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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Berliner ^alonleben
von Lügen Zabel

!it Recht genießt Berlin den Ruf, eine der gastfreisten Städte
der Welt zu sein und einen geselligen Verkehr zu entfalten, der
an Reiz und Mannigfaltigkeit nirgends übertreffen wird. Der
schüchterne Provinziale, der mit leichtem Gepäck und schweren
! Sorgen zum ersten Male in unsern Hauptstraßen dem Strom
der Menge folgt und sich nach einem neuen Wirkungskreis umsieht, empfindet
das ebenso lebhaft wie der verwöhnte Ausländer, der im Automobil nach
seinem Prunkhotel fährt und mit einflußreichen Empfehlungen ausgestattet ist.
Wer tüchtig vorwärts strebt und sich auf irgendeinem Gebiet auszeichnet, darf
darauf rechnen, daß dort, wo er Verständnis und Förderung gefunden hat,
auch die Türen zu den Familienzimmern sich ihm gastlich öffnen. An das
Märchen von der steifen Ungemütlichkeit Berlins, das früher in: Auslande
gern verbreitet wurde, glaubt schon lange niemand mehr. Unser Gesellschafts¬
leben hat sich immer weitere und angenehmere Kreise zur Aufnahme alles
dessen gebildet, was sich aus der Flut des Alltäglichen bemerkenswert hervor¬
hebt, und bleibt in der Kunst, nicht nur an Tisch und Teller, sondern auch
in> Geist und Gemüt zu fesseln, hinter keiner anderen Weltstadt zurück.

Wir dürfen es uns als besonderes Verdienst anrechnen, zu dieser Höhe
der Geselligkeit gelangt zu sein. Denn das Talent, sich an innerlich ver¬
wandte Menschen anzuschließen, eine anmutige Plauderei zu spinnen und
ungezwungen aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist uns nicht wie manchen
anderen Völkern angeboren. Das Verbindliche und Gefällige in den Umgangs¬
formen der Franzosen und Italiener, die immer bemüht sind, sich von der
angenehmsten Seite zu zeigen, ohne dabei den Kern ihres Wesens zu verraten,
ist uns von der Natur aus nicht geläufig. Auch die Gemütlichkeit einer Unter-
Haltung im englischen "Iiome", wenn sich die Gäste um das flackernde Kamin¬
feuer versammeln, war schon lange sprüchwörtlich, bevor wir diesem Beispiel
zu folgen suchten. Der Russe ruft in seinein Gastzimmer dem Deutschen, wenn
der Tisch gedeckt ist, immer erst die Worte: "Bitte, ohne Umstünde!" zu.
damit er aus seiner Zurückhaltung heraustrete und sich ganz wie zu Hause fühle.
Wir schätzen vor allem die Treue der Freundschaft, die den Menschen so zeigt,


Grenzboten l 1910 58


Berliner ^alonleben
von Lügen Zabel

!it Recht genießt Berlin den Ruf, eine der gastfreisten Städte
der Welt zu sein und einen geselligen Verkehr zu entfalten, der
an Reiz und Mannigfaltigkeit nirgends übertreffen wird. Der
schüchterne Provinziale, der mit leichtem Gepäck und schweren
! Sorgen zum ersten Male in unsern Hauptstraßen dem Strom
der Menge folgt und sich nach einem neuen Wirkungskreis umsieht, empfindet
das ebenso lebhaft wie der verwöhnte Ausländer, der im Automobil nach
seinem Prunkhotel fährt und mit einflußreichen Empfehlungen ausgestattet ist.
Wer tüchtig vorwärts strebt und sich auf irgendeinem Gebiet auszeichnet, darf
darauf rechnen, daß dort, wo er Verständnis und Förderung gefunden hat,
auch die Türen zu den Familienzimmern sich ihm gastlich öffnen. An das
Märchen von der steifen Ungemütlichkeit Berlins, das früher in: Auslande
gern verbreitet wurde, glaubt schon lange niemand mehr. Unser Gesellschafts¬
leben hat sich immer weitere und angenehmere Kreise zur Aufnahme alles
dessen gebildet, was sich aus der Flut des Alltäglichen bemerkenswert hervor¬
hebt, und bleibt in der Kunst, nicht nur an Tisch und Teller, sondern auch
in> Geist und Gemüt zu fesseln, hinter keiner anderen Weltstadt zurück.

