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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Scilonlcben

tüchtigen Geschäftsmann entwickelte, kümmerte sich dabei niemand. Er stand
ganz im Schatten seiner Frau und einzelne Gäste wußten gar nicht, wer er war.
Als man sich teilnehmend nach dem alten bescheidenen Herrn erkundigte, der
sich an seinem gewohnten Platz bei Tisch nicht mehr sehen ließ, sagte Madame
Geoffrin: "Das war mein Mann! Er ist gestorben."

Um eine solche Rolle in der Gesellschaft zu spielen, brauchte man weder
jung noch hübsch, weder hochgeboren noch reich zu sein. Die Marquise
du Deffand war eine Greisin und schon seit dreißig Jahren erblindet, als sich in
ihrem Salon die ersten Persönlichkeiten ihrer Zeit begegneten und kein Sieger
oder Besiegter, sondern nur gleichwertige ritterliche Streiter auf diesem Kampf¬
platz der Geister zu finden waren. Mit dein Geschick eines amerikanischen Prärie¬
reiters, der seinen Lasso schwingt, fing sie die Berühmtheiten von Paris ein,
eröffnete mit Besuchen, Briefen, Fragen sowie einer eigentümlichen Mischung von
Schmeichelei und Widerspruch einen wahren Sturm auf sie und ruhte nicht eher,
als bis sie ihre Freunde geistig förmlich ausgepreßt hatte. Die Marquise du Deffand
besaß einen wahrhaft männlichen Geist voll tiefer Bildung, der alles auf die kritische
Goldwage legte, um festzustellen, wo die Unterschiede zwischen dem Echten, dem nach¬
geahmten und dem ganz Wertlosen im Bereich des geistigen Schaffens lagen. Statt
des erloschenen Augenlichts besaß sie in der Literatur und Philosophie ihres Jahr¬
hunderts ein überaus feines Sehvermögen. Aus ihrer Schule ging Fräulein
de l'Espinasse hervor, die mit ihrer Erscheinung niemanden gefesselt hätte, wenn
sie weniger klug und unterrichtet, schlagfertig und verbindlich gewesen wäre.
Ihre Wohnung war höchst bescheiden eingerichtet und Tafelfreuden konnte man
bei ihr nicht erwarten. Schon als sie bei ihrer Meisterin als Gesellschaftsdame
wohnte, stiegen hohe Offiziere, Staatsmänner, Geistliche, Männer der Kunst
und Wissenschaft zu ihr in die Dachstube hinauf, um von ihrer Plauderkunst
zu naschen. Als sie sich später selbständig machte, erfuhr man bei ihr alles,
was sich auf dem Gebiet der Politik und Philosophie, des Theaters und der
Literatur ereignete. Sie wirkte mit ihrem Geist und Temperament wie heute
eine gut redigierte und reichhaltige Tageszeitung. Auch bei ihr gab es einen
ernstgehaltenen Leitartikel, ein flottgeschriebenes Feuilleton, Korrespondenzen aus
dem In- und Ausland und eine Ecke für hübsch zurechtgemachten Stadtklatsch.
Fräulein de l'Espinasse glich in Wahrheit einer elektrisch geladenen Leydener
Flasche, die bei jeder Berührung zu knistern und Funken zu sprühen anfing.
Ahnden diese liebenswürdigen Männer und Frauen, daß sie mit ihren geist¬
sprühenden Betrachtungen und Zwiegesprächen, ihren treffenden Witzen und
boshaften Anekdoten in die Pariser Gesellschaft die ersten Funken warfen, aus
denen später die gewaltige Flamme der französischen Revolution aufschlagen
und die Welt erschrecken sollte?

