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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Llsaß

Fahren wir nun in unserer Besprechung fort, so finden sich weitere Rück¬
schritte in Deutschland auch in der Gesellschaft: die alten Standesunterschiede
kommen wieder zur Geltung. In Frankreich hatte die große Revolution den
Adel in der Theorie beseitigt; nach der Julirevolution, namentlich aber nach
1848, ist diese Theorie auch in die Praxis übergeführt und die alte Aristokratie
scheint vorläufig auf die engsten, machtlosen Kreise beschränkt, so daß tatsächlich
Zurzeit jedermann jede Laufbahn offen steht; auch im Elsaß überwiegen demnach
demokratische Anschauungen. Ganz anders in Deutschland. Die mit der
Bureaukratie eng verbündete Aristokratie, namentlich die ostelbische, hat es ver¬
standen, überall, sogar in der Armee, die nur Kameraden kennen sollte, ihre
früheren Vorrechte wiederherzustellen und ihre besonderen Kreise einzurichten, so
daß schon das frische Leben der Universitäten davon durchseucht wird. Ausdruck
dafür ist die Scheidung der Gesellschaft in Hochwohl-, Wohl- und Nichtgevorne,
der Ursprung ist slawisch, aus dem Osten importiert, im Westen und Süden
kannte man davon vor 1870 wenig oder nichts. Wenn der preußische Kriegs¬
minister den Unterschied für die Armee in Abrede gestellt hat. so hat er damit
nach der Regel gehandelt: quock non L8t in actii;, non est in munäo; die
Spatzen pfeifen es vom Dache").

Die dunklen Schatten dieses Bildes können durch die Vorgänge im Reichs¬
tage nur noch verstärkt werden. Der Parteihader, der älteste und schwerste
Fehler der Deutschen, vergiftet das politische Leben und verhindert jeden
ersprießlichen Fortschritt zur Befestigung im Innern, und zwar, wie leider
hinzuzusetzen ist, mit bewußter Absicht der größten Partei; die auswärtigen
Einflüsse sind noch keineswegs allsgeschaltet. So ist es dahin gekommen, daß
die wenigen Polen, eine Fraktion, die zu einer fremden Nation gehört, welche
notorisch auf Trennung von Deutschland und Ruin seiner Macht hinarbeitet,
bei dem Versuche der Konservativen und des Zentrums, den Kanzler Bülow
zu stürzen, den Ausschlag geben konnten. Wäre ein solcher Vorgang in Paris
auch nur denkbar gewesen? Hätte beim ersten Versuche dazu sich nicht ganz
Frankreich wie ein Mann erhoben und die Täter als Hochverräter behandelt,
und das mit Recht? Aber in Deutschland geht mit diesen Parteien die Reichs¬
regierung Hand in Hand! Welche Gefühle mögen dabei die Elsässer bewegt haben!

Das Ergebnis der vorstehenden Zeilen ist, daß die Konzentrationsbewegung
in Deutschland stockt, daß die politische Entwicklung keinerlei Anziehungskraft
auf das Elsaß ausübt, daß von großen und bedeutsamen Interessen, welche
die Elsässer fesseln könnten, keine Rede ist. Sie sehen sich auch jetzt auf die
engen Verhältnisse ihres Ländchens beschränk, dessen Leitung ihnen nicht einmal
überlassen ist. Alles bedeutet einen Rückschritt für sie, dessen Weite sie not¬
wendig sehr groß einschätzen.



*) Der Fall des Kriegsgerichtsrats Bolde in Königsberg i. Pr., der wegen seiner Tätigkeit
im Ostmarken-Berein vom Bunde der Landwirte denunziert, gezwungen wird, die politische
Betätigung zu unterlassen, ist der jiingste Beweis für unsre Ausfassung.
Das Llsaß

Fahren wir nun in unserer Besprechung fort, so finden sich weitere Rück¬
schritte in Deutschland auch in der Gesellschaft: die alten Standesunterschiede
kommen wieder zur Geltung. In Frankreich hatte die große Revolution den
Adel in der Theorie beseitigt; nach der Julirevolution, namentlich aber nach
1848, ist diese Theorie auch in die Praxis übergeführt und die alte Aristokratie
scheint vorläufig auf die engsten, machtlosen Kreise beschränkt, so daß tatsächlich
Zurzeit jedermann jede Laufbahn offen steht; auch im Elsaß überwiegen demnach
demokratische Anschauungen. Ganz anders in Deutschland. Die mit der
Bureaukratie eng verbündete Aristokratie, namentlich die ostelbische, hat es ver¬
standen, überall, sogar in der Armee, die nur Kameraden kennen sollte, ihre
früheren Vorrechte wiederherzustellen und ihre besonderen Kreise einzurichten, so
daß schon das frische Leben der Universitäten davon durchseucht wird. Ausdruck
dafür ist die Scheidung der Gesellschaft in Hochwohl-, Wohl- und Nichtgevorne,
der Ursprung ist slawisch, aus dem Osten importiert, im Westen und Süden
kannte man davon vor 1870 wenig oder nichts. Wenn der preußische Kriegs¬
minister den Unterschied für die Armee in Abrede gestellt hat. so hat er damit
nach der Regel gehandelt: quock non L8t in actii;, non est in munäo; die
Spatzen pfeifen es vom Dache").

