Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches wobei sie noch ihrer Berechnung unterliegen mußten -- ihren Unfall zugunsten In der letzten Woche ist der längst geplante und vorbereitete Zusammenschluß Vor acht Tagen haben die Sozialdemokraten ihre "Wahlrechtsspaziergänge" In der Budgetkommission des Reichstags ist jetzt bei dem Etat des Aus¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches wobei sie noch ihrer Berechnung unterliegen mußten — ihren Unfall zugunsten In der letzten Woche ist der längst geplante und vorbereitete Zusammenschluß Vor acht Tagen haben die Sozialdemokraten ihre „Wahlrechtsspaziergänge" In der Budgetkommission des Reichstags ist jetzt bei dem Etat des Aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0535" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315532"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2403" prev="#ID_2402"> wobei sie noch ihrer Berechnung unterliegen mußten — ihren Unfall zugunsten<lb/> des Kompromisses mit dem Zentrum zu maskieren; die Durchkreuzung dieser<lb/> Absicht durch die Nationalliberalen, die bei der Abstimmung dafür sorgten, daß<lb/> Konservative und Zentrum allein blieben, die ersten also ihre Kompromißfreunde<lb/> eigentlich hätten niederstimmen müssen; endlich die Vereitelung dieses Schachzugs<lb/> durch die Geschicklichkeit des Herrn v. Heydebrand, der einen Teil seiner Freunde<lb/> zur Stimmenthaltung abkommandierte und dadurch seine Partei künstlich wieder<lb/> in die gewollte Minderheit brachte, — das alles waren Meisterstreiche der<lb/> parlamentarischen Fechtkunst. Leider zeigten sie aber auch, daß die Gegensätze<lb/> zwischen rechts und links nicht im geringsten gemildert worden sind. Daß die<lb/> Regierung eine Erklärung über ihre Stellungnahme nicht übereilt, Herr v. Bethmann<lb/> Hollweg vielmehr die Entscheidung noch offen gehalten hat, ist durchaus begreiflich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2404"> In der letzten Woche ist der längst geplante und vorbereitete Zusammenschluß<lb/> der drei linksliberalen Parteien Wirklichkeit geworden. Der Druck der Verhältnisse<lb/> ist stark genug gewesen, um der neuen „Fortschrittlichen Volkspartei" zum Leben zu<lb/> verhelfen; im übrigen hat sich der konstituierende Parteitag recht deutlich merken<lb/> lassen, daß die Vereinigung mit viel Vorsicht und wenig Begeisterung vollzogen<lb/> worden ist. Die Oberfläche ist zusammengefügt; uuter ihr klaffen noch die Risse.<lb/> Aber für die nächste Zeit ist die neue Organisation ein Bedürfnis und wird ihren<lb/> Dienst tun.</p><lb/> <p xml:id="ID_2405"> Vor acht Tagen haben die Sozialdemokraten ihre „Wahlrechtsspaziergänge"<lb/> veranstaltet und in Berlin, wie an einigen andern Orten, gegen die Polizei<lb/> demonstriert, die diese Kundgebungen verboten hatte. Ferner ist das Verhalten der<lb/> Polizei zum Gegenstand einer Jnterpellation im Reichstage gemacht worden. Die<lb/> Entscheidung der Frage, ob dabei alles nach Recht und Gesetz zugegangen ist, wird<lb/> Sache richterlicher Urteile sein müssen. Für die politische Beurteilung jedoch kommt<lb/> vor allem in Betracht, daß alle diese Veranstaltungen im Grunde nicht den Zweck<lb/> verfolgen, eine bestimmte politische Ansicht der Volksmassen zur Geltung zu bringen,<lb/> — das ist nur das Aushängeschild, — sondern die Macht der Massen zur Um¬<lb/> gehung des Gesetzes zu bekunden. Die legitime Bekundung politischer Meinungen<lb/> in Massenversammlungen genügt den Aufwieglern nicht mehr; man geht mit<lb/> Bewußtsein und Absicht einen Schritt weiter, — noch nicht so weit, daß man dem<lb/> Gesetz Trotz bietet, wohl aber so weit, daß man es umgeht und vorsichtig, aber<lb/> verständlich verhöhnt. Es gilt, nicht Meinungen zu äußern, sondern Macht zu<lb/> zeigen. Das ist die wahre Bedeutung dieser Demonstrationen, über deren unmittelbare<lb/> Nutzlosigkeit die Volksaufhetzer, — zu denen übrigens auch bürgerliche demokratische<lb/> Kreise und Preßorgane gehören, — sich natürlich klar sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_2406" next="#ID_2407"> In der Budgetkommission des Reichstags ist jetzt bei dem Etat des Aus¬<lb/> wärtigen Amts die Angelegenheit der Brüder Mannesmann ausgiebig zur Sprache<lb/> gekommen. Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, warum wir in dieser Sache<lb/> den Standpunkt des Auswärtigen Amts für durchaus gerechtfertigt halten. Wenn<lb/> man jetzt die Verhandlungen der Budgetkommission aufmerksam verfolgt hat, so<lb/> zeigt sich deutlich, daß die Haltung, die in den Ausführungen des Staatssekretärs<lb/> v. Schoen und des Unterstaatssekretärs Stemrich erkennbar war, ihren Eindruck<lb/> auf die Kommissionsmitglieder nicht verfehlt hat, obwohl die Stimmung der<lb/> Mehrheit von Hause aus dem Amte gegenüber mindestens sehr kritisch war.<lb/> Parteistellung und persönliche Überzeugung hatten bei dein starken Druck, der in<lb/> dieser Frage fast von der gesamten Presse ausgeübt wurde, eine Anzahl von<lb/> Kommissionsmitgliedern dahin geführt, sich derart festzulegen, daß sie nicht zurück<lb/> konnten. Wir Deutsche haben nun einmal nicht die Unbefangenheit des Engländers,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0535]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
