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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Weltanschauung, Politik und politische Parteien

die geradezu ihre in die Tat übersetzte materialistische Weltanschauung sei.
Ergibt sich daraus, so fragt er, nicht umgekehrt die Möglichkeit einer christlichen
Politik, welche die christliche Weltanschauung im Bereiche des Gemeinlebens in
die Tat übersetzt? Können sich nicht alle staatserhaltenden Parteien auf dem
Boden des Christentums zusammenfinden? Der Redner betont die Schranken
der Verwirklichung dieses Gedankens: einmal greift das Christentum weit über
den Rahmen politischer Betätigung hinaus, und anderseits gibt es zahlreiche
Fragen des politischen Lebens, für welche sich aus den Lehren des Christen¬
tums eine abschließende Beurteilung nicht entnehmen läßt. Nur mit diesem
doppelten Vorbehalt hat der Satz, daß sich die staatserhaltenden Parteien auf
dem Boden der christlichen Weltanschauung sammeln sollen, einen guten und
richtigen Sinn. Aus der theistisch-teleologischen Weltansicht, die das Christen¬
tum voraussetzt und in sich einschließt, ergibt sich sonnt nach den: Herrn Vor¬
trageirden eine grundsätzliche Orientierung der politischen Betätigung: der Staat
ist zunächst in seiner Gesetzgebung an die sittliche Ordnung und die aus ihr
sich ergebenden obersten Rechtsgrundsätze gebunden; ferner fließt aus den? Begriff
der menschlichen Persönlichkeit ein bestimmter Umfang Unveräußerlicher Rechte;
und endlich sind die Bürger gehalten, zur Verwirklichung des Staatszweckes
beizutragen, und eben darum verpflichtet, den Anordnungen der staatlichen
Obrigkeit im Rahmen des sittlich Zulässigen und ihrer Zuständigkeit Gehorsam
zu leisten. So heißt denn auf den: Boden des Christentums zusammenstehen
aus der Hand des christlichen Glaubens und der christlichen Sittenlehre die
grundsätzliche Orientierung entgegennehmen, welche für das staatliche Leben und
die politische Betätigung entscheidend ist. Und hier berührt von Hertling das
Problem des Verhältnisses von christlicher Weltanschauung zu ihrer spezifisch
katholischen Ausprägung, der katholischen Glaubens- und Sittenlehre. Er betont,
daß für den katholischen Politiker natürlich die Glaubens- und Sittenlehre
seiner Kirche das Verhalten bestimmen müsse; er wird keinen Schritt unternehmen,
der ihn damit in Widerspruch bringt. Aber die Tragweite dieser Antwort solle
nach der positiven Seite nicht überschätzt werden. Über die einzelnen politisch
praktischen Fragen gebe die katholische Lehre regelmäßig ebensowenig einen
Aufschluß wie die des Christentums überhaupt. Doch werde für das religiöse
Gebiet die Entscheidung dem Katholiken regelmäßig grundsätzlich vorgezeichnet
sein. Freilich hänge das positive Zurgeltungbringen von dem politisch Möglichen
ab: Öffentliche Angelegenheiten ausschließlich nach Maßgabe der katholischen
Lehrbestimmung zu gestalten, sei nur so lange möglich, als die Gesamtheit oder
doch die überwiegende Majorität eines Volkes sich zum katholischen Glauben
bekennt. Es sei nicht möglich, wo in einem paritätischen Staate verschiedene
Bekenntnisse tatsächlich nebeneinander zu Recht bestehen. So ergibt sich für
von Hertling ein enger Zusammenhang der Weltanschauung, d. h. der persönlichen
Stellung zu den letzten und höchsten Problemen, mit dem politischen Leben und
damit der Einfluß des religiösen Elementes auf das politische Verhalten.


