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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem englischen Parlament

wo Milch und Honig fließt. Armut ist eine "unbekannte Größe", mit der nicht
gerechnet zu werden braucht. Der deutsche Arbeiter führt bei regelmäßiger
Beschäftigung jahraus jahrein ein sorgenloses Leben, und was er braucht, wird
ihm von der Produktion des eigenen Landes zugeführt. So hat der Zolltarif
Deutschland in ein Paradies verwandelt, und alles, was es an Überfluß hervor¬
bringt, findet bequemen, gewinnbringenden Absatz in dem durch Freihandel
ruinierten Vereinigten Königreich. Doch nicht nur hat dieser mächtige Konkurrent
die einheimischen Märkte erobert, nein, der Blütestand seiner Industrie hat es
ihm ermöglicht, auch im Welthandel unser gefährlichster Wettbewerber zu werden
und eine Flotte zu bauen, die infolge dSs mangelhaften Schritthaltens während
der vierjährigen liberalen Regierungsperiode unsere eigenste Existenz zu bedrohen
beginnt.

Die liberalen Wahlredner begnügten sich damit, an den denkenden Menschen
zu appellieren. Ihre Argumente beruhten auf Tatsachen, Erfahrung und
Wissenschaft und waren durchweg von einer ruhigen und vernunftgemäßen
Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Landes geleitet. Vor allem konnte der
Handelsminister in Ziffern darlegen, daß der Handel, abgesehen von zeitweiliger
Depression, entgegen den Behauptungen der Opposition, stetige Fortschritte macht
und sich durchaus günstig mit den: anderer Länder, welche Schutzzölle haben,
vergleichen läßt. Wohl herrschen Übelstände, die der Konkurrenz eine stärkere
Hand gegeben haben, als es im Interesse des Landes ist, doch lassen sich diese
nur durch soziale innere Reformen beseitigen, nicht durch Abschaffung des Frei¬
handels, unter dem das Land groß geworden ist.

Die einfache Tatsache, daß das Inselreich für die Beschaffung genügender
Lebensmittel stets auf das Ausland angewiesen ist, beweist, daß die Einführung
eines Zolltarifs eine Verteuerung des Lebensunterhalts im Gefolge haben muß,
und somit die Lage der großen Menge nicht verbessert. Was den Import von
fremden Fabrikaten anbetrifft, so kann der einheimische Fabrikant unter gleichen
Bedingungen konkurrieren, und wenn er gleich leistungsfähig ist, wird er keine
Schwierigkeiten haben, das fremde Fabrikat auszuschließen, wenn nicht, so ist
das Volk besser daran, die billigere, wenn auch fremde Ware zu erhalten, als
sich des teuren Preises wegen vielleicht ganz ohne sie begnügen zu müssen. Es geht
hieraus hervor, wie falsch die Ansicht der großen Massen ist, die sich daran
gewöhnt haben, fremde Waren als unwillkommene Eindringlinge anzusehen, die
dein englischen Markt aufgedrängt seien. Die Gegner des Freihandels mögen
insofern recht haben, als der Ausschluß fremder Fabrikate gewissen Zweigen der
einheimischen Industrie zugute kommen muß. Doch würde anderseits die Ein¬
führung von Zöllen viele andere wichtige Industriezweige, z. B. solche, welche
fremde Rohprodukte bezw. halbfertige Waren verarbeiten, aufs schwerste treffen,
und viele geschäftige Zentren, die sich unter dem Freihandel als solche entwickelt
haben, lahmlegen. Die Wahlen selbst haben die beste Antwort darauf gegeben.
Alle großen Industriestädte haben fast ausnahmslos liberal gewählt.


Aus dem englischen Parlament

wo Milch und Honig fließt. Armut ist eine „unbekannte Größe", mit der nicht
gerechnet zu werden braucht. Der deutsche Arbeiter führt bei regelmäßiger
Beschäftigung jahraus jahrein ein sorgenloses Leben, und was er braucht, wird
ihm von der Produktion des eigenen Landes zugeführt. So hat der Zolltarif
Deutschland in ein Paradies verwandelt, und alles, was es an Überfluß hervor¬
bringt, findet bequemen, gewinnbringenden Absatz in dem durch Freihandel
ruinierten Vereinigten Königreich. Doch nicht nur hat dieser mächtige Konkurrent
die einheimischen Märkte erobert, nein, der Blütestand seiner Industrie hat es
ihm ermöglicht, auch im Welthandel unser gefährlichster Wettbewerber zu werden
und eine Flotte zu bauen, die infolge dSs mangelhaften Schritthaltens während
der vierjährigen liberalen Regierungsperiode unsere eigenste Existenz zu bedrohen
beginnt.

Die liberalen Wahlredner begnügten sich damit, an den denkenden Menschen
zu appellieren. Ihre Argumente beruhten auf Tatsachen, Erfahrung und
Wissenschaft und waren durchweg von einer ruhigen und vernunftgemäßen
Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Landes geleitet. Vor allem konnte der
Handelsminister in Ziffern darlegen, daß der Handel, abgesehen von zeitweiliger
Depression, entgegen den Behauptungen der Opposition, stetige Fortschritte macht
und sich durchaus günstig mit den: anderer Länder, welche Schutzzölle haben,
vergleichen läßt. Wohl herrschen Übelstände, die der Konkurrenz eine stärkere
Hand gegeben haben, als es im Interesse des Landes ist, doch lassen sich diese
nur durch soziale innere Reformen beseitigen, nicht durch Abschaffung des Frei¬
handels, unter dem das Land groß geworden ist.

