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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Scilonleben

Die Sache klingt komisch, hat aber in Wirklichkeit auch ihre ernste Seite. Man
beachte nur die Zuschauer in den Zwischenakten, wie sie sich auf belegte Brötchen
stürzen, während die Stimmung eines Bühnenwerks in ihnen nachzittern soll.
Shakespeare läßt seinen Menenius Agrippa im "Coriolan" die treffende Be¬
merkung machen: "Wer Mittag gegessen hat, ist milde." Unser Appetit zur
unrechten Zeit vermindert unsere Aufnahmefähigkeit und macht unser Urteil oft
lieblos und ungerecht.

In jüngster Zeit hat man Versammlungen zur Besprechung derLrage ab¬
gehalten, wie man einen breiteren Fremdenstrom nach Berlin lenken und welche
Mittel man anwenden könnte, um ihnen einen längeren Aufenthalt möglichst
angenehm zu gestalten. Von denen, die sich zu Worte meldeten, hat keiner
daran erinnert, wie unbequem die Verschiedenheit unserer Tageseinteilung für
unsere Freunde aus der Provinz und die fremden Gäste ist. Wer London
kennt, erinnert sich an das charakteristische bunte Leben auf den Promenaden-,
Reit- und Fahrwegen des Hudepark. Dem Pariser ist der Anblick des Bois
de Bologne mit den eleganten Kavalieren hoch zu Roß und den verführerischen
Frauenerscheinnngen in den Equipagen und Automobilen ein unentbehrliches
Lebensbedürfnis. Ebenso hängt der Römer an seinem Monte Pincio und der
Petersburger an seinem Newski Prospekt mit den wechselnden Bildern, die zu
bestimmten Tageszeiten an seinen Blicken vorbeiziehen. Warum haben wir in
Berlin noch immer keinen Korso? Die wundervollen Anlagen des Tiergartens
und Kurfürstendamms bis zu den Wald- und Villengegenden des Grünewalds
fordern zu einer solchen Veranstaltung mit der damit verbundenen glanzvollen
Entfaltung unseres gesellschaftlichen Lebens geradezu heraus. Aber wir kennen
diese Sitte ebensowenig wie das, was die Franzosen "flanieren" nennen, das
gemächliche, gemütliche, absichtslose Spazierengehen, wobei man stehen bleibt,
uni mit einem Freunde zu plaudern oder ihn eine Strecke zu begleiten, die
Ausschnuickung eines Schaufensters zu betrachten, ein schönes Gegenüber zu
grüßen oder den Himmel zu befragen, ob er Regen oder Sonnenschein senden
werde. Die gemeinsamen Wagenfahrten werden bei uns immer nur künstlich
an einzelnen Tagen und zu bestimmtem Zweck ins Leben gerufen, haben sich
aber als regelmäßige Gepflogenheit nicht einbürgern lassen. Das ist auch leicht
begreiflich, solange die Muße des einen den Pflichten des andern in die
Quere kommt, ein Teil der Gesellschaft sich zerstreuen will, während der andere
Zu derselben Zeit Berufssorgen mit sich herumträgt. Wieviel angenehmer wäre
der lange Vormittag, der nur durch eine kurze Frühstückspause unterbrochen
wird bis zu der Hauptmahlzeit zwischen sechs und sieben Uhr, mit der jeder
sich für den übrigen Teil des Tages seiner Freiheit bewußt wird!

Wer spazieren geht oder führt, will selbstverständlich sehen und gesehen
werden. Man greift an schönen Tagen noch einmal so gern zu Hut und
Stock, um im Frühling den Flieder blühen zu sehen und im Winter den frisch
gefallenen Schnee unter den Füßen knirschen zu hören, wenn man auch seine


Berliner Scilonleben

Die Sache klingt komisch, hat aber in Wirklichkeit auch ihre ernste Seite. Man
beachte nur die Zuschauer in den Zwischenakten, wie sie sich auf belegte Brötchen
stürzen, während die Stimmung eines Bühnenwerks in ihnen nachzittern soll.
Shakespeare läßt seinen Menenius Agrippa im „Coriolan" die treffende Be¬
merkung machen: „Wer Mittag gegessen hat, ist milde." Unser Appetit zur
unrechten Zeit vermindert unsere Aufnahmefähigkeit und macht unser Urteil oft
lieblos und ungerecht.

