noch so glänzend handhabt. Wahrscheinlich, weil sie etwas Heimtückisches, Boshaftes in sich trägt, wie oft das Leben selbst. Sie weckt das Gefühl der Ohnmacht und demoralisiert. In höherem Sinn gelungen und künstlerisch wirkt das spannende immer bei naiv phantastischen Völkern, die wie Kinder an der Erzählung von geschickt aneinander geflochtenen UnWahrscheinlichkeiten Freude haben und sich an Misse¬ taten harmlos ergötzen. Missetaten müssen naiv erzählt werden wie im Märchen. Sobald Reflexion hinzutritt, wirken sie quülerisch, ekelhaft oder gemein wie im Kolportageroman. Aus der Art des Spanners bei Lektüre oder Anhören eines Werkes können wir folgerichtiger als aus anderen Kennzeichen auf den Charakter und sittlichen Wert seines Dichters schließen. Wenn die Spannung, die er in uns erweckt, sich im richtigen Moment auflöst, uns erquickt und gestärkt zurückläßt, wie nach einer heilsamen gymnastischen Übung, dann hat der Verfasser einen gesunden, ganzen Charakter. Ist die Spannung so gewaltsam, daß fieberhafte Aufregung sich des Publikums bemächtigt, daß heldische Rosen auf den Wangen glühen, daß die Finger bebend das Buch durchblättern, dann ist der allzu kunstreiche Erzähler selbst krankhaft, fieberhaft oder ein gewissenloser Trankmischer, der auf die Nerven seiner Mitmenschen spekuliert. Wenn die Spannung zur Über¬ spanntheit führt oder wenn man die Absicht merkt und verstimmt wird, dann sehlt die naive Freude am Fabulieren, der Dichter erscheint vergrämt, ist auch vielleicht ein gebrochener Mensch, der selbst nicht mehr lebendig genug ist, seinen Geschöpfen Leben einzuflößen, und nur an der Erinnerung einstigen Empfindens saugt. Fehlt hingegen einem Werk alles spannende, dann mag es noch so brav und gut sein, wir können auf einen trockenen und mittel¬ mäßigen Verfasser schließen, dessen Dasein eng von der Konvention umwickelt war, dem Frau Sünde nur als plumpe Dirne erschien und niemals als das süßeste Wunder der Welt mit Schlangenblick und seinen zärtlichen Fingern. Solche Autoren mögen harmlos genug sein von Natur aus, aber sie bestärken die Engherzigkeit vieler Leute, weil sie die Vorstellungskraft nicht stark genug erregen. Die große Mehrzahl der lieblosen Urteile in der Welt läßt sich auf einen Mangel an Vorstellungskraft zurückführen. Das vornehmste Verdienst der erzählenden Kunst beruht einfach darin, die Vorstellungskraft, infolgedessen das Empfinden und Mitempfinden der Leser zu steigern und sie, wenigstens ans Augenblicke, von der Qual des Ich zu befreien, das heißt sie lebendig für andere zu interessieren. Mit Unrecht ist es namentlich in Deutschland lange verpönt gewesen und begegnet noch heute manchem Mi߬ trauen, wenn Geschichte oder eine andere Wissenschaft auf spannende, unter¬ haltende Art geboten wird. Bölsches starker Erfolg beruht zum großen Teil GrenMten I 1910 - 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/549>, abgerufen am 22.12.2024.