Diesem Pariser Vorbild folgten die Salons, die sich vor hundert Jahren
während der sogenannten Genialitätsperiode in Berlin bildeten. Ihre Führerin
war die zierliche dunkeläugige Rahel Levin, die Frau Vmnhagens von Ense,


Berliner Scilonlcben

tüchtigen Geschäftsmann entwickelte, kümmerte sich dabei niemand. Er stand
ganz im Schatten seiner Frau und einzelne Gäste wußten gar nicht, wer er war.
Als man sich teilnehmend nach dem alten bescheidenen Herrn erkundigte, der
sich an seinem gewohnten Platz bei Tisch nicht mehr sehen ließ, sagte Madame
Geoffrin: „Das war mein Mann! Er ist gestorben."

Um eine solche Rolle in der Gesellschaft zu spielen, brauchte man weder
jung noch hübsch, weder hochgeboren noch reich zu sein. Die Marquise
du Deffand war eine Greisin und schon seit dreißig Jahren erblindet, als sich in
ihrem Salon die ersten Persönlichkeiten ihrer Zeit begegneten und kein Sieger
oder Besiegter, sondern nur gleichwertige ritterliche Streiter auf diesem Kampf¬
platz der Geister zu finden waren. Mit dein Geschick eines amerikanischen Prärie¬
reiters, der seinen Lasso schwingt, fing sie die Berühmtheiten von Paris ein,
eröffnete mit Besuchen, Briefen, Fragen sowie einer eigentümlichen Mischung von
Schmeichelei und Widerspruch einen wahren Sturm auf sie und ruhte nicht eher,
als bis sie ihre Freunde geistig förmlich ausgepreßt hatte. Die Marquise du Deffand
besaß einen wahrhaft männlichen Geist voll tiefer Bildung, der alles auf die kritische
Goldwage legte, um festzustellen, wo die Unterschiede zwischen dem Echten, dem nach¬
geahmten und dem ganz Wertlosen im Bereich des geistigen Schaffens lagen. Statt
des erloschenen Augenlichts besaß sie in der Literatur und Philosophie ihres Jahr¬
hunderts ein überaus feines Sehvermögen. Aus ihrer Schule ging Fräulein
de l'Espinasse hervor, die mit ihrer Erscheinung niemanden gefesselt hätte, wenn
sie weniger klug und unterrichtet, schlagfertig und verbindlich gewesen wäre.
Ihre Wohnung war höchst bescheiden eingerichtet und Tafelfreuden konnte man
bei ihr nicht erwarten. Schon als sie bei ihrer Meisterin als Gesellschaftsdame
wohnte, stiegen hohe Offiziere, Staatsmänner, Geistliche, Männer der Kunst
und Wissenschaft zu ihr in die Dachstube hinauf, um von ihrer Plauderkunst
zu naschen. Als sie sich später selbständig machte, erfuhr man bei ihr alles,
was sich auf dem Gebiet der Politik und Philosophie, des Theaters und der
Literatur ereignete. Sie wirkte mit ihrem Geist und Temperament wie heute
eine gut redigierte und reichhaltige Tageszeitung. Auch bei ihr gab es einen
ernstgehaltenen Leitartikel, ein flottgeschriebenes Feuilleton, Korrespondenzen aus
dem In- und Ausland und eine Ecke für hübsch zurechtgemachten Stadtklatsch.
Fräulein de l'Espinasse glich in Wahrheit einer elektrisch geladenen Leydener
Flasche, die bei jeder Berührung zu knistern und Funken zu sprühen anfing.
Ahnden diese liebenswürdigen Männer und Frauen, daß sie mit ihren geist¬
sprühenden Betrachtungen und Zwiegesprächen, ihren treffenden Witzen und
boshaften Anekdoten in die Pariser Gesellschaft die ersten Funken warfen, aus
denen später die gewaltige Flamme der französischen Revolution aufschlagen
und die Welt erschrecken sollte?

