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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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eigenen Gewissens gebunden sein lassen: Bonifaz VIII. und der evangelische
Summusepiskopus. Auf ihr stehen sowohl die Vertreter mittelalterlichen
Glaubens- und Gewissenszwanges, die, wie jüngst jener römische Propaganda-
Professor, das mittelalterliche Ketzerrecht mit all seinen Folgerungen als noch
heute geltend behaupten, die sehnsüchtig nach den Scheiterhaufen ausschauen,
auf denen das Mittelalter Weltanschauungsfragen zum Austrag brachte. Auf
ihr stehen auch jene gesinnungsverwandten, aber feineren Politiker, die vor¬
sichtiger, "tsmporum ratione tendit-"", das praktisch leider Unmögliche auch
theoretisch zu verhüllen geneigt sind. Aber auf ihr haben ebensogut Platz die
Vertreter der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die diese Errungenschaften des
modernen Staates als einen Fortschritt aus der Nacht des Wcchus zu reineren
Höhen des Menschentums preisen. Werden aus dem Gegensatz in diesen höchst
praktischen Postulaten des mittelalterlichen Kirchenstaatstums, des Glaubens¬
und Gewissenszwangs einerseits, der Staatssouveränität und der Gewissens¬
freiheit anderseits, nicht zwingend gemeinsame und gegnerische politische Aktionen
sich ergeben, während die Übereinstimmung in den dahinterliegenden meta¬
physischen Fragen dafür bedeutungslos ist?

Und die ganz vorwiegende Bedeutung dieser praktisch - politischen Ideale
sür das politische Leben, gegenüber der religiösen Weltanschauung, wird gewaltig
verstärkt, je mehr wir in das rein weltliche Gebiet eintreten. Hier scheiden diese
Ideale wahrhaft die Geister, müssen sie zwingend Parteibildung und Gruppierung
beeinflussen. Ein Beispiel für viele aus unserer politischen und Parteigeschichte I
Wie bestimmend mußte und muß uicht die Stellung, zum Einheitsgedanken des
deutschen Volkes, zu seiner 1866 und 1870 herbeigeführten Verwirklichung
unter Preußens Führung, zu Kaiser und Reich sein! Auf der einen Seite stehen
die, welche diese Lösung ersehnten, denen sie die Erfüllung der schönsten Hoff¬
nungen bedeutete, oder die doch, als unter mehreren möglichen die Entscheidung
in dieser Richtung fiel, um der ersehnten Einheit willen gern bereit waren,
alle einmal gehegten Sonderwünsche zu vergessen. Auf der anderen Seite sehen
wir Großdeutsche, die fort und fort als die Besiegten vou 1866 sich fühlen,
die kaum die Sehnsucht uach einem Umschwung in ihrem Sinne auch heute
verbergen, jene Männer der Historisch-politischen Blätter, die noch jetzt im
Sinne konfessioneller Machtpolitik "von dem bei Königgrätz und Sedan besiegten
Katholizismus" sprechen. Dort stehen Welsen und Partikularsten wie jener
Joerg, dem die Preußenfeindschaft Lebensaufgabe war, der, wie er 1870 Bayern
den Treubruch predigte, Jahrzehnte hindurch in eben diesen Historisch-politischen
Blättern das Leben des Reiches mißgünstig, scheltend und wohl auf die
"Nemesis" hoffend begleitete. Dort stehen Polen, die die Erfüllung ihrer
nationalen Wünsche von Deutschlands Niederlage, seiner Zerstückelung erhoffen,
die jederzeit bereit sind, den Augenblick der Schwäche zum Überfall zu benutzen,
zu blutigem Aufstand, wie schon dreimal im neunzehnten Jahrhundert. Dort stehen
die westlichen Protestler, die sehnsüchtig die Augen nach dein französischen Befreier


Ivcltanschcmimg, Politik und politische Parteien

eigenen Gewissens gebunden sein lassen: Bonifaz VIII. und der evangelische
Summusepiskopus. Auf ihr stehen sowohl die Vertreter mittelalterlichen
Glaubens- und Gewissenszwanges, die, wie jüngst jener römische Propaganda-
Professor, das mittelalterliche Ketzerrecht mit all seinen Folgerungen als noch
heute geltend behaupten, die sehnsüchtig nach den Scheiterhaufen ausschauen,
auf denen das Mittelalter Weltanschauungsfragen zum Austrag brachte. Auf
ihr stehen auch jene gesinnungsverwandten, aber feineren Politiker, die vor¬
sichtiger, „tsmporum ratione tendit-»", das praktisch leider Unmögliche auch
theoretisch zu verhüllen geneigt sind. Aber auf ihr haben ebensogut Platz die
Vertreter der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die diese Errungenschaften des
modernen Staates als einen Fortschritt aus der Nacht des Wcchus zu reineren
Höhen des Menschentums preisen. Werden aus dem Gegensatz in diesen höchst
praktischen Postulaten des mittelalterlichen Kirchenstaatstums, des Glaubens¬
und Gewissenszwangs einerseits, der Staatssouveränität und der Gewissens¬
freiheit anderseits, nicht zwingend gemeinsame und gegnerische politische Aktionen
sich ergeben, während die Übereinstimmung in den dahinterliegenden meta¬
physischen Fragen dafür bedeutungslos ist?