Die einfache Tatsache, daß das Inselreich für die Beschaffung genügender
Lebensmittel stets auf das Ausland angewiesen ist, beweist, daß die Einführung
eines Zolltarifs eine Verteuerung des Lebensunterhalts im Gefolge haben muß,
und somit die Lage der großen Menge nicht verbessert. Was den Import von
fremden Fabrikaten anbetrifft, so kann der einheimische Fabrikant unter gleichen
Bedingungen konkurrieren, und wenn er gleich leistungsfähig ist, wird er keine
Schwierigkeiten haben, das fremde Fabrikat auszuschließen, wenn nicht, so ist
das Volk besser daran, die billigere, wenn auch fremde Ware zu erhalten, als
sich des teuren Preises wegen vielleicht ganz ohne sie begnügen zu müssen. Es geht
hieraus hervor, wie falsch die Ansicht der großen Massen ist, die sich daran
gewöhnt haben, fremde Waren als unwillkommene Eindringlinge anzusehen, die
dein englischen Markt aufgedrängt seien. Die Gegner des Freihandels mögen
insofern recht haben, als der Ausschluß fremder Fabrikate gewissen Zweigen der
einheimischen Industrie zugute kommen muß. Doch würde anderseits die Ein¬
führung von Zöllen viele andere wichtige Industriezweige, z. B. solche, welche
fremde Rohprodukte bezw. halbfertige Waren verarbeiten, aufs schwerste treffen,
und viele geschäftige Zentren, die sich unter dem Freihandel als solche entwickelt
haben, lahmlegen. Die Wahlen selbst haben die beste Antwort darauf gegeben.
Alle großen Industriestädte haben fast ausnahmslos liberal gewählt.


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[0545] Aus dem englischen Parlament wo Milch und Honig fließt. Armut ist eine „unbekannte Größe", mit der nicht gerechnet zu werden braucht. Der deutsche Arbeiter führt bei regelmäßiger Beschäftigung jahraus jahrein ein sorgenloses Leben, und was er braucht, wird ihm von der Produktion des eigenen Landes zugeführt. So hat der Zolltarif Deutschland in ein Paradies verwandelt, und alles, was es an Überfluß hervor¬ bringt, findet bequemen, gewinnbringenden Absatz in dem durch Freihandel ruinierten Vereinigten Königreich. Doch nicht nur hat dieser mächtige Konkurrent die einheimischen Märkte erobert, nein, der Blütestand seiner Industrie hat es ihm ermöglicht, auch im Welthandel unser gefährlichster Wettbewerber zu werden und eine Flotte zu bauen, die infolge dSs mangelhaften Schritthaltens während der vierjährigen liberalen Regierungsperiode unsere eigenste Existenz zu bedrohen beginnt. Die liberalen Wahlredner begnügten sich damit, an den denkenden Menschen zu appellieren. Ihre Argumente beruhten auf Tatsachen, Erfahrung und Wissenschaft und waren durchweg von einer ruhigen und vernunftgemäßen Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Landes geleitet. Vor allem konnte der Handelsminister in Ziffern darlegen, daß der Handel, abgesehen von zeitweiliger Depression, entgegen den Behauptungen der Opposition, stetige Fortschritte macht und sich durchaus günstig mit den: anderer Länder, welche Schutzzölle haben, vergleichen läßt. Wohl herrschen Übelstände, die der Konkurrenz eine stärkere Hand gegeben haben, als es im Interesse des Landes ist, doch lassen sich diese nur durch soziale innere Reformen beseitigen, nicht durch Abschaffung des Frei¬ handels, unter dem das Land groß geworden ist. Die einfache Tatsache, daß das Inselreich für die Beschaffung genügender Lebensmittel stets auf das Ausland angewiesen ist, beweist, daß die Einführung eines Zolltarifs eine Verteuerung des Lebensunterhalts im Gefolge haben muß, und somit die Lage der großen Menge nicht verbessert. Was den Import von fremden Fabrikaten anbetrifft, so kann der einheimische Fabrikant unter gleichen Bedingungen konkurrieren, und wenn er gleich leistungsfähig ist, wird er keine Schwierigkeiten haben, das fremde Fabrikat auszuschließen, wenn nicht, so ist das Volk besser daran, die billigere, wenn auch fremde Ware zu erhalten, als sich des teuren Preises wegen vielleicht ganz ohne sie begnügen zu müssen. Es geht hieraus hervor, wie falsch die Ansicht der großen Massen ist, die sich daran gewöhnt haben, fremde Waren als unwillkommene Eindringlinge anzusehen, die dein englischen Markt aufgedrängt seien. Die Gegner des Freihandels mögen insofern recht haben, als der Ausschluß fremder Fabrikate gewissen Zweigen der einheimischen Industrie zugute kommen muß. Doch würde anderseits die Ein¬ führung von Zöllen viele andere wichtige Industriezweige, z. B. solche, welche fremde Rohprodukte bezw. halbfertige Waren verarbeiten, aufs schwerste treffen, und viele geschäftige Zentren, die sich unter dem Freihandel als solche entwickelt haben, lahmlegen. Die Wahlen selbst haben die beste Antwort darauf gegeben. Alle großen Industriestädte haben fast ausnahmslos liberal gewählt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/545>, abgerufen am 24.07.2024.