Wir dürfen es uns als besonderes Verdienst anrechnen, zu dieser Höhe
der Geselligkeit gelangt zu sein. Denn das Talent, sich an innerlich ver¬
wandte Menschen anzuschließen, eine anmutige Plauderei zu spinnen und
ungezwungen aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist uns nicht wie manchen
anderen Völkern angeboren. Das Verbindliche und Gefällige in den Umgangs¬
formen der Franzosen und Italiener, die immer bemüht sind, sich von der
angenehmsten Seite zu zeigen, ohne dabei den Kern ihres Wesens zu verraten,
ist uns von der Natur aus nicht geläufig. Auch die Gemütlichkeit einer Unter-
Haltung im englischen „Iiome", wenn sich die Gäste um das flackernde Kamin¬
feuer versammeln, war schon lange sprüchwörtlich, bevor wir diesem Beispiel
zu folgen suchten. Der Russe ruft in seinein Gastzimmer dem Deutschen, wenn
der Tisch gedeckt ist, immer erst die Worte: „Bitte, ohne Umstünde!" zu.
damit er aus seiner Zurückhaltung heraustrete und sich ganz wie zu Hause fühle.
Wir schätzen vor allem die Treue der Freundschaft, die den Menschen so zeigt,


Grenzboten l 1910 58
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[0469] [Abbildung] Berliner ^alonleben von Lügen Zabel !it Recht genießt Berlin den Ruf, eine der gastfreisten Städte der Welt zu sein und einen geselligen Verkehr zu entfalten, der an Reiz und Mannigfaltigkeit nirgends übertreffen wird. Der schüchterne Provinziale, der mit leichtem Gepäck und schweren ! Sorgen zum ersten Male in unsern Hauptstraßen dem Strom der Menge folgt und sich nach einem neuen Wirkungskreis umsieht, empfindet das ebenso lebhaft wie der verwöhnte Ausländer, der im Automobil nach seinem Prunkhotel fährt und mit einflußreichen Empfehlungen ausgestattet ist. Wer tüchtig vorwärts strebt und sich auf irgendeinem Gebiet auszeichnet, darf darauf rechnen, daß dort, wo er Verständnis und Förderung gefunden hat, auch die Türen zu den Familienzimmern sich ihm gastlich öffnen. An das Märchen von der steifen Ungemütlichkeit Berlins, das früher in: Auslande gern verbreitet wurde, glaubt schon lange niemand mehr. Unser Gesellschafts¬ leben hat sich immer weitere und angenehmere Kreise zur Aufnahme alles dessen gebildet, was sich aus der Flut des Alltäglichen bemerkenswert hervor¬ hebt, und bleibt in der Kunst, nicht nur an Tisch und Teller, sondern auch in> Geist und Gemüt zu fesseln, hinter keiner anderen Weltstadt zurück. Wir dürfen es uns als besonderes Verdienst anrechnen, zu dieser Höhe der Geselligkeit gelangt zu sein. Denn das Talent, sich an innerlich ver¬ wandte Menschen anzuschließen, eine anmutige Plauderei zu spinnen und ungezwungen aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist uns nicht wie manchen anderen Völkern angeboren. Das Verbindliche und Gefällige in den Umgangs¬ formen der Franzosen und Italiener, die immer bemüht sind, sich von der angenehmsten Seite zu zeigen, ohne dabei den Kern ihres Wesens zu verraten, ist uns von der Natur aus nicht geläufig. Auch die Gemütlichkeit einer Unter- Haltung im englischen „Iiome", wenn sich die Gäste um das flackernde Kamin¬ feuer versammeln, war schon lange sprüchwörtlich, bevor wir diesem Beispiel zu folgen suchten. Der Russe ruft in seinein Gastzimmer dem Deutschen, wenn der Tisch gedeckt ist, immer erst die Worte: „Bitte, ohne Umstünde!" zu. damit er aus seiner Zurückhaltung heraustrete und sich ganz wie zu Hause fühle. Wir schätzen vor allem die Treue der Freundschaft, die den Menschen so zeigt, Grenzboten l 1910 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/469>, abgerufen am 04.07.2024.