Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hellas und Ivilamowit; "

zufangen und aus thuen willkiirlich ein seinen Bedürfnissen entsprechendes
Gehäuse zu ztmmern. Er teilt uns mit, daß Aischnlos "die Geschichte als
Exempel für seine Lehre von Schuld und Sühne dramatisiert". Nun also kennen
wir den tiefen Boden, aus dem die Tragödie wuchs! Mit Kunst hat sie wenig
gemein, sie ist ein moralistisches Dogma im Kostüme des Dramas! Es könnte
an vielen Beispielen erwiesen werden, daß solch eine moralisierende Tendenz
jede unbefangene Betrachtung der Tragödie hindert. Sünde ist das Lieblingswort
des Wilmnowitz, er verwendet es für eine ganze Reihe griechischer Worte.
Man kann von vorn herein sagen, in der älteren attischen Tragödie immer mit
Unrecht; denn der Begriff Sünde ist für uns so fest verbunden mit den Vor¬
stellungen des Strafens und Bereuen-sollens, daß er von dieser tragischen Kunst
ganz fern gehalten werden sollte. Mag dem jüdisch-christlichen Gott ein zerknirschtes
Herz Wohlgefallen haben, der tragische Geschmack war ein andrer: Reue und
Buße wären dein tragischen Helden ganz unanständig. Heroen sind keine
kostümierter Bürger; das heroische Ethos ist abgeschlossen und vollkommen, von
Läuterung und Erziehung durch Leiden kann nicht die Rede sein und mit unserer
offiziellen Moral hat es keinen Zusammenhang.

In Agamemnon ist als in einem reinen Bilde die große Kriegsleidenschaft
von Hellas zusamengefaßt, er ist der Leu, der sich auf Troja stürzt. So ver¬
steht es auch der Chor, der uicht von Sünde redet, sondern von Notwendigkeit.
"Nachdem er aber das Joch der Notwendigkeit auf sich genommen hatte . . ."
(V. 219). Wilmnowitz fälscht hier schon das Bild, indem er mit
Schuld, xc-xs mit Verbrechen übersetzt. Für eine moralische Tragödie
Hütte es nahe gelegen, alles auf der Opferung Jphigeniens aufzubauen; da ist
es doch auffallend, daß der Chor so wenig von diesem Morde singt, noch auf¬
fallender, daß Kassandra hellsehend von den Bluttaten des Atreus, von der
Rache des Orestes, aber nicht vom Morde Jphigeniens spricht. Das Schuld¬
bewußtsein würde die heroische Größe entstellen, darum läßt der Tragiker den
dunklen Geschlechtsfluch wirken. Wie trotzdem Wilamowitz behaupten kann, in
der Orestie habe Aischnlos das Problem von Schuld und Strafe, nicht das des
Geschlechtsfluches dargestellt, ist nur unbegreiflich. In ebenso künstlicher Weise
konstruiert er für Klytaimnestra das böse Gewissen. Das Drama schließt mit
den stolzen Worten: "Achte nicht auf das Gebelfer ihrer Ohnmacht. Unser ist
die Gewalt in diesem Hanse. Was wir wollen, wird Gesetz!" Ein stolzerer
Mschluß ist kaum zu denken. Aber Wilamowitz weiß es besser: "sie ist inner¬
lich gebrochen und wider ihre Natur beschwichtigend". Er verkündet als Tat¬
sache, daß an diesen Gewissensbissen das Verständnis des Dramas hänge (II, 37).
Aischnlos war recht ungeschickt, von diesen psychologischen Feinheiten nichts sagen zu
lassen; um so erfreulicher, daß der Übersetzer solche Lücken divinatorisch ausfüllt.