Diesem Pariser Vorbild folgten die Salons, die sich vor hundert Jahren
während der sogenannten Genialitätsperiode in Berlin bildeten. Ihre Führerin
war die zierliche dunkeläugige Rahel Levin, die Frau Vmnhagens von Ense,


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[0471] Berliner Scilonlcben tüchtigen Geschäftsmann entwickelte, kümmerte sich dabei niemand. Er stand ganz im Schatten seiner Frau und einzelne Gäste wußten gar nicht, wer er war. Als man sich teilnehmend nach dem alten bescheidenen Herrn erkundigte, der sich an seinem gewohnten Platz bei Tisch nicht mehr sehen ließ, sagte Madame Geoffrin: „Das war mein Mann! Er ist gestorben." Um eine solche Rolle in der Gesellschaft zu spielen, brauchte man weder jung noch hübsch, weder hochgeboren noch reich zu sein. Die Marquise du Deffand war eine Greisin und schon seit dreißig Jahren erblindet, als sich in ihrem Salon die ersten Persönlichkeiten ihrer Zeit begegneten und kein Sieger oder Besiegter, sondern nur gleichwertige ritterliche Streiter auf diesem Kampf¬ platz der Geister zu finden waren. Mit dein Geschick eines amerikanischen Prärie¬ reiters, der seinen Lasso schwingt, fing sie die Berühmtheiten von Paris ein, eröffnete mit Besuchen, Briefen, Fragen sowie einer eigentümlichen Mischung von Schmeichelei und Widerspruch einen wahren Sturm auf sie und ruhte nicht eher, als bis sie ihre Freunde geistig förmlich ausgepreßt hatte. Die Marquise du Deffand besaß einen wahrhaft männlichen Geist voll tiefer Bildung, der alles auf die kritische Goldwage legte, um festzustellen, wo die Unterschiede zwischen dem Echten, dem nach¬ geahmten und dem ganz Wertlosen im Bereich des geistigen Schaffens lagen. Statt des erloschenen Augenlichts besaß sie in der Literatur und Philosophie ihres Jahr¬ hunderts ein überaus feines Sehvermögen. Aus ihrer Schule ging Fräulein de l'Espinasse hervor, die mit ihrer Erscheinung niemanden gefesselt hätte, wenn sie weniger klug und unterrichtet, schlagfertig und verbindlich gewesen wäre. Ihre Wohnung war höchst bescheiden eingerichtet und Tafelfreuden konnte man bei ihr nicht erwarten. Schon als sie bei ihrer Meisterin als Gesellschaftsdame wohnte, stiegen hohe Offiziere, Staatsmänner, Geistliche, Männer der Kunst und Wissenschaft zu ihr in die Dachstube hinauf, um von ihrer Plauderkunst zu naschen. Als sie sich später selbständig machte, erfuhr man bei ihr alles, was sich auf dem Gebiet der Politik und Philosophie, des Theaters und der Literatur ereignete. Sie wirkte mit ihrem Geist und Temperament wie heute eine gut redigierte und reichhaltige Tageszeitung. Auch bei ihr gab es einen ernstgehaltenen Leitartikel, ein flottgeschriebenes Feuilleton, Korrespondenzen aus dem In- und Ausland und eine Ecke für hübsch zurechtgemachten Stadtklatsch. Fräulein de l'Espinasse glich in Wahrheit einer elektrisch geladenen Leydener Flasche, die bei jeder Berührung zu knistern und Funken zu sprühen anfing. Ahnden diese liebenswürdigen Männer und Frauen, daß sie mit ihren geist¬ sprühenden Betrachtungen und Zwiegesprächen, ihren treffenden Witzen und boshaften Anekdoten in die Pariser Gesellschaft die ersten Funken warfen, aus denen später die gewaltige Flamme der französischen Revolution aufschlagen und die Welt erschrecken sollte? Diesem Pariser Vorbild folgten die Salons, die sich vor hundert Jahren während der sogenannten Genialitätsperiode in Berlin bildeten. Ihre Führerin war die zierliche dunkeläugige Rahel Levin, die Frau Vmnhagens von Ense,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/471>, abgerufen am 22.12.2024.