wobei sie noch ihrer Berechnung unterliegen mußten — ihren Unfall zugunsten
des Kompromisses mit dem Zentrum zu maskieren; die Durchkreuzung dieser
Absicht durch die Nationalliberalen, die bei der Abstimmung dafür sorgten, daß
Konservative und Zentrum allein blieben, die ersten also ihre Kompromißfreunde
eigentlich hätten niederstimmen müssen; endlich die Vereitelung dieses Schachzugs
durch die Geschicklichkeit des Herrn v. Heydebrand, der einen Teil seiner Freunde
zur Stimmenthaltung abkommandierte und dadurch seine Partei künstlich wieder
in die gewollte Minderheit brachte, — das alles waren Meisterstreiche der
parlamentarischen Fechtkunst. Leider zeigten sie aber auch, daß die Gegensätze
zwischen rechts und links nicht im geringsten gemildert worden sind. Daß die
Regierung eine Erklärung über ihre Stellungnahme nicht übereilt, Herr v. Bethmann
Hollweg vielmehr die Entscheidung noch offen gehalten hat, ist durchaus begreiflich.
In der letzten Woche ist der längst geplante und vorbereitete Zusammenschluß
der drei linksliberalen Parteien Wirklichkeit geworden. Der Druck der Verhältnisse
ist stark genug gewesen, um der neuen „Fortschrittlichen Volkspartei" zum Leben zu
verhelfen; im übrigen hat sich der konstituierende Parteitag recht deutlich merken
lassen, daß die Vereinigung mit viel Vorsicht und wenig Begeisterung vollzogen
worden ist. Die Oberfläche ist zusammengefügt; uuter ihr klaffen noch die Risse.
Aber für die nächste Zeit ist die neue Organisation ein Bedürfnis und wird ihren
Dienst tun.
Vor acht Tagen haben die Sozialdemokraten ihre „Wahlrechtsspaziergänge"
veranstaltet und in Berlin, wie an einigen andern Orten, gegen die Polizei
demonstriert, die diese Kundgebungen verboten hatte. Ferner ist das Verhalten der
Polizei zum Gegenstand einer Jnterpellation im Reichstage gemacht worden. Die
Entscheidung der Frage, ob dabei alles nach Recht und Gesetz zugegangen ist, wird
Sache richterlicher Urteile sein müssen. Für die politische Beurteilung jedoch kommt
vor allem in Betracht, daß alle diese Veranstaltungen im Grunde nicht den Zweck
verfolgen, eine bestimmte politische Ansicht der Volksmassen zur Geltung zu bringen,
— das ist nur das Aushängeschild, — sondern die Macht der Massen zur Um¬
gehung des Gesetzes zu bekunden. Die legitime Bekundung politischer Meinungen
in Massenversammlungen genügt den Aufwieglern nicht mehr; man geht mit
Bewußtsein und Absicht einen Schritt weiter, — noch nicht so weit, daß man dem
Gesetz Trotz bietet, wohl aber so weit, daß man es umgeht und vorsichtig, aber
verständlich verhöhnt. Es gilt, nicht Meinungen zu äußern, sondern Macht zu
zeigen. Das ist die wahre Bedeutung dieser Demonstrationen, über deren unmittelbare
Nutzlosigkeit die Volksaufhetzer, — zu denen übrigens auch bürgerliche demokratische
Kreise und Preßorgane gehören, — sich natürlich klar sind.
In der Budgetkommission des Reichstags ist jetzt bei dem Etat des Aus¬
wärtigen Amts die Angelegenheit der Brüder Mannesmann ausgiebig zur Sprache
gekommen. Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, warum wir in dieser Sache
den Standpunkt des Auswärtigen Amts für durchaus gerechtfertigt halten. Wenn
man jetzt die Verhandlungen der Budgetkommission aufmerksam verfolgt hat, so
zeigt sich deutlich, daß die Haltung, die in den Ausführungen des Staatssekretärs
v. Schoen und des Unterstaatssekretärs Stemrich erkennbar war, ihren Eindruck
auf die Kommissionsmitglieder nicht verfehlt hat, obwohl die Stimmung der
Mehrheit von Hause aus dem Amte gegenüber mindestens sehr kritisch war.
Parteistellung und persönliche Überzeugung hatten bei dein starken Druck, der in
dieser Frage fast von der gesamten Presse ausgeübt wurde, eine Anzahl von
Kommissionsmitgliedern dahin geführt, sich derart festzulegen, daß sie nicht zurück
konnten. Wir Deutsche haben nun einmal nicht die Unbefangenheit des Engländers,
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