Im Orest ist es ganz offenbar, wie Aischplos der Versuchung, durch die
Selbstvernichtung eines reuigen Sünders sein Publikum zu erschüttern, aus dem '
Wege geht. Muß man nicht taub sein, wenn man die Worte nicht hört, die


Hellas und Ivilamowit; »

zufangen und aus thuen willkiirlich ein seinen Bedürfnissen entsprechendes
Gehäuse zu ztmmern. Er teilt uns mit, daß Aischnlos „die Geschichte als
Exempel für seine Lehre von Schuld und Sühne dramatisiert". Nun also kennen
wir den tiefen Boden, aus dem die Tragödie wuchs! Mit Kunst hat sie wenig
gemein, sie ist ein moralistisches Dogma im Kostüme des Dramas! Es könnte
an vielen Beispielen erwiesen werden, daß solch eine moralisierende Tendenz
jede unbefangene Betrachtung der Tragödie hindert. Sünde ist das Lieblingswort
des Wilmnowitz, er verwendet es für eine ganze Reihe griechischer Worte.
Man kann von vorn herein sagen, in der älteren attischen Tragödie immer mit
Unrecht; denn der Begriff Sünde ist für uns so fest verbunden mit den Vor¬
stellungen des Strafens und Bereuen-sollens, daß er von dieser tragischen Kunst
ganz fern gehalten werden sollte. Mag dem jüdisch-christlichen Gott ein zerknirschtes
Herz Wohlgefallen haben, der tragische Geschmack war ein andrer: Reue und
Buße wären dein tragischen Helden ganz unanständig. Heroen sind keine
kostümierter Bürger; das heroische Ethos ist abgeschlossen und vollkommen, von
Läuterung und Erziehung durch Leiden kann nicht die Rede sein und mit unserer
offiziellen Moral hat es keinen Zusammenhang.

In Agamemnon ist als in einem reinen Bilde die große Kriegsleidenschaft
von Hellas zusamengefaßt, er ist der Leu, der sich auf Troja stürzt. So ver¬
steht es auch der Chor, der uicht von Sünde redet, sondern von Notwendigkeit.
„Nachdem er aber das Joch der Notwendigkeit auf sich genommen hatte . . ."
(V. 219). Wilmnowitz fälscht hier schon das Bild, indem er mit
Schuld, xc-xs mit Verbrechen übersetzt. Für eine moralische Tragödie
Hütte es nahe gelegen, alles auf der Opferung Jphigeniens aufzubauen; da ist
es doch auffallend, daß der Chor so wenig von diesem Morde singt, noch auf¬
fallender, daß Kassandra hellsehend von den Bluttaten des Atreus, von der
Rache des Orestes, aber nicht vom Morde Jphigeniens spricht. Das Schuld¬
bewußtsein würde die heroische Größe entstellen, darum läßt der Tragiker den
dunklen Geschlechtsfluch wirken. Wie trotzdem Wilamowitz behaupten kann, in
der Orestie habe Aischnlos das Problem von Schuld und Strafe, nicht das des
Geschlechtsfluches dargestellt, ist nur unbegreiflich. In ebenso künstlicher Weise
konstruiert er für Klytaimnestra das böse Gewissen. Das Drama schließt mit
den stolzen Worten: „Achte nicht auf das Gebelfer ihrer Ohnmacht. Unser ist
die Gewalt in diesem Hanse. Was wir wollen, wird Gesetz!" Ein stolzerer
Mschluß ist kaum zu denken. Aber Wilamowitz weiß es besser: „sie ist inner¬
lich gebrochen und wider ihre Natur beschwichtigend". Er verkündet als Tat¬
sache, daß an diesen Gewissensbissen das Verständnis des Dramas hänge (II, 37).
Aischnlos war recht ungeschickt, von diesen psychologischen Feinheiten nichts sagen zu
lassen; um so erfreulicher, daß der Übersetzer solche Lücken divinatorisch ausfüllt.

