Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

daß einem solchen Staatsmann, gegenüber an unsere auswärtige Politik höhere
Anforderungen als sonst gestellt werden müssen, wenn der Schwerpunkt der Drei¬
bundpolitik nicht in weiterem Maße, als es dem wahren Kräfteverhältnis der
Nationen entspricht, nach Wien hinübergleiten soll. Es ist zu verstehen, wenn hier
und da bei uns eine gewisse Beunruhigung rege geworden ist, ob nicht die Ver¬
wicklungen im nahen Orient, an denen wir jedenfalls weniger interessiert sind als
Österreich-Ungarn, und die gleichzeitige Annäherung zwischen diesem Staate und
Rußland geeignet sind, die deutsche Machtstellung zu beeinträchtigen, vielleicht sogar
das Gefüge nicht nur des Dreibunds, sondern auch der deutsch-österreichischen
Freundschaft zu lockern. Das Kommuniqns, das als Ergebnis der Unterredungen
zwischen Herrn v. Bethmann Hollweg und Graf Aehrenthal veröffentlicht worden
ist, läßt insofern eine Antwort auf diese Bedenken zwischen den Zeilen lesen, als
daraus hervorgeht, daß gerade die Valkanfragen einen bemerkenswerten Raum in
diesen Besprechungen eingenommen haben. Es wird darin neben den Sympathien
für die Konsolidierung der Verhältnisse in der Türkei die Bemühung um die
Erhaltung des Status amo auf der Balkanhalbinsel betont. In diesem Zusammen¬
hange ist wohl zu bemerken, daß die Verhandlungen zwischen Rußland und
Österreich-Ungarn über diesen Punkt tatsächlich nicht hinausgekommen sind. Eine
Formel für ein weitres gemeinsames Handeln in den Balkanfragen haben die
beiden Mächte vorläufig nicht gefunden. Und auch jene Einigung über den
Status quo zwischen Rußland und Österreich hat wohl nur den bedingten Wert,
daß sie den Eindruck verhüten soll, als seien die öffentlich mit einiger Betonung
eingeleiteten Annäherungsversuche Rußlands resultatlos geblieben. Wir reden von
einem bedingten Wert. In Wien wird man wissen, warum. Deutschland bleibt
nach wie vor der stärkste und zuverlässigste Rückhalt Österreich - Ungarns. Die
Balkanfragen bergen noch viele Rätsel und Sorgen. Die Keime zu neuen Unruhen
in türkischen Provinzen, Zwischenfälle an der bulgarischen Grenze, innere Schwierig¬
keiten, die dem neuen Regime in der Türkei entstehen, die innern Verhältnisse in
Serbien, die kritische Lage der griechischen Dynastie -- lauter ungelöste Fragen,
die geeignet sind, die Politik der europäischen Großmächte in Mitleidenschaft zu
ziehen. Anderseits freilich sind manche Spannungen verschwunden, die noch vor
einem Jahr zwischen den Großmächten selbst bestanden, und so wird es vielleicht
wieder gelingen, auch jetzt die Wetterwolken im Orient zu zerstreuen.