Weltanschauung, Politik und politische Parteien

die geradezu ihre in die Tat übersetzte materialistische Weltanschauung sei.
Ergibt sich daraus, so fragt er, nicht umgekehrt die Möglichkeit einer christlichen
Politik, welche die christliche Weltanschauung im Bereiche des Gemeinlebens in
die Tat übersetzt? Können sich nicht alle staatserhaltenden Parteien auf dem
Boden des Christentums zusammenfinden? Der Redner betont die Schranken
der Verwirklichung dieses Gedankens: einmal greift das Christentum weit über
den Rahmen politischer Betätigung hinaus, und anderseits gibt es zahlreiche
Fragen des politischen Lebens, für welche sich aus den Lehren des Christen¬
tums eine abschließende Beurteilung nicht entnehmen läßt. Nur mit diesem
doppelten Vorbehalt hat der Satz, daß sich die staatserhaltenden Parteien auf
dem Boden der christlichen Weltanschauung sammeln sollen, einen guten und
richtigen Sinn. Aus der theistisch-teleologischen Weltansicht, die das Christen¬
tum voraussetzt und in sich einschließt, ergibt sich sonnt nach den: Herrn Vor¬
trageirden eine grundsätzliche Orientierung der politischen Betätigung: der Staat
ist zunächst in seiner Gesetzgebung an die sittliche Ordnung und die aus ihr
sich ergebenden obersten Rechtsgrundsätze gebunden; ferner fließt aus den? Begriff
der menschlichen Persönlichkeit ein bestimmter Umfang Unveräußerlicher Rechte;
und endlich sind die Bürger gehalten, zur Verwirklichung des Staatszweckes
beizutragen, und eben darum verpflichtet, den Anordnungen der staatlichen
Obrigkeit im Rahmen des sittlich Zulässigen und ihrer Zuständigkeit Gehorsam
zu leisten. So heißt denn auf den: Boden des Christentums zusammenstehen
aus der Hand des christlichen Glaubens und der christlichen Sittenlehre die
grundsätzliche Orientierung entgegennehmen, welche für das staatliche Leben und
die politische Betätigung entscheidend ist. Und hier berührt von Hertling das
Problem des Verhältnisses von christlicher Weltanschauung zu ihrer spezifisch
katholischen Ausprägung, der katholischen Glaubens- und Sittenlehre. Er betont,
daß für den katholischen Politiker natürlich die Glaubens- und Sittenlehre
seiner Kirche das Verhalten bestimmen müsse; er wird keinen Schritt unternehmen,
der ihn damit in Widerspruch bringt. Aber die Tragweite dieser Antwort solle
nach der positiven Seite nicht überschätzt werden. Über die einzelnen politisch
praktischen Fragen gebe die katholische Lehre regelmäßig ebensowenig einen
Aufschluß wie die des Christentums überhaupt. Doch werde für das religiöse
Gebiet die Entscheidung dem Katholiken regelmäßig grundsätzlich vorgezeichnet
sein. Freilich hänge das positive Zurgeltungbringen von dem politisch Möglichen
ab: Öffentliche Angelegenheiten ausschließlich nach Maßgabe der katholischen
Lehrbestimmung zu gestalten, sei nur so lange möglich, als die Gesamtheit oder
doch die überwiegende Majorität eines Volkes sich zum katholischen Glauben
bekennt. Es sei nicht möglich, wo in einem paritätischen Staate verschiedene
Bekenntnisse tatsächlich nebeneinander zu Recht bestehen. So ergibt sich für
von Hertling ein enger Zusammenhang der Weltanschauung, d. h. der persönlichen
Stellung zu den letzten und höchsten Problemen, mit dem politischen Leben und
damit der Einfluß des religiösen Elementes auf das politische Verhalten.


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[0494] Weltanschauung, Politik und politische Parteien die geradezu ihre in die Tat übersetzte materialistische Weltanschauung sei. Ergibt sich daraus, so fragt er, nicht umgekehrt die Möglichkeit einer christlichen Politik, welche die christliche Weltanschauung im Bereiche des Gemeinlebens in die Tat übersetzt? Können sich nicht alle staatserhaltenden Parteien auf dem Boden des Christentums zusammenfinden? Der Redner betont die Schranken der Verwirklichung dieses Gedankens: einmal greift das Christentum weit über den Rahmen politischer Betätigung hinaus, und anderseits gibt es zahlreiche Fragen des politischen Lebens, für welche sich aus den Lehren des Christen¬ tums eine abschließende Beurteilung nicht entnehmen läßt. Nur mit diesem doppelten Vorbehalt hat der Satz, daß sich die staatserhaltenden Parteien auf dem Boden der christlichen Weltanschauung sammeln sollen, einen guten und richtigen Sinn. Aus der theistisch-teleologischen Weltansicht, die das Christen¬ tum voraussetzt und in sich einschließt, ergibt sich sonnt nach den: Herrn Vor¬ trageirden eine grundsätzliche Orientierung der politischen Betätigung: der Staat ist zunächst in seiner Gesetzgebung an die sittliche Ordnung und die aus ihr sich ergebenden obersten Rechtsgrundsätze gebunden; ferner fließt aus den? Begriff der menschlichen Persönlichkeit ein bestimmter Umfang Unveräußerlicher Rechte; und endlich sind die Bürger gehalten, zur Verwirklichung des Staatszweckes beizutragen, und eben darum verpflichtet, den Anordnungen der staatlichen Obrigkeit im Rahmen des sittlich Zulässigen und ihrer Zuständigkeit Gehorsam zu leisten. So heißt denn auf den: Boden des Christentums zusammenstehen aus der Hand des christlichen Glaubens und der christlichen Sittenlehre die grundsätzliche Orientierung entgegennehmen, welche für das staatliche Leben und die politische Betätigung entscheidend ist. Und hier berührt von Hertling das Problem des Verhältnisses von christlicher Weltanschauung zu ihrer spezifisch katholischen Ausprägung, der katholischen Glaubens- und Sittenlehre. Er betont, daß für den katholischen Politiker natürlich die Glaubens- und Sittenlehre seiner Kirche das Verhalten bestimmen müsse; er wird keinen Schritt unternehmen, der ihn damit in Widerspruch bringt. Aber die Tragweite dieser Antwort solle nach der positiven Seite nicht überschätzt werden. Über die einzelnen politisch praktischen Fragen gebe die katholische Lehre regelmäßig ebensowenig einen Aufschluß wie die des Christentums überhaupt. Doch werde für das religiöse Gebiet die Entscheidung dem Katholiken regelmäßig grundsätzlich vorgezeichnet sein. Freilich hänge das positive Zurgeltungbringen von dem politisch Möglichen ab: Öffentliche Angelegenheiten ausschließlich nach Maßgabe der katholischen Lehrbestimmung zu gestalten, sei nur so lange möglich, als die Gesamtheit oder doch die überwiegende Majorität eines Volkes sich zum katholischen Glauben bekennt. Es sei nicht möglich, wo in einem paritätischen Staate verschiedene Bekenntnisse tatsächlich nebeneinander zu Recht bestehen. So ergibt sich für von Hertling ein enger Zusammenhang der Weltanschauung, d. h. der persönlichen Stellung zu den letzten und höchsten Problemen, mit dem politischen Leben und damit der Einfluß des religiösen Elementes auf das politische Verhalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/494>, abgerufen am 24.07.2024.