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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutschtum und Schweiz

Im Jahre 1905 tagte in Lüttich, und drei Jahre später in Arel ein
Verein für Kultur und Ausbreitung der französischen Sprache. Schon die
Wahl des zweiten Ortes (Arel ist eine Stadt in dem deutschen Zipfel Belgiens)
zeigte deutlich, daß es sich um einen Kampfverein, und zwar um den Kampf
gegen die deutsche Sprache handelte. Trotzdem ließ sich der schweizerische
Bundesrat auf diesen beiden Versammlungen durch je zwei Sendboten amtlich
vertreten. Nebenbei bemerkt war einer dieser Sendboten ein Herr Bouvier aus
Genf, der nicht lange zuvor von dem König von Preußen mit einem Orden
bedacht worden war. Die Beschickung dieser beiden Versammlungen war dem
Deutsch-schweizerischen Sprachverein denn doch zu stark. Er besprach das Vorkommnis
in seinem Jahresbericht und bewirkte hierdurch, daß dem Bundesrat die Unbilligkeit
seines Verfahrens in öffentlicher Sitzung des Nationalrats klar gemacht wurde.

Noch stärker als der Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen ist der
Unterschied zwischen Deutschschweizern und Tesstnern. Kommen schon unter den
französischen Schweizern einzelne Querkopfe*) vor, die einer Loslösung Genfs
von der Schweiz das Wort reden, so ist unter den Tessinern eine gegen¬
schweizerische Strömung bereits so stark, daß Herr Perucchi, der Vorsitzer des
Großen Rates, vor wenigen Monaten in offener Versammlung die Äußerung tun
konnte, unter solaren Umständen müsse man sich die Frage vorlegen, ob es
überhaupt noch der Mühe wert sei, bei der Schweiz zu bleiben.

Und diese Umstände waren? Daß ein tessinisches Forstgesetz von der Eid¬
genossenschaft beanstandet worden war, weil es gegen bestehende eidgenössische
Vorschriften verstieß; und daß ein Brief verlesen worden war, den eine eidgenössische
Behörde in Bern an eine kantonale des Tessin in französischer Sprache
geschrieben hatte.

Kehren wir zu dem obigen Satze zurück, eine schweizerische "Nation" könne
sich nur auf Kosten der deutschen Sprache entwickeln. Es gibt Deutsch¬
schweizer, die ihre, die deutsche Sprache, opfern würden, um sich von ihren
Volksgenossen nördlich des Rheins möglichst stark zu unterscheiden, was ja
Zum Nationwerden nötig ist. Sie betonen daher ihre Mundart und
lehnen das Schriftdeutsch möglichst ab. So kam es im Jahre 1909 bei einem
Fachkursus für schweizerische Lehrer vor, daß die Welschen baten, man möge
in Hochdeutsch, nicht in Mundart verhandeln, da es ihnen dann leichter sei, den
Vorträgen zu folgen. Aber die Deutschschweizer sagten Nein! Um Mi߬
verständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß diese starke
Abneigung gegen Hochdeutsch, oder wie Jäger sagt "Reichsdeutsch", nicht überall
gleich stark hervortritt. In der Ostschweiz ist Hochdeutsch sogar ganz allgemein
die Sprache der öffentlichen Vorträge und Verhandlungen. Desgleichen spricht
man in Basel in den Vereinen und bei amtlichen Verhandlungen hochdeutsch.
Und nur in Bern wird im großen Rat sowohl wie vor Gericht, desgleichen



") LinZria-Vaneyre. Dialoges 6e la msison an Kouet. .lutum. Qenk IY09.
Deutschtum und Schweiz

Im Jahre 1905 tagte in Lüttich, und drei Jahre später in Arel ein
Verein für Kultur und Ausbreitung der französischen Sprache. Schon die
Wahl des zweiten Ortes (Arel ist eine Stadt in dem deutschen Zipfel Belgiens)
zeigte deutlich, daß es sich um einen Kampfverein, und zwar um den Kampf
gegen die deutsche Sprache handelte. Trotzdem ließ sich der schweizerische
Bundesrat auf diesen beiden Versammlungen durch je zwei Sendboten amtlich
vertreten. Nebenbei bemerkt war einer dieser Sendboten ein Herr Bouvier aus
Genf, der nicht lange zuvor von dem König von Preußen mit einem Orden
bedacht worden war. Die Beschickung dieser beiden Versammlungen war dem
Deutsch-schweizerischen Sprachverein denn doch zu stark. Er besprach das Vorkommnis
in seinem Jahresbericht und bewirkte hierdurch, daß dem Bundesrat die Unbilligkeit
seines Verfahrens in öffentlicher Sitzung des Nationalrats klar gemacht wurde.

Noch stärker als der Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen ist der
Unterschied zwischen Deutschschweizern und Tesstnern. Kommen schon unter den
französischen Schweizern einzelne Querkopfe*) vor, die einer Loslösung Genfs
von der Schweiz das Wort reden, so ist unter den Tessinern eine gegen¬
schweizerische Strömung bereits so stark, daß Herr Perucchi, der Vorsitzer des
Großen Rates, vor wenigen Monaten in offener Versammlung die Äußerung tun
konnte, unter solaren Umständen müsse man sich die Frage vorlegen, ob es
überhaupt noch der Mühe wert sei, bei der Schweiz zu bleiben.

Und diese Umstände waren? Daß ein tessinisches Forstgesetz von der Eid¬
genossenschaft beanstandet worden war, weil es gegen bestehende eidgenössische
Vorschriften verstieß; und daß ein Brief verlesen worden war, den eine eidgenössische
Behörde in Bern an eine kantonale des Tessin in französischer Sprache
geschrieben hatte.

Kehren wir zu dem obigen Satze zurück, eine schweizerische „Nation" könne
sich nur auf Kosten der deutschen Sprache entwickeln. Es gibt Deutsch¬
schweizer, die ihre, die deutsche Sprache, opfern würden, um sich von ihren
Volksgenossen nördlich des Rheins möglichst stark zu unterscheiden, was ja
Zum Nationwerden nötig ist. Sie betonen daher ihre Mundart und
lehnen das Schriftdeutsch möglichst ab. So kam es im Jahre 1909 bei einem
Fachkursus für schweizerische Lehrer vor, daß die Welschen baten, man möge
in Hochdeutsch, nicht in Mundart verhandeln, da es ihnen dann leichter sei, den
Vorträgen zu folgen. Aber die Deutschschweizer sagten Nein! Um Mi߬
verständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß diese starke
Abneigung gegen Hochdeutsch, oder wie Jäger sagt „Reichsdeutsch", nicht überall
gleich stark hervortritt. In der Ostschweiz ist Hochdeutsch sogar ganz allgemein
die Sprache der öffentlichen Vorträge und Verhandlungen. Desgleichen spricht
man in Basel in den Vereinen und bei amtlichen Verhandlungen hochdeutsch.
Und nur in Bern wird im großen Rat sowohl wie vor Gericht, desgleichen



") LinZria-Vaneyre. Dialoges 6e la msison an Kouet. .lutum. Qenk IY09.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/515>, abgerufen am 04.07.2024.