Maßgebliches und Unmaßgebliches

daß einem solchen Staatsmann, gegenüber an unsere auswärtige Politik höhere
Anforderungen als sonst gestellt werden müssen, wenn der Schwerpunkt der Drei¬
bundpolitik nicht in weiterem Maße, als es dem wahren Kräfteverhältnis der
Nationen entspricht, nach Wien hinübergleiten soll. Es ist zu verstehen, wenn hier
und da bei uns eine gewisse Beunruhigung rege geworden ist, ob nicht die Ver¬
wicklungen im nahen Orient, an denen wir jedenfalls weniger interessiert sind als
Österreich-Ungarn, und die gleichzeitige Annäherung zwischen diesem Staate und
Rußland geeignet sind, die deutsche Machtstellung zu beeinträchtigen, vielleicht sogar
das Gefüge nicht nur des Dreibunds, sondern auch der deutsch-österreichischen
Freundschaft zu lockern. Das Kommuniqns, das als Ergebnis der Unterredungen
zwischen Herrn v. Bethmann Hollweg und Graf Aehrenthal veröffentlicht worden
ist, läßt insofern eine Antwort auf diese Bedenken zwischen den Zeilen lesen, als
daraus hervorgeht, daß gerade die Valkanfragen einen bemerkenswerten Raum in
diesen Besprechungen eingenommen haben. Es wird darin neben den Sympathien
für die Konsolidierung der Verhältnisse in der Türkei die Bemühung um die
Erhaltung des Status amo auf der Balkanhalbinsel betont. In diesem Zusammen¬
hange ist wohl zu bemerken, daß die Verhandlungen zwischen Rußland und
Österreich-Ungarn über diesen Punkt tatsächlich nicht hinausgekommen sind. Eine
Formel für ein weitres gemeinsames Handeln in den Balkanfragen haben die
beiden Mächte vorläufig nicht gefunden. Und auch jene Einigung über den
Status quo zwischen Rußland und Österreich hat wohl nur den bedingten Wert,
daß sie den Eindruck verhüten soll, als seien die öffentlich mit einiger Betonung
eingeleiteten Annäherungsversuche Rußlands resultatlos geblieben. Wir reden von
einem bedingten Wert. In Wien wird man wissen, warum. Deutschland bleibt
nach wie vor der stärkste und zuverlässigste Rückhalt Österreich - Ungarns. Die
Balkanfragen bergen noch viele Rätsel und Sorgen. Die Keime zu neuen Unruhen
in türkischen Provinzen, Zwischenfälle an der bulgarischen Grenze, innere Schwierig¬
keiten, die dem neuen Regime in der Türkei entstehen, die innern Verhältnisse in
Serbien, die kritische Lage der griechischen Dynastie — lauter ungelöste Fragen,
die geeignet sind, die Politik der europäischen Großmächte in Mitleidenschaft zu
ziehen. Anderseits freilich sind manche Spannungen verschwunden, die noch vor
einem Jahr zwischen den Großmächten selbst bestanden, und so wird es vielleicht
wieder gelingen, auch jetzt die Wetterwolken im Orient zu zerstreuen.







<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0441" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315438"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1948" prev="#ID_1947"> daß einem solchen Staatsmann, gegenüber an unsere auswärtige Politik höhere<lb/>
Anforderungen als sonst gestellt werden müssen, wenn der Schwerpunkt der Drei¬<lb/>
bundpolitik nicht in weiterem Maße, als es dem wahren Kräfteverhältnis der<lb/>
Nationen entspricht, nach Wien hinübergleiten soll. Es ist zu verstehen, wenn hier<lb/>
und da bei uns eine gewisse Beunruhigung rege geworden ist, ob nicht die Ver¬<lb/>
wicklungen im nahen Orient, an denen wir jedenfalls weniger interessiert sind als<lb/>
Österreich-Ungarn, und die gleichzeitige Annäherung zwischen diesem Staate und<lb/>
Rußland geeignet sind, die deutsche Machtstellung zu beeinträchtigen, vielleicht sogar<lb/>
das Gefüge nicht nur des Dreibunds, sondern auch der deutsch-österreichischen<lb/>
Freundschaft zu lockern. Das Kommuniqns, das als Ergebnis der Unterredungen<lb/>
zwischen Herrn v. Bethmann Hollweg und Graf Aehrenthal veröffentlicht worden<lb/>
ist, läßt insofern eine Antwort auf diese Bedenken zwischen den Zeilen lesen, als<lb/>
daraus hervorgeht, daß gerade die Valkanfragen einen bemerkenswerten Raum in<lb/>
diesen Besprechungen eingenommen haben. Es wird darin neben den Sympathien<lb/>
für die Konsolidierung der Verhältnisse in der Türkei die Bemühung um die<lb/>
Erhaltung des Status amo auf der Balkanhalbinsel betont. In diesem Zusammen¬<lb/>
hange ist wohl zu bemerken, daß die Verhandlungen zwischen Rußland und<lb/>