Die dunklen Schatten dieses Bildes können durch die Vorgänge im Reichs¬
tage nur noch verstärkt werden. Der Parteihader, der älteste und schwerste
Fehler der Deutschen, vergiftet das politische Leben und verhindert jeden
ersprießlichen Fortschritt zur Befestigung im Innern, und zwar, wie leider
hinzuzusetzen ist, mit bewußter Absicht der größten Partei; die auswärtigen
Einflüsse sind noch keineswegs allsgeschaltet. So ist es dahin gekommen, daß
die wenigen Polen, eine Fraktion, die zu einer fremden Nation gehört, welche
notorisch auf Trennung von Deutschland und Ruin seiner Macht hinarbeitet,
bei dem Versuche der Konservativen und des Zentrums, den Kanzler Bülow
zu stürzen, den Ausschlag geben konnten. Wäre ein solcher Vorgang in Paris
auch nur denkbar gewesen? Hätte beim ersten Versuche dazu sich nicht ganz
Frankreich wie ein Mann erhoben und die Täter als Hochverräter behandelt,
und das mit Recht? Aber in Deutschland geht mit diesen Parteien die Reichs¬
regierung Hand in Hand! Welche Gefühle mögen dabei die Elsässer bewegt haben!

Das Ergebnis der vorstehenden Zeilen ist, daß die Konzentrationsbewegung
in Deutschland stockt, daß die politische Entwicklung keinerlei Anziehungskraft
auf das Elsaß ausübt, daß von großen und bedeutsamen Interessen, welche
die Elsässer fesseln könnten, keine Rede ist. Sie sehen sich auch jetzt auf die
engen Verhältnisse ihres Ländchens beschränk, dessen Leitung ihnen nicht einmal
überlassen ist. Alles bedeutet einen Rückschritt für sie, dessen Weite sie not¬
wendig sehr groß einschätzen.



*) Der Fall des Kriegsgerichtsrats Bolde in Königsberg i. Pr., der wegen seiner Tätigkeit
im Ostmarken-Berein vom Bunde der Landwirte denunziert, gezwungen wird, die politische
Betätigung zu unterlassen, ist der jiingste Beweis für unsre Ausfassung.
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[0467] Das Llsaß Fahren wir nun in unserer Besprechung fort, so finden sich weitere Rück¬ schritte in Deutschland auch in der Gesellschaft: die alten Standesunterschiede kommen wieder zur Geltung. In Frankreich hatte die große Revolution den Adel in der Theorie beseitigt; nach der Julirevolution, namentlich aber nach 1848, ist diese Theorie auch in die Praxis übergeführt und die alte Aristokratie scheint vorläufig auf die engsten, machtlosen Kreise beschränkt, so daß tatsächlich Zurzeit jedermann jede Laufbahn offen steht; auch im Elsaß überwiegen demnach demokratische Anschauungen. Ganz anders in Deutschland. Die mit der Bureaukratie eng verbündete Aristokratie, namentlich die ostelbische, hat es ver¬ standen, überall, sogar in der Armee, die nur Kameraden kennen sollte, ihre früheren Vorrechte wiederherzustellen und ihre besonderen Kreise einzurichten, so daß schon das frische Leben der Universitäten davon durchseucht wird. Ausdruck dafür ist die Scheidung der Gesellschaft in Hochwohl-, Wohl- und Nichtgevorne, der Ursprung ist slawisch, aus dem Osten importiert, im Westen und Süden kannte man davon vor 1870 wenig oder nichts. Wenn der preußische Kriegs¬ minister den Unterschied für die Armee in Abrede gestellt hat. so hat er damit nach der Regel gehandelt: quock non L8t in actii;, non est in munäo; die Spatzen pfeifen es vom Dache"). Die dunklen Schatten dieses Bildes können durch die Vorgänge im Reichs¬ tage nur noch verstärkt werden. Der Parteihader, der älteste und schwerste Fehler der Deutschen, vergiftet das politische Leben und verhindert jeden ersprießlichen Fortschritt zur Befestigung im Innern, und zwar, wie leider hinzuzusetzen ist, mit bewußter Absicht der größten Partei; die auswärtigen Einflüsse sind noch keineswegs allsgeschaltet. So ist es dahin gekommen, daß die wenigen Polen, eine Fraktion, die zu einer fremden Nation gehört, welche notorisch auf Trennung von Deutschland und Ruin seiner Macht hinarbeitet, bei dem Versuche der Konservativen und des Zentrums, den Kanzler Bülow zu stürzen, den Ausschlag geben konnten. Wäre ein solcher Vorgang in Paris auch nur denkbar gewesen? Hätte beim ersten Versuche dazu sich nicht ganz Frankreich wie ein Mann erhoben und die Täter als Hochverräter behandelt, und das mit Recht? Aber in Deutschland geht mit diesen Parteien die Reichs¬ regierung Hand in Hand! Welche Gefühle mögen dabei die Elsässer bewegt haben! Das Ergebnis der vorstehenden Zeilen ist, daß die Konzentrationsbewegung in Deutschland stockt, daß die politische Entwicklung keinerlei Anziehungskraft auf das Elsaß ausübt, daß von großen und bedeutsamen Interessen, welche die Elsässer fesseln könnten, keine Rede ist. Sie sehen sich auch jetzt auf die engen Verhältnisse ihres Ländchens beschränk, dessen Leitung ihnen nicht einmal überlassen ist. Alles bedeutet einen Rückschritt für sie, dessen Weite sie not¬ wendig sehr groß einschätzen. *) Der Fall des Kriegsgerichtsrats Bolde in Königsberg i. Pr., der wegen seiner Tätigkeit im Ostmarken-Berein vom Bunde der Landwirte denunziert, gezwungen wird, die politische Betätigung zu unterlassen, ist der jiingste Beweis für unsre Ausfassung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/467>, abgerufen am 22.12.2024.