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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die große Politik und der Zustand Indiens

eins der kräftigsten, kriegerischsten Völker Indiens sind, die zweitausend Jahre
lang einen eigenen Staat gebildet haben, dem erst 1818 durch die Englisch-
Ostindische Kompagnie ein Ende gemacht wurde. Man wußte wohl, daß in
diesen: der Hindu-Religion anhängenden Volke die alten Traditionen noch lebten
und daß es auf die Wiederkehr der Zeiten der von Geschichte, Sage und
Dichtung verklärten Nationalheldeu hoffe. Jetzt trat klar zutage, daß die Ver¬
schwörung aus ihrem eigentlichen Sitze, aus Bengalen, nach Westen übergegriffen
hatte. Bald sollte das in einem neuen Flammenzeichell hervortreten. Am
21. Dezember wurde der Bezirkspräsident Jackson in Nasik, einem religiösen
Wallfahrtsort der Brahminen, ermordet. Nasik liegt ebenfalls im Mahratten-
lande, ein wenig nordöstlich von Bombay. Jacksoll war ein menschenfreund¬
licher Mann und selbst bei den Brahminen beliebt, weil er ein eifriger Sanskrit¬
forscher war. Der Mörder war ein Chitpavan-Brahmine, aus einem der aller¬
ersten und fast als heilig verehrten Geschlechter, um die sich auch die Engländer
bemüht hatten und aus dem sie schon manches Mitglied zu ihrer Verwaltung
herangezogen hatten. Er gab offen zu, daß er durch politische Beweggründe
angestachelt sei; er habe in der Hindupresse gelesen, daß Jackson seine Amts¬
gewalt gegen die Verschwörer gebraucht habe, darum habe er ihn getötet. Die
Polizei forschte nun nach und fand auch hier manche Anzeichen von Beteiligung
an der Verschwörung. Der "Times" wurde unterm 6. Januar aus Bombay
gemeldet:

"Die täglich wachsenden Beweise vom Umfang der Verschwörung haben
jedermann verblüfft; matt ist erstaunt, um durch deu Mord die Unwirksamkeit
der Geheimpolizei an den Tag gekommen ist und die unentdeckte Anhäufung von
Waffen ergeben hat. Man ist in lebhafter Erregung hinsichtlich der Regierungs¬
maßregeln, durch die dem Bankerott der Geheimpolizei abzuhelfen wäre und
durch die man die bekannten Häupter der Anarchisten aus der Provinz Dekkan
in London und Paris unschädlich machen könnte. Ferner möchte man die Ma߬
regeln gegen die Hindupresse kennen, deren vergiftendes Wesen den Hauptanteil
an der Bearbeitung der Gemüter hat. Von allen, Engländern und Indern,
die den Dekkan kennen, hört man die einmütige Überzeugung, daß die gewissen¬
lose Hindllpresse die Wurzel des Übels ist und daß ihre Unterdrückung den
Dekkan umgestalten würde. Besonnene Leute fragen, wie viele Mordtaten man
noch abwarten wolle, bevor das Unkraut ausgerottet werden solle. Loyale Inder
sind am meisten erstaunt über die Ohnmacht einer großen Regierung gegen eine
Handvoll bekannter Häupter der Verschwörung."

Der Terrorismus hat seitdem nicht geruht, nur trafen seine Schläge nicht
Weiße, sondern Eingeborene. Unterdessen hatte sich ergeben, daß die Ver¬
waltungsreform Lord Morleys, über die wir im April v. Is. berichtet haben,
ihren Zweck verfehlt hat. Die Mohammedaner konnten noch leidlich zufrieden¬
gestellt werden, aber die Hindus fuhren fort zu murren. Die warme Zustimmung
einzelner verschlug uicht gegen den von der Presse stets geschürten Unwillen der


Die große Politik und der Zustand Indiens

eins der kräftigsten, kriegerischsten Völker Indiens sind, die zweitausend Jahre
lang einen eigenen Staat gebildet haben, dem erst 1818 durch die Englisch-
Ostindische Kompagnie ein Ende gemacht wurde. Man wußte wohl, daß in
diesen: der Hindu-Religion anhängenden Volke die alten Traditionen noch lebten
und daß es auf die Wiederkehr der Zeiten der von Geschichte, Sage und
Dichtung verklärten Nationalheldeu hoffe. Jetzt trat klar zutage, daß die Ver¬
schwörung aus ihrem eigentlichen Sitze, aus Bengalen, nach Westen übergegriffen
hatte. Bald sollte das in einem neuen Flammenzeichell hervortreten. Am
21. Dezember wurde der Bezirkspräsident Jackson in Nasik, einem religiösen
Wallfahrtsort der Brahminen, ermordet. Nasik liegt ebenfalls im Mahratten-
lande, ein wenig nordöstlich von Bombay. Jacksoll war ein menschenfreund¬
licher Mann und selbst bei den Brahminen beliebt, weil er ein eifriger Sanskrit¬
forscher war. Der Mörder war ein Chitpavan-Brahmine, aus einem der aller¬
ersten und fast als heilig verehrten Geschlechter, um die sich auch die Engländer
bemüht hatten und aus dem sie schon manches Mitglied zu ihrer Verwaltung
herangezogen hatten. Er gab offen zu, daß er durch politische Beweggründe
angestachelt sei; er habe in der Hindupresse gelesen, daß Jackson seine Amts¬
gewalt gegen die Verschwörer gebraucht habe, darum habe er ihn getötet. Die
Polizei forschte nun nach und fand auch hier manche Anzeichen von Beteiligung
an der Verschwörung. Der „Times" wurde unterm 6. Januar aus Bombay
gemeldet:

„Die täglich wachsenden Beweise vom Umfang der Verschwörung haben
jedermann verblüfft; matt ist erstaunt, um durch deu Mord die Unwirksamkeit
der Geheimpolizei an den Tag gekommen ist und die unentdeckte Anhäufung von
Waffen ergeben hat. Man ist in lebhafter Erregung hinsichtlich der Regierungs¬
maßregeln, durch die dem Bankerott der Geheimpolizei abzuhelfen wäre und
durch die man die bekannten Häupter der Anarchisten aus der Provinz Dekkan
in London und Paris unschädlich machen könnte. Ferner möchte man die Ma߬
regeln gegen die Hindupresse kennen, deren vergiftendes Wesen den Hauptanteil
an der Bearbeitung der Gemüter hat. Von allen, Engländern und Indern,
die den Dekkan kennen, hört man die einmütige Überzeugung, daß die gewissen¬
lose Hindllpresse die Wurzel des Übels ist und daß ihre Unterdrückung den
Dekkan umgestalten würde. Besonnene Leute fragen, wie viele Mordtaten man
noch abwarten wolle, bevor das Unkraut ausgerottet werden solle. Loyale Inder
sind am meisten erstaunt über die Ohnmacht einer großen Regierung gegen eine
Handvoll bekannter Häupter der Verschwörung."

Der Terrorismus hat seitdem nicht geruht, nur trafen seine Schläge nicht
Weiße, sondern Eingeborene. Unterdessen hatte sich ergeben, daß die Ver¬
waltungsreform Lord Morleys, über die wir im April v. Is. berichtet haben,
ihren Zweck verfehlt hat. Die Mohammedaner konnten noch leidlich zufrieden¬
gestellt werden, aber die Hindus fuhren fort zu murren. Die warme Zustimmung
einzelner verschlug uicht gegen den von der Presse stets geschürten Unwillen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/450>, abgerufen am 24.07.2024.