Österreich-Ungarn über diesen Punkt tatsächlich nicht hinausgekommen sind. Eine<lb/>
Formel für ein weitres gemeinsames Handeln in den Balkanfragen haben die<lb/>
beiden Mächte vorläufig nicht gefunden. Und auch jene Einigung über den<lb/>
Status quo zwischen Rußland und Österreich hat wohl nur den bedingten Wert,<lb/>
daß sie den Eindruck verhüten soll, als seien die öffentlich mit einiger Betonung<lb/>
eingeleiteten Annäherungsversuche Rußlands resultatlos geblieben. Wir reden von<lb/>
einem bedingten Wert. In Wien wird man wissen, warum. Deutschland bleibt<lb/>
nach wie vor der stärkste und zuverlässigste Rückhalt Österreich - Ungarns. Die<lb/>
Balkanfragen bergen noch viele Rätsel und Sorgen. Die Keime zu neuen Unruhen<lb/>
in türkischen Provinzen, Zwischenfälle an der bulgarischen Grenze, innere Schwierig¬<lb/>
keiten, die dem neuen Regime in der Türkei entstehen, die innern Verhältnisse in<lb/>
Serbien, die kritische Lage der griechischen Dynastie &#x2014; lauter ungelöste Fragen,<lb/>
die geeignet sind, die Politik der europäischen Großmächte in Mitleidenschaft zu<lb/>
ziehen. Anderseits freilich sind manche Spannungen verschwunden, die noch vor<lb/>
einem Jahr zwischen den Großmächten selbst bestanden, und so wird es vielleicht<lb/>
wieder gelingen, auch jetzt die Wetterwolken im Orient zu zerstreuen.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p xml:id="ID_1949"/><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0441] Maßgebliches und Unmaßgebliches daß einem solchen Staatsmann, gegenüber an unsere auswärtige Politik höhere Anforderungen als sonst gestellt werden müssen, wenn der Schwerpunkt der Drei¬ bundpolitik nicht in weiterem Maße, als es dem wahren Kräfteverhältnis der Nationen entspricht, nach Wien hinübergleiten soll. Es ist zu verstehen, wenn hier und da bei uns eine gewisse Beunruhigung rege geworden ist, ob nicht die Ver¬ wicklungen im nahen Orient, an denen wir jedenfalls weniger interessiert sind als Österreich-Ungarn, und die gleichzeitige Annäherung zwischen diesem Staate und Rußland geeignet sind, die deutsche Machtstellung zu beeinträchtigen, vielleicht sogar das Gefüge nicht nur des Dreibunds, sondern auch der deutsch-österreichischen Freundschaft zu lockern. Das Kommuniqns, das als Ergebnis der Unterredungen zwischen Herrn v. Bethmann Hollweg und Graf Aehrenthal veröffentlicht worden ist, läßt insofern eine Antwort auf diese Bedenken zwischen den Zeilen lesen, als daraus hervorgeht, daß gerade die Valkanfragen einen bemerkenswerten Raum in diesen Besprechungen eingenommen haben. Es wird darin neben den Sympathien für die Konsolidierung der Verhältnisse in der Türkei die Bemühung um die Erhaltung des Status amo auf der Balkanhalbinsel betont. In diesem Zusammen¬ hange ist wohl zu bemerken, daß die Verhandlungen zwischen Rußland und Österreich-Ungarn über diesen Punkt tatsächlich nicht hinausgekommen sind. Eine Formel für ein weitres gemeinsames Handeln in den Balkanfragen haben die beiden Mächte vorläufig nicht gefunden. Und auch jene Einigung über den Status quo zwischen Rußland und Österreich hat wohl nur den bedingten Wert, daß sie den Eindruck verhüten soll, als seien die öffentlich mit einiger Betonung eingeleiteten Annäherungsversuche Rußlands resultatlos geblieben. Wir reden von einem bedingten Wert. In Wien wird man wissen, warum. Deutschland bleibt nach wie vor der stärkste und zuverlässigste Rückhalt Österreich - Ungarns. Die Balkanfragen bergen noch viele Rätsel und Sorgen. Die Keime zu neuen Unruhen in türkischen Provinzen, Zwischenfälle an der bulgarischen Grenze, innere Schwierig¬ keiten, die dem neuen Regime in der Türkei entstehen, die innern Verhältnisse in Serbien, die kritische Lage der griechischen Dynastie — lauter ungelöste Fragen, die geeignet sind, die Politik der europäischen Großmächte in Mitleidenschaft zu ziehen. Anderseits freilich sind manche Spannungen verschwunden, die noch vor einem Jahr zwischen den Großmächten selbst bestanden, und so wird es vielleicht wieder gelingen, auch jetzt die Wetterwolken im Orient zu zerstreuen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/441
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/441>, abgerufen am 24.07.2024.