Im Orest ist es ganz offenbar, wie Aischplos der Versuchung, durch die
Selbstvernichtung eines reuigen Sünders sein Publikum zu erschüttern, aus dem '
Wege geht. Muß man nicht taub sein, wenn man die Worte nicht hört, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315424"/>
          <fw type="header" place="top"> Hellas und Ivilamowit; »</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1862" prev="#ID_1861"> zufangen und aus thuen willkiirlich ein seinen Bedürfnissen entsprechendes<lb/>
Gehäuse zu ztmmern. Er teilt uns mit, daß Aischnlos &#x201E;die Geschichte als<lb/>
Exempel für seine Lehre von Schuld und Sühne dramatisiert". Nun also kennen<lb/>
wir den tiefen Boden, aus dem die Tragödie wuchs! Mit Kunst hat sie wenig<lb/>
gemein, sie ist ein moralistisches Dogma im Kostüme des Dramas! Es könnte<lb/>
an vielen Beispielen erwiesen werden, daß solch eine moralisierende Tendenz<lb/>
jede unbefangene Betrachtung der Tragödie hindert. Sünde ist das Lieblingswort<lb/>
des Wilmnowitz, er verwendet es für eine ganze Reihe griechischer Worte.<lb/>
Man kann von vorn herein sagen, in der älteren attischen Tragödie immer mit<lb/>
Unrecht; denn der Begriff Sünde ist für uns so fest verbunden mit den Vor¬<lb/>
stellungen des Strafens und Bereuen-sollens, daß er von dieser tragischen Kunst<lb/>
ganz fern gehalten werden sollte. Mag dem jüdisch-christlichen Gott ein zerknirschtes<lb/>
Herz Wohlgefallen haben, der tragische Geschmack war ein andrer: Reue und<lb/>
Buße wären dein tragischen Helden ganz unanständig. Heroen sind keine<lb/>
kostümierter Bürger; das heroische Ethos ist abgeschlossen und vollkommen, von<lb/>
Läuterung und Erziehung durch Leiden kann nicht die Rede sein und mit unserer<lb/>
offiziellen Moral hat es keinen Zusammenhang.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1863"> In Agamemnon ist als in einem reinen Bilde die große Kriegsleidenschaft<lb/>
von Hellas zusamengefaßt, er ist der Leu, der sich auf Troja stürzt. So ver¬<lb/>
steht es auch der Chor, der uicht von Sünde redet, sondern von Notwendigkeit.<lb/>
&#x201E;Nachdem er aber das Joch der Notwendigkeit auf sich genommen hatte . . ."<lb/>
(V. 219). Wilmnowitz fälscht hier schon das Bild, indem er mit<lb/>
Schuld, xc-xs mit Verbrechen übersetzt. Für eine moralische Tragödie<lb/>
Hütte es nahe gelegen, alles auf der Opferung Jphigeniens aufzubauen; da ist<lb/>
es doch auffallend, daß der Chor so wenig von diesem Morde singt, noch auf¬<lb/>
fallender, daß Kassandra hellsehend von den Bluttaten des Atreus, von der<lb/>
Rache des Orestes, aber nicht vom Morde Jphigeniens spricht. Das Schuld¬<lb/>
bewußtsein würde die heroische Größe entstellen, darum läßt der Tragiker den<lb/>
dunklen Geschlechtsfluch wirken. Wie trotzdem Wilamowitz behaupten kann, in<lb/>
der Orestie habe Aischnlos das Problem von Schuld und Strafe, nicht das des<lb/>
Geschlechtsfluches dargestellt, ist nur unbegreiflich. In ebenso künstlicher Weise<lb/>
konstruiert er für Klytaimnestra das böse Gewissen. Das Drama schließt mit<lb/>
den stolzen Worten: &#x201E;Achte nicht auf das Gebelfer ihrer Ohnmacht. Unser ist<lb/>
die Gewalt in diesem Hanse. Was wir wollen, wird Gesetz!" Ein stolzerer<lb/>
Mschluß ist kaum zu denken. Aber Wilamowitz weiß es besser: &#x201E;sie ist inner¬<lb/>
lich gebrochen und wider ihre Natur beschwichtigend". Er verkündet als Tat¬<lb/>
sache, daß an diesen Gewissensbissen das Verständnis des Dramas hänge (II, 37).<lb/>
Aischnlos war recht ungeschickt, von diesen psychologischen Feinheiten nichts sagen zu<lb/>
