Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspienel (Der neue Reichstagsprüsident. Parteien und Regierung. Die Wahlrechts¬ vorlage. Der Fall Wetterlö.) Die Wahl des neuen Reichstagspräsidenten hat am 1. März stattgefunden. Als die Präsidentenwahl im Reichstage in Aussicht stand, wurde in der Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspienel (Der neue Reichstagsprüsident. Parteien und Regierung. Die Wahlrechts¬ vorlage. Der Fall Wetterlö.) Die Wahl des neuen Reichstagspräsidenten hat am 1. März stattgefunden. Als die Präsidentenwahl im Reichstage in Aussicht stand, wurde in der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315484"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341891_314996/figures/grenzboten_341891_314996_315484_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> Reichsspienel</head><lb/> <note type="argument"> (Der neue Reichstagsprüsident. Parteien und Regierung. Die Wahlrechts¬<lb/> vorlage. Der Fall Wetterlö.)</note><lb/> <p xml:id="ID_2158"> Die Wahl des neuen Reichstagspräsidenten hat am 1. März stattgefunden.<lb/> Graf Schwerin-Lowitz ist durch Akklamation an die Stelle des verstorbenen Grafen<lb/> Stolberg gesetzt worden. Der neue Präsident, der sich, obwohl konservativer<lb/> Großgrundbesitzer und sehr eifriger Landwirt, niemals in den Extremen seiner<lb/> Standesgenossen bewegt hat, ist bekanntlich seit Jahren Präsident des deutschen<lb/> Landwirtschaftsrats und gehörte längst zu den bedeutendsten und angesehensten<lb/> Mitgliedern seiner Partei im Reichstage. Trotzdem hatte er in der Partei selbst<lb/> keine eigentliche Führerrolle; vielleicht machte ihn auch seine maßvolle, vermittelnde<lb/> Art dazu weniger geeignet. Eben diese Eigenschaft hat aber wohl den Ausschlag<lb/> gegeben für seine Wahl zum Präsidenten, und man darf als sicher annehmen,<lb/> daß seine Persönlichkeit allen Parteien, auch denen, die ihm als scharfe politische<lb/> Gegner gegenüberstehen, Vertrauen einflößen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_2159" next="#ID_2160"> Als die Präsidentenwahl im Reichstage in Aussicht stand, wurde in der<lb/> Presse hier und da behauptet, das Zentrum wolle die Gelegenheit benutzen, den<lb/> ersten Sitz im Präsidium in Anspruch zu nehmen. Man Pflegte es ja als Regel<lb/> anzusehen, daß die stärkste Fraktion des Reichstags den Präsidenten zu stellen<lb/> habe. Wenn das Zentrum beim Beginn der gegenwärtigen Tagung von dieser<lb/> Regel nicht zu seinen Gunsten Gebrauch machen wollte, so wurde das mit der<lb/> Rücksicht auf den Grafen Stolberg erklärt. Nach dem Tode dieser Persönlichkeit<lb/> stet — so schien es — die erwähnte Rücksicht weg. Die Meinung, daß das<lb/> Zentrum diesen Erwägungen folgen werde, — oder vielleicht korrekter ausgedrückt,<lb/> daß dahin gehende Strömungen im Zentrum die Oberhand gewinnen würden, —<lb/> hat sich als Täuschung erwiesen. Es ist auch leicht einzusehen, warum. Der<lb/> Fraktion liegt im Grunde nichts daran, in welcher Stelle des Präsidiums sie ver¬<lb/> treten ist, wenn sie auch aus Gründen der Partei-Reputation darauf hält, daß<lb/> sie vertreten ist. Taktisch wichtiger als diese Etikettenfrage ist für das Zentrum<lb/> die Wetterführung und — wenn möglich — Vollendung der Arbeit, die ihm die<lb/> Parlamentarische Herrschaft sichert. Diese Arbeit hat mit der Sprengung des<lb/> Vülowschen Blocks begonnen. Aber die Sprengung genügt nicht; die Hälften<lb/> müssen auch endgültig auseinandergebracht werden. Prinzipien braucht das Zentrum<lb/> — außer auf kirchlichem Gebiet — nicht zu haben, und die Wähler folgen ja doch<lb/> durch dick und tun«. Die Fraktion braucht sich also auch nicht zu fürchten, daß<lb/> ein kleines Opfer an Selbstbewußtsein ihr schaden könnte. Deshalb schmiegt sich<lb/> das Zentrum gewissermaßen an die Konservativen an; die größere Partei folgt<lb/> willig und scheinbar entsagungsvoll der kleineren und heuchelt völlige Interessen-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0487]
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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspienel
(Der neue Reichstagsprüsident. Parteien und Regierung. Die Wahlrechts¬
vorlage. Der Fall Wetterlö.)