In jüngster Zeit hat man Versammlungen zur Besprechung derLrage ab¬
gehalten, wie man einen breiteren Fremdenstrom nach Berlin lenken und welche
Mittel man anwenden könnte, um ihnen einen längeren Aufenthalt möglichst
angenehm zu gestalten. Von denen, die sich zu Worte meldeten, hat keiner
daran erinnert, wie unbequem die Verschiedenheit unserer Tageseinteilung für
unsere Freunde aus der Provinz und die fremden Gäste ist. Wer London
kennt, erinnert sich an das charakteristische bunte Leben auf den Promenaden-,
Reit- und Fahrwegen des Hudepark. Dem Pariser ist der Anblick des Bois
de Bologne mit den eleganten Kavalieren hoch zu Roß und den verführerischen
Frauenerscheinnngen in den Equipagen und Automobilen ein unentbehrliches
Lebensbedürfnis. Ebenso hängt der Römer an seinem Monte Pincio und der
Petersburger an seinem Newski Prospekt mit den wechselnden Bildern, die zu
bestimmten Tageszeiten an seinen Blicken vorbeiziehen. Warum haben wir in
Berlin noch immer keinen Korso? Die wundervollen Anlagen des Tiergartens
und Kurfürstendamms bis zu den Wald- und Villengegenden des Grünewalds
fordern zu einer solchen Veranstaltung mit der damit verbundenen glanzvollen
Entfaltung unseres gesellschaftlichen Lebens geradezu heraus. Aber wir kennen
diese Sitte ebensowenig wie das, was die Franzosen „flanieren" nennen, das
gemächliche, gemütliche, absichtslose Spazierengehen, wobei man stehen bleibt,
uni mit einem Freunde zu plaudern oder ihn eine Strecke zu begleiten, die
Ausschnuickung eines Schaufensters zu betrachten, ein schönes Gegenüber zu
grüßen oder den Himmel zu befragen, ob er Regen oder Sonnenschein senden
werde. Die gemeinsamen Wagenfahrten werden bei uns immer nur künstlich
an einzelnen Tagen und zu bestimmtem Zweck ins Leben gerufen, haben sich
aber als regelmäßige Gepflogenheit nicht einbürgern lassen. Das ist auch leicht
begreiflich, solange die Muße des einen den Pflichten des andern in die
Quere kommt, ein Teil der Gesellschaft sich zerstreuen will, während der andere
Zu derselben Zeit Berufssorgen mit sich herumträgt. Wieviel angenehmer wäre
der lange Vormittag, der nur durch eine kurze Frühstückspause unterbrochen
wird bis zu der Hauptmahlzeit zwischen sechs und sieben Uhr, mit der jeder
sich für den übrigen Teil des Tages seiner Freiheit bewußt wird!

Wer spazieren geht oder führt, will selbstverständlich sehen und gesehen
werden. Man greift an schönen Tagen noch einmal so gern zu Hut und
Stock, um im Frühling den Flieder blühen zu sehen und im Winter den frisch
gefallenen Schnee unter den Füßen knirschen zu hören, wenn man auch seine


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[0479] Berliner Scilonleben Die Sache klingt komisch, hat aber in Wirklichkeit auch ihre ernste Seite. Man beachte nur die Zuschauer in den Zwischenakten, wie sie sich auf belegte Brötchen stürzen, während die Stimmung eines Bühnenwerks in ihnen nachzittern soll. Shakespeare läßt seinen Menenius Agrippa im „Coriolan" die treffende Be¬ merkung machen: „Wer Mittag gegessen hat, ist milde." Unser Appetit zur unrechten Zeit vermindert unsere Aufnahmefähigkeit und macht unser Urteil oft lieblos und ungerecht. In jüngster Zeit hat man Versammlungen zur Besprechung derLrage ab¬ gehalten, wie man einen breiteren Fremdenstrom nach Berlin lenken und welche Mittel man anwenden könnte, um ihnen einen längeren Aufenthalt möglichst angenehm zu gestalten. Von denen, die sich zu Worte meldeten, hat keiner daran erinnert, wie unbequem die Verschiedenheit unserer Tageseinteilung für unsere Freunde aus der Provinz und die fremden Gäste ist. Wer London kennt, erinnert sich an das charakteristische bunte Leben auf den Promenaden-, Reit- und Fahrwegen des Hudepark. Dem Pariser ist der Anblick des Bois de Bologne mit den eleganten Kavalieren hoch zu Roß und den verführerischen Frauenerscheinnngen in den Equipagen und Automobilen ein unentbehrliches Lebensbedürfnis. Ebenso hängt der Römer an seinem Monte Pincio und der Petersburger an seinem Newski Prospekt mit den wechselnden Bildern, die zu bestimmten Tageszeiten an seinen Blicken vorbeiziehen. Warum haben wir in Berlin noch immer keinen Korso? Die wundervollen Anlagen des Tiergartens und Kurfürstendamms bis zu den Wald- und Villengegenden des Grünewalds fordern zu einer solchen Veranstaltung mit der damit verbundenen glanzvollen Entfaltung unseres gesellschaftlichen Lebens geradezu heraus. Aber wir kennen diese Sitte ebensowenig wie das, was die Franzosen „flanieren" nennen, das gemächliche, gemütliche, absichtslose Spazierengehen, wobei man stehen bleibt, uni mit einem Freunde zu plaudern oder ihn eine Strecke zu begleiten, die Ausschnuickung eines Schaufensters zu betrachten, ein schönes Gegenüber zu grüßen oder den Himmel zu befragen, ob er Regen oder Sonnenschein senden werde. Die gemeinsamen Wagenfahrten werden bei uns immer nur künstlich an einzelnen Tagen und zu bestimmtem Zweck ins Leben gerufen, haben sich aber als regelmäßige Gepflogenheit nicht einbürgern lassen. Das ist auch leicht begreiflich, solange die Muße des einen den Pflichten des andern in die Quere kommt, ein Teil der Gesellschaft sich zerstreuen will, während der andere Zu derselben Zeit Berufssorgen mit sich herumträgt. Wieviel angenehmer wäre der lange Vormittag, der nur durch eine kurze Frühstückspause unterbrochen wird bis zu der Hauptmahlzeit zwischen sechs und sieben Uhr, mit der jeder sich für den übrigen Teil des Tages seiner Freiheit bewußt wird! Wer spazieren geht oder führt, will selbstverständlich sehen und gesehen werden. Man greift an schönen Tagen noch einmal so gern zu Hut und Stock, um im Frühling den Flieder blühen zu sehen und im Winter den frisch gefallenen Schnee unter den Füßen knirschen zu hören, wenn man auch seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/479>, abgerufen am 22.12.2024.