lassen; um so erfreulicher, daß der Übersetzer solche Lücken divinatorisch ausfüllt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1864" next="#ID_1865"> Im Orest ist es ganz offenbar, wie Aischplos der Versuchung, durch die<lb/>
Selbstvernichtung eines reuigen Sünders sein Publikum zu erschüttern, aus dem '<lb/>
Wege geht.  Muß man nicht taub sein, wenn man die Worte nicht hört, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0427] Hellas und Ivilamowit; » zufangen und aus thuen willkiirlich ein seinen Bedürfnissen entsprechendes Gehäuse zu ztmmern. Er teilt uns mit, daß Aischnlos „die Geschichte als Exempel für seine Lehre von Schuld und Sühne dramatisiert". Nun also kennen wir den tiefen Boden, aus dem die Tragödie wuchs! Mit Kunst hat sie wenig gemein, sie ist ein moralistisches Dogma im Kostüme des Dramas! Es könnte an vielen Beispielen erwiesen werden, daß solch eine moralisierende Tendenz jede unbefangene Betrachtung der Tragödie hindert. Sünde ist das Lieblingswort des Wilmnowitz, er verwendet es für eine ganze Reihe griechischer Worte. Man kann von vorn herein sagen, in der älteren attischen Tragödie immer mit Unrecht; denn der Begriff Sünde ist für uns so fest verbunden mit den Vor¬ stellungen des Strafens und Bereuen-sollens, daß er von dieser tragischen Kunst ganz fern gehalten werden sollte. Mag dem jüdisch-christlichen Gott ein zerknirschtes Herz Wohlgefallen haben, der tragische Geschmack war ein andrer: Reue und Buße wären dein tragischen Helden ganz unanständig. Heroen sind keine kostümierter Bürger; das heroische Ethos ist abgeschlossen und vollkommen, von Läuterung und Erziehung durch Leiden kann nicht die Rede sein und mit unserer offiziellen Moral hat es keinen Zusammenhang. In Agamemnon ist als in einem reinen Bilde die große Kriegsleidenschaft von Hellas zusamengefaßt, er ist der Leu, der sich auf Troja stürzt. So ver¬ steht es auch der Chor, der uicht von Sünde redet, sondern von Notwendigkeit. „Nachdem er aber das Joch der Notwendigkeit auf sich genommen hatte . . ." (V. 219). Wilmnowitz fälscht hier schon das Bild, indem er mit Schuld, xc-xs mit Verbrechen übersetzt. Für eine moralische Tragödie Hütte es nahe gelegen, alles auf der Opferung Jphigeniens aufzubauen; da ist es doch auffallend, daß der Chor so wenig von diesem Morde singt, noch auf¬ fallender, daß Kassandra hellsehend von den Bluttaten des Atreus, von der Rache des Orestes, aber nicht vom Morde Jphigeniens spricht. Das Schuld¬ bewußtsein würde die heroische Größe entstellen, darum läßt der Tragiker den dunklen Geschlechtsfluch wirken. Wie trotzdem Wilamowitz behaupten kann, in der Orestie habe Aischnlos das Problem von Schuld und Strafe, nicht das des Geschlechtsfluches dargestellt, ist nur unbegreiflich. In ebenso künstlicher Weise konstruiert er für Klytaimnestra das böse Gewissen. Das Drama schließt mit den stolzen Worten: „Achte nicht auf das Gebelfer ihrer Ohnmacht. Unser ist die Gewalt in diesem Hanse. Was wir wollen, wird Gesetz!" Ein stolzerer Mschluß ist kaum zu denken. Aber Wilamowitz weiß es besser: „sie ist inner¬ lich gebrochen und wider ihre Natur beschwichtigend". Er verkündet als Tat¬ sache, daß an diesen Gewissensbissen das Verständnis des Dramas hänge (II, 37). Aischnlos war recht ungeschickt, von diesen psychologischen Feinheiten nichts sagen zu lassen; um so erfreulicher, daß der Übersetzer solche Lücken divinatorisch ausfüllt. Im Orest ist es ganz offenbar, wie Aischplos der Versuchung, durch die Selbstvernichtung eines reuigen Sünders sein Publikum zu erschüttern, aus dem ' Wege geht. Muß man nicht taub sein, wenn man die Worte nicht hört, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/427
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/427>, abgerufen am 04.07.2024.