Und die ganz vorwiegende Bedeutung dieser praktisch - politischen Ideale
sür das politische Leben, gegenüber der religiösen Weltanschauung, wird gewaltig
verstärkt, je mehr wir in das rein weltliche Gebiet eintreten. Hier scheiden diese
Ideale wahrhaft die Geister, müssen sie zwingend Parteibildung und Gruppierung
beeinflussen. Ein Beispiel für viele aus unserer politischen und Parteigeschichte I
Wie bestimmend mußte und muß uicht die Stellung, zum Einheitsgedanken des
deutschen Volkes, zu seiner 1866 und 1870 herbeigeführten Verwirklichung
unter Preußens Führung, zu Kaiser und Reich sein! Auf der einen Seite stehen
die, welche diese Lösung ersehnten, denen sie die Erfüllung der schönsten Hoff¬
nungen bedeutete, oder die doch, als unter mehreren möglichen die Entscheidung
in dieser Richtung fiel, um der ersehnten Einheit willen gern bereit waren,
alle einmal gehegten Sonderwünsche zu vergessen. Auf der anderen Seite sehen
wir Großdeutsche, die fort und fort als die Besiegten vou 1866 sich fühlen,
die kaum die Sehnsucht uach einem Umschwung in ihrem Sinne auch heute
verbergen, jene Männer der Historisch-politischen Blätter, die noch jetzt im
Sinne konfessioneller Machtpolitik „von dem bei Königgrätz und Sedan besiegten
Katholizismus" sprechen. Dort stehen Welsen und Partikularsten wie jener
Joerg, dem die Preußenfeindschaft Lebensaufgabe war, der, wie er 1870 Bayern
den Treubruch predigte, Jahrzehnte hindurch in eben diesen Historisch-politischen
Blättern das Leben des Reiches mißgünstig, scheltend und wohl auf die
„Nemesis" hoffend begleitete. Dort stehen Polen, die die Erfüllung ihrer
nationalen Wünsche von Deutschlands Niederlage, seiner Zerstückelung erhoffen,
die jederzeit bereit sind, den Augenblick der Schwäche zum Überfall zu benutzen,
zu blutigem Aufstand, wie schon dreimal im neunzehnten Jahrhundert. Dort stehen
die westlichen Protestler, die sehnsüchtig die Augen nach dein französischen Befreier


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[0496] Ivcltanschcmimg, Politik und politische Parteien eigenen Gewissens gebunden sein lassen: Bonifaz VIII. und der evangelische Summusepiskopus. Auf ihr stehen sowohl die Vertreter mittelalterlichen Glaubens- und Gewissenszwanges, die, wie jüngst jener römische Propaganda- Professor, das mittelalterliche Ketzerrecht mit all seinen Folgerungen als noch heute geltend behaupten, die sehnsüchtig nach den Scheiterhaufen ausschauen, auf denen das Mittelalter Weltanschauungsfragen zum Austrag brachte. Auf ihr stehen auch jene gesinnungsverwandten, aber feineren Politiker, die vor¬ sichtiger, „tsmporum ratione tendit-»", das praktisch leider Unmögliche auch theoretisch zu verhüllen geneigt sind. Aber auf ihr haben ebensogut Platz die Vertreter der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die diese Errungenschaften des modernen Staates als einen Fortschritt aus der Nacht des Wcchus zu reineren Höhen des Menschentums preisen. Werden aus dem Gegensatz in diesen höchst praktischen Postulaten des mittelalterlichen Kirchenstaatstums, des Glaubens¬ und Gewissenszwangs einerseits, der Staatssouveränität und der Gewissens¬ freiheit anderseits, nicht zwingend gemeinsame und gegnerische politische Aktionen sich ergeben, während die Übereinstimmung in den dahinterliegenden meta¬ physischen Fragen dafür bedeutungslos ist? Und die ganz vorwiegende Bedeutung dieser praktisch - politischen Ideale sür das politische Leben, gegenüber der religiösen Weltanschauung, wird gewaltig verstärkt, je mehr wir in das rein weltliche Gebiet eintreten. Hier scheiden diese Ideale wahrhaft die Geister, müssen sie zwingend Parteibildung und Gruppierung beeinflussen. Ein Beispiel für viele aus unserer politischen und Parteigeschichte I Wie bestimmend mußte und muß uicht die Stellung, zum Einheitsgedanken des deutschen Volkes, zu seiner 1866 und 1870 herbeigeführten Verwirklichung unter Preußens Führung, zu Kaiser und Reich sein! Auf der einen Seite stehen die, welche diese Lösung ersehnten, denen sie die Erfüllung der schönsten Hoff¬ nungen bedeutete, oder die doch, als unter mehreren möglichen die Entscheidung in dieser Richtung fiel, um der ersehnten Einheit willen gern bereit waren, alle einmal gehegten Sonderwünsche zu vergessen. Auf der anderen Seite sehen wir Großdeutsche, die fort und fort als die Besiegten vou 1866 sich fühlen, die kaum die Sehnsucht uach einem Umschwung in ihrem Sinne auch heute verbergen, jene Männer der Historisch-politischen Blätter, die noch jetzt im Sinne konfessioneller Machtpolitik „von dem bei Königgrätz und Sedan besiegten Katholizismus" sprechen. Dort stehen Welsen und Partikularsten wie jener Joerg, dem die Preußenfeindschaft Lebensaufgabe war, der, wie er 1870 Bayern den Treubruch predigte, Jahrzehnte hindurch in eben diesen Historisch-politischen Blättern das Leben des Reiches mißgünstig, scheltend und wohl auf die „Nemesis" hoffend begleitete. Dort stehen Polen, die die Erfüllung ihrer nationalen Wünsche von Deutschlands Niederlage, seiner Zerstückelung erhoffen, die jederzeit bereit sind, den Augenblick der Schwäche zum Überfall zu benutzen, zu blutigem Aufstand, wie schon dreimal im neunzehnten Jahrhundert. Dort stehen die westlichen Protestler, die sehnsüchtig die Augen nach dein französischen Befreier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/496>, abgerufen am 24.07.2024.