Die Wahl des neuen Reichstagspräsidenten hat am 1. März stattgefunden.
Graf Schwerin-Lowitz ist durch Akklamation an die Stelle des verstorbenen Grafen
Stolberg gesetzt worden. Der neue Präsident, der sich, obwohl konservativer
Großgrundbesitzer und sehr eifriger Landwirt, niemals in den Extremen seiner
Standesgenossen bewegt hat, ist bekanntlich seit Jahren Präsident des deutschen
Landwirtschaftsrats und gehörte längst zu den bedeutendsten und angesehensten
Mitgliedern seiner Partei im Reichstage. Trotzdem hatte er in der Partei selbst
keine eigentliche Führerrolle; vielleicht machte ihn auch seine maßvolle, vermittelnde
Art dazu weniger geeignet. Eben diese Eigenschaft hat aber wohl den Ausschlag
gegeben für seine Wahl zum Präsidenten, und man darf als sicher annehmen,
daß seine Persönlichkeit allen Parteien, auch denen, die ihm als scharfe politische
Gegner gegenüberstehen, Vertrauen einflößen wird.
Als die Präsidentenwahl im Reichstage in Aussicht stand, wurde in der
Presse hier und da behauptet, das Zentrum wolle die Gelegenheit benutzen, den
ersten Sitz im Präsidium in Anspruch zu nehmen. Man Pflegte es ja als Regel
anzusehen, daß die stärkste Fraktion des Reichstags den Präsidenten zu stellen
habe. Wenn das Zentrum beim Beginn der gegenwärtigen Tagung von dieser
Regel nicht zu seinen Gunsten Gebrauch machen wollte, so wurde das mit der
Rücksicht auf den Grafen Stolberg erklärt. Nach dem Tode dieser Persönlichkeit
stet — so schien es — die erwähnte Rücksicht weg. Die Meinung, daß das
Zentrum diesen Erwägungen folgen werde, — oder vielleicht korrekter ausgedrückt,
daß dahin gehende Strömungen im Zentrum die Oberhand gewinnen würden, —
hat sich als Täuschung erwiesen. Es ist auch leicht einzusehen, warum. Der
Fraktion liegt im Grunde nichts daran, in welcher Stelle des Präsidiums sie ver¬
treten ist, wenn sie auch aus Gründen der Partei-Reputation darauf hält, daß
sie vertreten ist. Taktisch wichtiger als diese Etikettenfrage ist für das Zentrum
die Wetterführung und — wenn möglich — Vollendung der Arbeit, die ihm die
Parlamentarische Herrschaft sichert. Diese Arbeit hat mit der Sprengung des
Vülowschen Blocks begonnen. Aber die Sprengung genügt nicht; die Hälften
müssen auch endgültig auseinandergebracht werden. Prinzipien braucht das Zentrum
— außer auf kirchlichem Gebiet — nicht zu haben, und die Wähler folgen ja doch
durch dick und tun«. Die Fraktion braucht sich also auch nicht zu fürchten, daß
ein kleines Opfer an Selbstbewußtsein ihr schaden könnte. Deshalb schmiegt sich
das Zentrum gewissermaßen an die Konservativen an; die größere Partei folgt
willig und scheinbar entsagungsvoll der kleineren und heuchelt völlige Interessen-
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